Kapitel 96.3
»Freya?«, fragte Audra verschlafen, als ich wieder in das Schlafzimmer kam. Müde setzte sie sich auf ihrer Luftmatratze auf und blinzelte. Gähnend streckte sie sich, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir widmete. Augenblicklich wirkte sie besorgt.
»Was ist passiert?« Schwankend erhob sie sich und schloss mich ohne auf eine Antwort zu warten in ihre Arme. Stumm gab ich mich ihrer Umarmung hin. Liams und Jos Worte spukten mir unaufhörlich in meinen Gedanken umher. Waren hartnäckig und ließen mich nicht in Ruhe. Was, wenn sie recht hatten? Was, wenn ich es wirklich nicht mit ganzem Herzen versucht hatte? Wenn ich zu halbherzig gewesen war?
Aber vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht lagen Jos und Liam wirklich falsch. Vielleicht war meine menschliche Haut für immer, unwiderruflich, verloren gegangen. Und meine Augen. Meine eisigen blauen Augen.
Aber ich war müde. Wollte nicht enttäuscht werden. Ich durfte mich Liams Worten nicht hingeben. Am Ende würde ich es sonst tatsächlich wieder probieren und erneut enttäuscht werden.
»Ach, Freya.«, murmelte Audra und strich mir sanft über das silberweiße Haar. Und immer wieder: »Ach, Freya.« Doch auch Liams geisterhafte Stimme war zu vernehmen. Die eines enttäuschten Liams, der mir vorwarf, dass ich einfach aufgegeben hatte. Aber hatte ich das?
Ein plötzliches Krachen ließ Audra zusammenzucken und ich löste mich alarmiert von ihr. Das Geräusch war von unten gekommen. Hatten die Elitejäger uns etwa gefunden? So schnell? Oder doch die Regierungsagenten? Ein dumpfes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus und sofort schoss ich aus dem Schlafzimmer. Auf keinen Fall würde ich zulassen, dass noch jemand von uns starb! Es reichte! Hier und jetzt: Wer auch immer es war, er würde sein Ende finden! Dafür würde ich höchstpersönlich sorgen.
Angriffsbereit platzte ich in die Küche und verharrte erstaunt. Das hatte ich definitiv nicht erwartet. Wutentbrannt stand Jo mit gezücktem Messer Lucius gegenüber. Dieser war weiß wie die Wand. Aus großen Augen starrte er seine Kameradin an. Wenige Millimeter neben seinem Kopf steckte ein Wurfmesser in der Wand.
»Wie konntest du nur!« Jos Stimme war kaum mehr als ein böses Wispern. »Du bist abartig, Lucius! Abartig!«
Mein Bruder schwieg. Starrte sie an und schwieg. Suchte nach keinen Worten zu seiner Verteidigung. Versuchte es nicht einmal. Er ließ es einfach über sich ergehen. In Jos dunklen Augen schienen tödliche Blitze zu zucken. Doch noch machte sie keine Anstalten, auch ihr zweites Messer zu werfen. Vermutlich hatte sie ihn vorhin nur verfehlt, weil sie es so gewollt hatte.
»Was geht hier vor?«, wollte ich beunruhigt wissen.
Nun ergriff Liam das Wort. »Was hier vorgeht? Was hier vorgeht!« Energisch schritt er auf mich zu. In seinen blutroten Augen loderte das Feuer unheilvoll in die Höhe. Fest packte er mich an beiden Schultern und sah mir in die Augen. In ihm loderte heißer Zorn. »Er hat dir das angetan! Er ist kaum besser, als Ambroisa!« Fassungslos blickte er mich an. »Wieso hast du denn nichts gesagt? Freya, wieso?« Zu seinem Zorn gesellte sich Verzweiflung. »Wieso hast du geschwiegen?« Leicht rüttelte er mich.
Am Rande bemerkte ich, wie seine Hände immer heißer wurden. Nicht mehr lange und sie standen in Flammen. Ich musste aufpassen. »Liam, beruhige dich.«, sagte ich entschlossen. Doch anscheinend stimmte ihn das bloß noch wütender.
»Beruhigen?«, brauste er auf. Sein Griff wurde so fest, dass es beinahe schmerzte. Doch ich verzog keine Miene. Lediglich seine immer heißer werdenden Hände bereiteten mir Sorgen. »Ich soll mich beruhigen? Er soll verschwinden! Sofort! Ansonsten kann ich für nichts garantieren!« Oh, ja. Da war ich mir sicher.
»Liam, ich meine es ernst.«, wiederholte ich eindringlicher.
»Ich auch, Freya.«, erwiderte er.
»Glaub mir, sobald er mich verraten hatte, wollte ich nichts lieber, als ihn nie wiederzusehen.«, sagte ich ruhig. »Aber denk doch mal nach. Wir können ihn nicht einfach herauswerfen. Da draußen laufen Elitesoldaten und Regierungsagenten umher. Wenn die ihn erkennen, hat er keine Chance.«
»Oh, du ahnst gar nicht, wie egal mir das ist!«, spuckte Liam verächtlich aus. Könnten Blicke töten, wäre Lucius bloß noch ein trauriges Häufchen grauer Asche am Boden.
»Aber mir nicht.«, entgegnete ich. Leider. Und ich schämte mich selbst dafür. Es sollte mir egal sein. War es aber nicht.
»Sollte es aber. Vor allem dir!«, zischte mein Gegenüber. Und es schien beinahe, als weitete seine Wut sich nun auch auf mich aus. »Weil er egoistischer Abschaum ist, hat er aus dir wieder ein Versuchsobjekt gemacht!«
»Das musst du mir nicht erzählen. Das weiß ich alles schon.«, sagte ich.
»Er kann nicht bleiben!«
»Wenn er geht, ist das vielleicht sein Todesurteil.«, hielt ich dagegen. Es musste eine andere Lösung geben. Es musste einfach!
»Oh, das ist es auch, wenn er hier bleibt.«, versprach Liam mit einer düsteren Ernsthaftigkeit, die mir Unbehagen bereitete. »Ich kann es auch hier und jetzt beenden!« Er ließ mich los und schob ich aus dem Weg. Sofort griff ich nach meinem Eis und ließ seine Füße am Boden festfrieren. Doch auch das hielt ihn nicht auf. Langsam und unheilvoll erhob er seine Hand. Richtete sie gegen meinen Bruder, dem die Todesangst ins Gesicht geschrieben stand. Kalter Schweiß. Er wusste, dass er diesem Mutanten nicht entkommen konnte.
»Halt.«, schaltete sich plötzlich Jo ein. »Das ist nicht nötig.« Erschreckend ruhig stellte sie sich zwischen Lucius und Liam. »Er wird gehen. Aber nicht allein.«, sagte sie entschlossen. »Wir sind eine Gruppe. Also gehen wir alle. Ich stimme dir vollkommen zu, dass Lucius etwas Abscheuliches getan hat. Und dass das auf keinen Fall verziehen werden darf. Aber er gehört zu uns. Wir gehen zusammen. Wie wir es immer getan haben.« Ihre Entscheidung und Entschlossenheit schienen Liam zumindest ein wenig zu besänftigen.
»Na schön.«, knurrte er. »Aber verschwindet noch heute. Und wehe, er tritt mir noch einmal unter die Augen!« Hasserfüllt legten sich Liams feurige Augen auf meinen Bruder, dessen Gesicht auf einmal erschreckend emotionslos erschien. Ohne eine Regung zu zeigen, wandte er sich ab und verließ die Küche.
Schweigend und mit klopfendem Herzen blickte ich ihm nach. Tief in meinem Inneren schmerzte es. Mir war, als hätte man auch mir befohlen, zu gehen und alles hinter mir zu lassen. Lucius ging und er nahm ein Stück von mir mit sich. Es war, als wären wir durch irgendetwas verbunden und sein Fortgehen zerrte an dieser Verbindung und riss letztendlich einen Teil von mir heraus.
Deutlich ruhiger wandte sich Liam nun an mich. »Mach mich frei.«, sagte er. Wortlos ließ mein Eis ihn gehen. Sofort kam er auf mich zu und zog mich in seine Arme. Presste mich an sich. »Es tut mir so leid.«, sagte er leise. Und damit meinte er nicht, dass er Lucius zum Gehen gezwungen hatte. Dass er mir die Entscheidung abgenommen hatte. Nein. Er bezog sich auf das, was mir passiert war. Aber woher wusste er überhaupt davon?
Ich hatte es nur Kieran erzählt. Und ich konnte mir kaum vorstellen, dass er es einfach so offenbart hatte. Das war nicht seine Art. Außerdem hatte er mir selbst gesagt, dass das meine Sache wäre und ich darum auch die Entscheidung treffen müsse.
Woher also wussten Liam und Jo davon? Außerdem hatte ich Kieran auch nur grob gesagt, was geschehen war. Aber Liams Andeutungen waren schon viel spezifischer gewesen.
»Er hat es gesagt.«, sagte Liam schließlich leise. »Lucius.« Mein Bruder? Aber weshalb? Er hätte sich doch denken können, wie die anderen reagieren würden. Wieso hatte er sein Urteil selbst gefällt? Wieso hatte er nicht weiter geschwiegen?
»Lucius schämt sich. Außerdem zerfressen ihn seine Schuldgefühle.«, beantwortete Jo meine unausgesprochene Frage. Nachdem sie ihr Messer aus der Wand gezogen hatte, wandte sie sich mir zu. »Was geschehen ist, tut mir schrecklich leid, Freya.«, sagte sie. »Und ich werde Lucius nicht verteidigen, denn das, was er getan hat, ist unentschuldbar.« Sie nickte mir noch einmal knapp zu, ehe auch sie die Küche verließ.
Schweigen legte sich wie ein Totenschleier über den Raum. Ich fühlte mich leer. Der Morgen war definitiv anders verlaufen, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Und ich wusste einfach nicht, was ich darüber denken sollte. Auch mein Kopf schien wie leergefegt.
»Es war ihre Entscheidung gewesen.«, brach plötzlich Kierans Stimme die Stille. Irritiert ließ Liam mich los und blickte zu dem anderen Mutanten.
»Wie bitte?«
»Du hattest kein Recht, Lucius fortzuschicken.«, sagte Kieran ruhig. »Sondern Freya, hätte sie sich dafür entschieden. Das hier war ihre Angelegenheit. Er hat ihr das angetan, nicht dir. Du hast ihr die Entscheidungsfreiheit genommen. Du hattest in dieser Angelegenheit nichts zu sagen.« Fassungslos starrte Liam Kieran an. Und ich bemerkte, wie seine Wut zurückkehrte. Zwar war sie im Moment nur ein Glühen in der Dunkelheit, doch sie war da.
»Willst du etwa sagen, dass es nicht gerechtfertigt war, Lucius wegzuschicken?«, knurrte er bedrohlich.
»Mir ist vollkommen egal, was gerechtfertigt ist und was nicht.«, erwiderte Kieran gelassen, aber ernst. »Ich sagte lediglich, dass das nicht deine Entscheidung war. Sondern Freyas.« Für ihn war die Unterhaltung beendet, also erhob er sich und schenkte Liam keinerlei Notiz mehr.
»Hey, wo willst du hin?«, rief Liam ihm nach, als Kieran schon fast aus der Küche verschwunden war.
»Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Und eine Diskussion mit dir hat sowieso keinen Sinn. Diese Zeit und Energie verschwende ich nicht.«, meinte Kieran gleichgültig und ließ Liam stehen.
Entgeistert starrte Liam aus der Tür hinaus. Er sagte kein Wort. Was sollte er auch sagen? Es war vorbei. »Ich kann diesen Kerl nicht leide.«, brummte Liam. Und dieser Kerl ihn vermutlich auch nicht. Für Kierans Verhältnisse handelte Liam wahrscheinlich zu unvernünftig.
Nach Atem schnappend hechtete ein aufgelöster James in die Küche. »Sag mir, dass das nicht stimmt!«, flehte er mich aus großen Augen an. »Sag mir, dass Jo und Lucius lügen!« Verzweifelt schritt er auf mich zu und packte mich an den Schultern. Hoffnungsvoll sah er mir in die Augen. »Sie lügen, oder? Sie müssen einfach lügen!«
Unglaublich, wie viel Vertrauen James in seinen besten Freund steckte. Aber vielleicht wollte er auch einfach nur nicht gehen müssen, anstatt an Lucius' Unschuld zu glauben. Wegen was James letztlich hier war, konnte ich nicht sagen. Noch nicht. Aber ganz sicher würde er es mir gleich klarmachen. »Lucius würde so etwas niemals tun, Freya! Das weißt du doch!«, sprach James hektisch. Er stolperte beinahe über seine Worte. »Es stimmt, dass Lucius schon Fehler gemacht hat. Und manche von ihnen sind nicht klein. Aber so etwas würde er niemals tun!«
»Niemals!«, schnaubte Liam verächtlich. »Na klar! Ob du es glauben willst, oder nicht: Lucius ist Ambrosia gar nicht mal so unähnlich.«
Wütend drehte James sich zu dem Mutanten. »Mit dir habe ich nicht gesprochen!« Er wandte sich wieder mir zu. Die Wut wich wieder der Verzweiflung. »Freya, sag es mir!«
Es tat mir weh, ihn so zu sehen. Einst waren auch James und ich beste Freunde gewesen. Aber diese Zeiten waren vergangen. Lange vergangen. Und hatten auch nicht lange angehalten. Auch, wenn daran keiner von uns Schuld trug.
Auch mir tat es leid, dass James nun wegen Lucius gehen musste. Aber ehrlich gesagt, hatten wir uns nicht mehr nahe gestanden. Vor vielen Jahren, ja. Aber nicht zu dem Jäger James. Ich kannte ihn kaum. Wenn dann tat er mir wegen der alten Zeiten willen leid.
»Sie sagen die Wahrheit, James.«, sagte ich. Ich konnte beinahe zusehen, wie in James das Bild seines besten Freundes urplötzlich zersplitterte. Sprachlos hatte er mich immer noch gepackt. Aber jetzt war es mehr ein Klammern, damit er seinen Halt nicht verlor.
Er öffnete seinen Mund, wollte etwas sagen, wusste nicht was und schloss ihn wieder. Seine Augen spiegelten sein Innerstes wieder. Und es war vollkommen erschüttert.
»Freya, ich ...« Die Worte ließen ihn im Stich.
So überwand ich mich und zog ihn in eine tröstende Umarmung. Für einen kurzen Moment fühlte es sich zwischen uns an wie früher.
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