Kapitel 96.4
Das Mittagessen war unangenehm gewesen. Zwar hatte Audra mit Brendas und Levis Hilfe für alle gekocht, doch gemeinsam hatten wir alle nicht gegessen. Meinen Bruder hatte ich seit heute morgen nicht mehr gesehen. Jedoch schien er Liams Drohung sehr ernst zu nehmen, sodass er es nicht gewagt hatte, auch nur in dessen Blickfeld zu geraten.
Beim Essen waren die Jäger, die sich nicht zu Lucius in einen anderen Raum gesellt hatten, sehr schweigsam. Sie blickten kaum auf und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Dennoch schien es so, als würden Jo und Mikéle ihre letzten Minuten in der ungleichen Gruppe genießen.
Das Mittagessen schmeckte gut, doch irgendwie konnte ich es nicht ganz genießen. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken daran, meinem Zwilling gleich lebe wohl sagen zu müssen, schmerzhaft zusammen. Und das, obwohl ich wusste, dass es so vermutlich am besten war.
Auch Harlan und seine Familie hatten schnell mitbekommen, dass irgendetwas vorgefallen war. Tatsächlich war er ziemlich überrascht zu erfahren, dass die miese Laune nichts mit Kieran zu tun hatte. Und noch deutlich fassungsloser war er, als man ihn aufklärte, was Lucius getan hatte.
»Ich kann nicht verstehen, wie du mit ihm zusammen hier her reisen konntest.«, hatte Harlan zu mir gesagt und mir zum Trost einmal auf die Schulter geklopft. Von da an hatte er sich zurückgehalten, sobald er Kieran gesehen hatte, auch wenn er diesen weiterhin misstrauisch im Auge behielt.
Letztlich kam der Abschied schneller, als ich es erwartet hatte. Nach dem Mittagessen hatten die Jäger ihre Sachen gepackt und wir alle hatten uns draußen vor dem Cottage versammelt. Niemand wusste so recht, was er tun sollte. Ein wenig verloren standen sich Jäger und Mutanten gegenüber.
Also machte Mikéle den ersten Schritt. Kurz schüttelte er der Reihe nach jedem die Hand, ehe er bei mir ankam. »Hm. Dann heißt es jetzt wohl wieder, getrennte Wege zu gehen.«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid, was dir angetan wurde, Freya. Und ich hoffe wirklich für dich, dass du dein Leben in Ruhe leben kannst.« Ein ehrliches Lächeln legte sich auf seine Lippen, ehe er auch mir zum Schluss die Hand reichte. Ich erwiderte seinen Händedruck.
»Danke. Du auch.«, erwiderte ich und rang mir ein müdes Lächeln ab.
Genau wie Mikéle schüttelte Jo jedem die Hand, während Brenda nur zu Audra ging und sich von ihr umarmen ließ.
»Hey.«, sagte Jo, als sie vor mir stand mit ernster Miene. »Du packst das schon.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen und ich ergriff sie. Kurz erwiderten wie unseren Händedruck.
»Es kommt mir falsch vor, das zu sagen, aber bitte pass auf Lucius auf.«, sagte ich leise. Tatsächlich erschien ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. »Er ist dein Zwillingsbruder.«, meinte sie. »Es ist nicht falsch von dir, dich um sein Wohlergehen zu sorgen. Auch, wenn er das vermutlich nicht verdient hat. Aber keine Sorge, ich passe auf.«
»Danke.«
Levi sagte einmal kurz »Tschüss« in die Runde und James schüttelte jedem die Hand. Nur mir nicht. Etwas verlegen stand er mir gegenüber und konnte sich ganz offensichtlich nicht entscheiden, ob er mir einfach die Hand gab oder sich anders verabschiedete. Schließlich seufzte er ergeben und zog mich in seine Arme.
»Es war schön, dich wiederzusehen.«, sagte er und ließ mich dann los.
»Ja, das fand ich auch.«, sagte ich und erwiderte sein leichtes Lächeln. James ging wieder zu den restlichen Jägern. Nun war bloß noch Lucius übrig. Mit einer stählernen Maske stand er etwas abseits. Es war nicht zu sagen, ob ihm Liams drohende Blicke etwas ausmachten. Oder ob ihm die ganze Situation hier überhaupt etwas ausmachte. Er machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Wie eine Statue stand er an Ort und Stelle.
Für einen Augenblick glaubte ich, er würde einfach gehen, ohne auch nur irgendein Wort zu sagen. Würde einfach wieder schweigend aus meinem Leben verschwinden.
Doch dann gab er sich einen Ruck und ging zu mir. Etwas unsicher blieb er vor mir stehen. Unwohl trat er von einem Bein auf das andere. »Pass auf dich auf, ja?«, sagte Lucius leise. Kurz zuckte sein Arm, als hätte er ihn heben wollen, um mich zu umarmen, bevor er sich dagegen entschieden hatte.
»Mach ich. Aber du auch, okay?«, erwiderte ich. Leicht nickte mein Bruder.
»Okay. Und Freya? Du sollst wissen, wie leid mir das alles tut.«, sprach er vorsichtig. »Das was ich getan habe, war falscher als falsch. Und ich werde mir das vermutlich nicht einmal selbst verzeihen. Ich hätte mich niemals auf Clausens Gerede einlassen sollen, geschweige denn, mich zu entscheiden, dir das anzutun.« Gequält zog er seine Mundwinkel nach oben, betrachtete mich noch ein letztes Mal, ehe er sich umdrehte und ging.
Genau wie bei Lucius und meiner Ankunft am Cottage hatten die anderen ihr Fahrzeug abseits geparkt, sodass man nicht sagen konnte, wo die Fahrzeuginhaber hin verschwunden waren. Also machten sie sich auf, um zu dem weißen Kleinbus zurückzukehren, mit dem sie hergekommen waren. Sie alle gehen zu sehen war ein seltsamer Anblick. Nachdem wir nach dem Gefängnisausbruchs getrennt worden waren, hatte ich nicht erwartet, dass sich unsere Wege so schnell wieder trennen würden.
Aber jetzt waren es wieder nur wir Mutanten, Audra und Harlans Familie. Obwohl die vermutlich nicht lange bleiben würde. Harlan und Michelle wollten uns nicht zur Last fallen. Das hatten sie bereits heute Morgen gesagt.
Nachdem die Jäger nur noch kleine Striche in der Landschaft waren, gingen wir wieder in das Cottage. Dieses fühlte sich auf einmal seltsam leer an, nachdem uns sechs Personen verlassen hatten. Auch war es plötzlich leise.
Da wir nicht wusste, was wir mit uns anfangen sollten, ließen wir uns im Wohnzimmer auf das Sofa fallen.
»Und was jetzt?«, wollte Audra wissen, die sich anscheinend gut mit Brenda verstanden hatte.
»Wir werden so bald wie möglich gehen.«, sagte Harlan, der seinen beiden Kindern einen Reiseführer der Umgebung in die Hände gedrückt hatte, damit sie sich die Bilder darin anschauen konnten.
»Wohin wollt ihr denn?«, fragte Liam. »Hier seid ihr sicher. Vielleicht solltet ihr erst einmal einige Zeit abwarten, bevor ihr euch auf den Weg macht. Damit wir sicher gehen können, dass ihr nicht gleich den Elitejägern in die Hände lauft.«
»Das ist wirklich ein liebes Angebot.«, sagte Michelle. »Aber das können wir unmöglich annehmen. Ihr habt schon so viel für uns getan. Wir wollen uns euch nicht aufdrängen.«
»Ach, das tut ihr doch nicht!«, meinte Audra lächelnd. »Wirklich nicht. Ihr könnt also gern bleiben.«
Harlan wank dankend ab. »Das ist wirklich nett, Mrs. Harris, aber Michelle und ich haben uns entschieden, dass es für uns besser wäre, das Land zu verlassen. Wir wollen versuchen, nach Spanien zu kommen, wo auch die Lage der Mutanten deutlich besser ist als hier.«
Michelle nickte entschieden. »Genau. Aber zuerst müssen wir uns sowieso überlegen, wie wir das anstellen. Schließlich können wir uns nicht einfach so ein Ticket für eine Fähre kaufen.«, überlegte sie. »Bevor die Elitesoldaten auf uns aufmerksam geworden sind, hätten wir es vielleicht versuchen könne. Aber jetzt definitiv nicht mehr.« Sie seufzte schwer. Besorgt beobachtete sie Sophia und Felix, die beide neugierig die Bilder in dem Reiseführer betrachteten und ab und an begeistert auf eines davon zeigten.
»Da wüsste ich vielleicht etwas.«, beteiligte auch ich mich nun an dem Gespräch.
»Ach ja?«, überrascht, aber hoffnungsvoll blickten Harlan und Michelle zu mir. Bestätigend nickte ich. Immerhin war es Lucius und mir gelungen, London zu verlassen, trotz der Ausnahmesituation. Und ich hatte immer noch das Handy, das Bill von MaWiCon mitgehen lassen hatte.
Schnell fischte ich die durchsichtige Platte aus meiner Hosentasche. Laut Bill würde wir ihn und seine beiden Helfer, Hillevi und Adeen, damit kontaktieren können, ohne uns darüber sorgen zu müssen, dass man uns vielleicht orten oder abhören könnte.
»Als Lucius und ich aus London raus wollten, obwohl jeder kontrolliert wurde, der aus der Stadt wollte, hatten wir beide Hilfe von einem Mann namens Bill Grayson.«, erzählte ich. »Er schmuggelt wohl öfters Mutanten. Ich bin mir sicher, dass er euch auch helfen kann.« Ich reichte Harlan das Handy. »Damit könnt ihr ihn kontaktieren.«
Ungläubig starrte Harlan mich an. »Ehrlich, Freya. Ich könnte dich umarmen!«, brachte er hervor und beinahe schon ehrfürchtig nahm er das Handy entgegen. »Du hilfst uns nun schon wieder. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Du musst mir nicht danken.«
»Oh, und ob!«, erwiderte Michelle, erhob sich von ihrem Platz und zog mich in eine herzliche Umarmung. »Das bedeutet uns sehr viel, Freya!« Harlan nickte bestätigend und schaltete die durchsichtige Platte ein. Er tippte auf irgendwelche Symbole, hielt kurz inne und rief dann Bill an.
»Ja, hallo. Harlan Scott, mein Name. - Fenya? Sie meinen wohl eher Freya. - Ja, genau. Sie hat mir das Handy gegeben. - Hm hm. - Genau, wir bräuchten Ihre Hilfe. - Vier Personen, zwei davon Kinder und die Mutter ist ein Mensch. - Nach Spanien, ja. - Von Morvah aus. - Okay, alles klar. Vielen Dank.« Harlan legte auf.
Erwartungsvoll und mit großen Augen sah Michelle ihren Partner an. »Und?«, wollte sie aufgeregt wissen. »Macht er es?«
Ein ungewohnt breites Grinsen erschien auf Harlans sonst eher düsterem Gesicht. »Ja!«, rief er, packte seine Partnerin und drückte sie fest an sich. »Es geht nach Spanien, Michelle!«, murmelte er in ihr langes Haar. »Wir können hier weg!«
Jubelnd schlang Michelle ihre Arme um ihn. Erleichtert lachte sie auf. Erstaunt blickten Sophia und Felix auf, die nicht wussten, worum es ging. Doch die Freude ihrer Eltern war ansteckend. So sprangen sie beide auf und stürzten auf ihre Eltern zu, um sie zu umarmen.
Eine gewaltige Last schien von Harlans Schultern gefallen zu sein. Auf einmal wirkte er deutlich weniger düster und dafür deutlich befreiter. Das Gewicht, das ihn niedergedrückt hatte, war verschwunden.
Nachdem die erste Freudenwelle sich wieder ein wenig gelegt hatte und sich die Familie wieder gesetzt hatte, begann Michelle sofort Fragen zu stellen. »Schickt er jemanden vorbei? Wann?« Ihre Augen funkelten begeistert.
»Er meinte, momentan habe er keine Leute in der Nähe von Morvah. Und er ist gemeinsam mit seinen beiden Helfern gerade der Einzige, der sozusagen in der Nähe ist.«, erzählte Harlan. »Also wird er jetzt alles organisieren und dann persönlich herkommen, um mit uns zum nächsten Hafen zu fahren. Allerdings wird ab dort dann eine Frau namens Hillevi übernehmen, die uns dann rüber nach Spanien bringt.«
Erneut stieß Michelle ein Lachen der Erleichterung aus. Von ihren Gefühlen überwältigt stiegen ihr die Freudentränen in die Augen. »Wir können endlich beginnen, wie eine ganz normale Familie zu leben.«, flüsterte sie. »Und du wirst dich nicht wieder verstecken müssen oder so tun, als wärst du jemand anderes.« Sie schenkte Harlan einen Blick voller Liebe. Der erwiderte ihn ebenso.
»Wann? Wann kommt er?«, wollte Michelle wissen.
»Er meinte, dass er seine Leute in den wichtigen Positionen hätte und auch andere wichtige Kontakte.«, erklärte Harlan. »Da er das nicht zum ersten Mal macht, weiß er, welche Rädchen er in Bewegung setzen muss. Darum wird alles recht schnell gehen und er wird möglichst morgen vorbei kommen. Sollte man uns nach unseren Ausweisen fragen, wird er uns gefälschte mitgeben. Und natürlich wird er irgendetwas mitbringen, damit die Leute, die bereits wissen, wie wir aussehen, nicht mehr erkennen. Gegen abends fahren wir dann los. Spätestens vierundzwanzig Stunden später sollten wir am Hafen in Spanien sein.«
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