Kapitel 93
Skeptisch nahm Lucius Adeen den Autoschlüssel ab. Unschlüssig starrte er ihn an. Ihm war anzusehen, dass er sich überwinden musste. Immerhin hatte er noch nie hinter dem Steuer eines Autos gesessen. Und jetzt sollte er fahren. Ohne wirklich zu wissen, wie.
„Du packst das schon.", meinte Adeen, der man überhaupt keine Bedenken ansehen konnte. „Ist sogar leichter als Fahrrad fahren."
„Das bezweifle ich.", sagte Lucius nur, ehe er sich tatsächlich auf den Fahrersitz setzte und mir mit einer knappen Geste bedeutete, mich neben ihn auf der Beifahrerseite niederzulassen.
„Bist du sicher, dass das funktioniert?", fragte Hillevi unsicher. Doch Adeen winkte ab. „Sicher.", erwiderte sie. „Außerdem muss Louis ja erst einmal nicht zu schnell fahren."
„Bitte seid vorsichtig.", wandte Bill sich an uns. Auch ihm war anzusehen, dass ihm die Situation nicht behagte. Hatte er nicht bei Enya noch von einem Fahrer gesprochen, der uns mitnehmen würde, je nach dem wohin wir wollten?
Knapp nickte ich. „Danke dafür, dass du uns geholfen hast.", sagte ich. Ein leichtes Lächeln zupfte an Bills Lippen.
„Gerne.", erwiderte er. „Und ich hoffe, dass ihr sicher dort ankommt, wo auch immer ihr hin wollt. Ihr habt ja das Handy, wenn etwas sein sollte." Auf einmal fielen mir wieder die Flugblätter ein, die Enya uns gegeben hatte. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, ein paar davon auch Bill zu geben. Nach wie vor wusste ich nicht, ob wir ihm zu einhundert Prozent trauen konnten. Schließlich wusste er, was Enya tat uns wo sie wohnte. Uns mochte er jetzt geholfen haben, aber ob das auch auf Dauer der Fall sein würde, ließ sich noch nicht sagen. Zwar glaubte ich kaum, dass Bill uns verraten würde, doch sicher konnte ich mir nicht sein.
„Hättest du etwas dagegen, ein paar Flugblätter zu verteilen?", fragte ich. Er würde nicht alle bekommen, nein. Schließlich war es eigentlich Lucius' und meine Aufgabe, die zu verteilen. Dennoch konnten wir Hilfe gebrauchen. Immerhin würde es vielleicht ein wenig schwieriger werden, unsere Spur zurückzuverfolgen, wenn auch noch weitere Personen Flugblätter verteilten.
Überrascht richtete Bill seine Brille. „Ja, natürlich!", rief er aus. Natürlich wusste er, worum es ging. Schließlich hatte er das bei Enya und Samuel mitbekommen. Wenn auch nur am Rande. Ein strahlendesLächeln breitete sich auf seinem ganzen Gesicht aus und auf einmal wirkte er deutlich Energie geladener als zuvor. Hillevi und Adeen dagegen warfen sich nur fragende Blicke zu. Sie hatten keine Ahnung, worum es ging.
Aus dem Auto war ein Rascheln zu hören. Anschließend reichte mein Bruder mir etwa die Hälfte der Flugblätter, die wir von Enya erhalten hatten. Diese gab ich wiederum an Bill weiter, der sie mit leuchtenden Augen entgegen nahm und eingehend betrachtete. Hillevi beugte sich zu ihm hinüber und schaute sich die Flugblätter ebenfalls an. Über ihre Schulter lugte Adeen, die genau wie ihre Freundin einen Blick auf die Flugblätter werfen wollte.
„Wunderbar!", rief Bill begeistert aus. „Keine Sorge! Wir werden uns darum kümmern, dass eure Nachricht verbreitet wird!" Bill schien der Einzige zu sein, der wirklich begeistert wirkte. Hillevi schluckte und ein betroffener Ausdruck verdunkelte ihr Gesicht. Adeen dagegen wirkte wie eine Statue. Weder regte sie sich, noch sagte sie etwas. Das Einzige, das auf eine Regung hinwies, waren ihre fest zusammengepressten Lippen.
Bill presste die Flugblätter fest an sich, nachdem er sie betrachtet hatte und warf mir ein strahlendes Lächeln zu. Offensichtlich freute er sich, dass ich ihm etwas Vertrauen entgegen brachte. Jedenfalls hätte ich ihm wohl – so wie es aussah - kein besseres Geschenk machen können. „Ich hoffe, ihr habt eine gute Reise!", sagte Bill. „Und hoffentlich sehen wir uns wieder!" Ob ich das auch wollte, war eine andere Frage. Dennoch lächelte ich leicht. „Auf Wiedersehen, Bill." Dann wandte ich mich Hillevi und Adeen zu, nickte ihnen kurz zu, was Hillevi mit einem Lächeln erwiderte, während Adeen sich noch immer nicht ganz gefasst hatte.
Anschließend ließ ich mich auf den Beifahrersitz sinken und Lucius steckte den Schlüssel ins Schloss. Er war unruhig. Seine Atmung war zwar kontrolliert, doch das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er gab sich betont gelassen, doch ich wusste, dass er es nicht war. Vor mir konnte er das nicht verbergen. Dennoch sagte ich nichts. Kaum merklich zitterte seine Hand, als Lucius den Schlüssel im Schloss umdrehte und der Motor ächzend ansprang. Einmal atmete er tief ein und aus, ehe er beide Hände ans Lenkrad legte. Einen Fuß legte er auf die Bremse, während seine rechte Hand sich auf die Handbremse zu bewegte, um sie zu lösen. Dann nahm er vorsichtig seinen Fuß von der Bremse, um mit dem anderen auf das Gaspedal zu treten. Gequält heulte der Motor auf und der Wagen machte einen ruckartigen Satz nach vorne. Abgewürgt.
Erschrocken tragt Lucius schnell wieder auf die Bremse, während seine Finger verkrampft das Lenkrad umklammerten. Seine Atmung ging schnell und sein Herz raste. Sein Körper zitterte. „Bei Levi sah es immer so einfach aus.", brachte er krächzend hervor. Sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen.
Vorsichtig legte ich ihm meine kalte Hand auf die Schulter. „Es ist alles gut. Okay? Starte einfach noch einmal den Motor. Du schaffst das.", sagte ich und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er musste es schaffen. Sonst saßen wir hier fest. Und das wollte keiner von uns beiden.
Nach ein paar Sekunden hatte Lucius sich wieder so weit gefasst, dass er bereit für einen zweiten Versuch war. Erneut startete er den Motor und drückte auf das Gaspedal. Dieses Mal weniger stark. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Lucius wirkte sichtlich erleichtert. „Na also. Gut gemacht.", sagte ich, doch auch ich war erleichtert. Hätte Lucius es wieder nicht geschafft, hätte womöglich ich hinter das Steuer gemusst. Und ich wollte wirklich nicht in seiner Lage sein. Das letzte Mal, dass ich etwas mit Räderngesteuert hatte, war das ein Fahrrad gewesen. Und das war ewig her.
Als mein Bruder etwas sicherer geworden war, nahm das Auto etwas an Geschwindigkeit zu. Im Rückspiegel konnten wir Bill und Hillevi winken sehen. Stocksteif saß Lucius auf dem Fahrersitz. Die Hände umklammerten fest das Lenkrad, bewegten es kein bisschen. Immerhin war die Straße gerade und das einzige Mal bisher, dass mein Bruder das Lenkrad bewegen musste war, als er den Wagen vom Straßenrand auf die Straße geführt hatte. Hoffentlich ging es noch eine ganze Weile weiter geradeaus.
Starr blickte Lucius auf die Straße vor ihm. Das Radio hatte er ausgelassen. „Erinnerst du dich an irgendeinen Treffpunkt, den du und die Anderen ausgemacht habt, für den Fall, dass ihr mal voneinander getrennt werdet?", wollte ich wissen.
„Nein.", antwortete mein Zwilling kurz und einsilbig.
„Fallen dir irgendwelche Orte ein, an denen sie sein könnten?", fragte ich. Immerhin mussten wir doch irgendein Ziel haben, das wir ansteuern konnten. Planlos durch die Gegend zu fahren erhöhte die Chance nicht, zufällig auf die Anderen zu treffen. Außerdem hatten wir nur begrenzt Sprit und konnten auch nur, wenn der Tank leer war, ein einziges Mal nachtanken. Wir kamen also nur begrenzt weit.
„Nein.", sagte Lucius ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
„Zurück zu unserem letzten Lager können wir nicht.", überlegte ich laut. „Obwohl ich bezweifle, dass sie da noch sind." Man hätte sie dort ohnehin gefunden und bestenfalls einfach weggesperrt. Wo also könnten sie sein? Eigentlich würde man doch irgendwo hin gehen, wo die anderen, die man verloren hatte, einen wiederfinden könnten. Doch was, wenn sie sich nicht sicher waren, ob wir überhaupt dazu in der Lage waren, zurückzukehren? Nach wie viel Zeit würde ich aufgeben, auf jemanden zu warten? Irgendwann musste es schließlich weitergehen. Allerdings hatten sie Audra dabei. Und diese hatte gerade ihr Zuhause und ihren Ehemann verloren. Sie war auf derFlucht. Immerhin war sie aus dem Gefängnis ausgebrochen. Das bedeutete, dass sie erst einmal bei Liam, Kieran und den Jägern bleiben musste. Obwohl ich ohnehin nicht glaubte, dass sie Liam so schnell verlassen würde. Immerhin war er der Letzte aus ihrer Familie, der ihr geblieben war. Wo also konnten sie hin gegangen sein?
Das Ambrosia-Gebäude war unwahrscheinlich. Obwohl es dennoch eine Option war. Es war verlassen und niemand sah mehr dort nach, zumal es über und über mit Eis überzogen war. Vielleicht sollten wir dort doch einmal nachsehen? Doch schnell verwarf ich den Gedanken. Es musste eine bessere Lösung geben.
„Audra hat doch viel Geld, oder?", kam es auf einmal von Lucius. Seine Stimme klang ein wenig angespannt, denn er konzentrierte sich immer noch auf das Fahren. Noch fuhr er nicht so schnell, wie er eigentlich durfte.
„Ja.", antwortete ich mich gerunzelter Stirn. Worauf wollte Lucius hinaus?
„Dann hat sie bestimmt ein zweites Haus.", überlegte er. Doch dann schüttelte er seinen Kopf. „Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Wenn sie ein zweites Haus besitzt, wissen die Behörden ganz sicher davon und lassen es überwachen." Plötzlich erblasste mein Bruder, denn die Straße endete in einer Kreuzung. Augenblicklich drückte er auf die Bremse, woraufhin wir beide nach vorne gerissen wurden und nur die Sicherheitsgurte verhinderten, dass wir gegen die Frontscheibe krachten.
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