Kapitel 91.5
„Stellen wir uns mal kurz vor, dass wir dir glauben würden.", sagte Samuel. „Wie würdest du helfen, zwei Personen aus London zu schaffen?" Bill brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich habe einen Wagen.", erzählte er. „Den habe ich umgebaut. Hinter der Rückbank hat das Auto einen Hohlraum. Nicht gerade groß, aber groß genug. Das einzige Problem ist, dass sich der direkt am Motor befindet. Vor allem für Mutanten ist das unangenehm, mit ihren deutlich besseren Sinnen.
Nicht selten werden aufgrund der Aktivität mancher Mutanten ganze Städte abgeriegelt. Dann wollen oft einige die Stadt verlassen. Manchmal aber auch, weil in manchen Städten schlimmer mit Mutanten umgesprungen wird, als in anderen. Ansonsten habe ich Mutanten auch schon auf die Fähre gebracht, die zum Festland fährt. In dem Versteck im Auto ist es nicht gemütlich, aber wenn wir dann ein Land erreicht haben, das Mutanten akzeptiert, können sie das Versteck verlassen."
„Davon habe ich noch nie gehört.", sagte Samuel, woraufhin Bill ihm einen irritierten Blick zuwarf. „Natürlich nicht. Ich wurde ja auch noch nie erwischt. Glaubst du, ich arbeite schlampig?" Empört schüttelte Bill seinen Kopf.
„Was denkst du, Enya?" Fragend sah Samuel zu seiner Cousine, die mittlerweile wieder Farbe im Gesicht hatte. Nachdenklich saß sie mit verschränkten Armen auf dem Sofa und betrachtete Bill.
„Ich weiß es nicht.", gab sie zu. „Das, was er sagt, klingt eigentlich ganz gut und die Gründe, weshalb er bei MaWiCon arbeitet, erscheinen mir auf irgendeine Weise plausibel. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob wir ihm vertrauen können. MaWiCon ist mir immer noch zu riskant."
„Das verstehe ich.", sagte Bill betroffen.
„Guten Morgen!", erklang plötzlich eine müde Stimme. Alle Blicke wanderten zur Tür. Dort stand Sanya. Gekleidet in eine graue Sporthose und einem hellblauem T-Shirt, das ihr viel zu groß war. Kurz blinzelte sie einmal, ehe sich ihre Stirn zu runzeln begann. „Wer ist das?", fragte sie mit Blick auf Bill. Dieser starrte sie eine Weile an, ehe er wieder zu Enya sah. „Sag mal, wie viele Mutanten leben hier überhaupt?", wollte er irritiert wissen. „Ich dachte, von der Schwester, von der du am Telefon gesprochen hast, wusstest du nichts. Ich habe gedacht, dass du ansonsten keinen Kontakt zu Mutanten hast. Und jetzt sehe ich hier gleich drei." Sein Blick huschte zu Varya. „Oder vier. Ich bin mir noch nicht ganz sicher."
Auf einmal wirkte Sanya vorsichtig. „Wer ist das?", wiederholte sie leise. Ihre Stimme bebte kaum merklich.
„Mein Name ist Bill Grayson.", stellte Bill sich freundlich lächelnd vor. Sanyas Misstrauen nahm er somit jedoch nicht. „Eigentlich war ich hier, um mit Enya und dem Geschwisterpaar, Louis und Fenya, das aus London verschwinden will, über unser Vorgehen zu sprechen." Louis und Fenya? Enya, die meinen Blick bemerkte, zuckte leicht lächelnd mit ihren Schultern. Sie hatte ihm während des Telefonats nicht unsere richtigen Namen genannt.
„Louis?", wiederholte Lucius skeptisch. Mehr sagte er dazu nicht. Dennoch entging das alles Bill nicht. Seine Aufmerksamkeit lag wieder auf Lucius. „Damit bist du gemeint, oder? Auch, wenn ich davon ausgehe,dass das nicht dein Name ist.", sagte Bill. „Und wer ist dann Fenya?" Suchend sah er erst Varya an, dann mich. Wobei sein Blick auf mir verweilte. „Du bist mit Fenya gemeint, nicht wahr?" Nun sah er zwischen Lucius und mit hin und her. „Das ist wirklich erstaunlich. Ein Jäger und eine Mutantin. Eigentlich würde ich gerne eure Geschichte hören, aber ich bezweifle, dass ihr mir sie erzählen werdet."
„Hast du uns nicht erzählt, dass er immer ziemlich ruhig war?", wendete Samuel sich genervt an seine Cousine. Diese verdrehte ihre Augen.
„War.", wiederholte sie. „Wie du gerade sagtest."
Bill setzte gerade an, etwas zu sagen, als er plötzlich stockte. Seine Stirn warf Falten und er strich sich wieder über die Stoppeln an seiner Wange. Danach wanderte seine Hand wieder auf seine Brille zu, um sie wieder unnötiger Weise zu richten, ehe er innehielt und seine Hand wieder sinken ließ. Seine blauen Augen legten sich auf Samuel. Und dort blieben sie. „Jetzt weiß ich, woher du mir bekannt vorkamst. Erst habe ich mir gedacht, dass ich mir das einbilde, aber jetzt bin ich mir sicher: du warst schon einmal in der Zeitung! Zwar waren die Bilder meist nicht in bester Qualität, aber ich bin mir sicher, dass ich dich darauf gesehen habe!", sagte Bill. „Du gehörst zu einer Gruppe von Mutanten, die ab und an an gut besuchten Orten anzutreffen sind und dann Reden halten, in denen sie die Leute überzeugen wollen, dass ihr die gleichen Rechte wie wir haben solltet!" Auf einmal begannen seine Augen freudig zu leuchten. „Ihr alle wohnt hier, oder? Und Enya sorgt dafür, dass ihr hier leben könnt." Langsam verzogen sich seine Lippen zu einem breitenLächeln.
Enya, Samuel und Sanya dagegen wirkten wie vom Donner gerührt. Bill hatte es herausgefunden. Und das war nicht gut, sollte er wirklich das sein, für was wir ihn hielten.
Bill wandte sich an Enya. „Finanzierst du das alles hier alleine oder mit anderen?", fragte er interessiert. Entgeistert sah sie ihn an.
„Darüber gebe ich dir doch keine Auskunft.", erwiderte sie kopfschüttelnd. Bill seufzte tief und wollte sich wieder an die Brille fassen, ließ es aber dann doch noch bleiben. „Okay. Aber hättest du was dagegen, wenn ich dir ein bisschen unter die Arme greife? Finanziell und bei was auch immer du und die Mutanten sonst noch Hilfe braucht?", wollte Bill wissen. Irgendetwas an seinem Blick sagte mir, dass er es wirklich ernst meinte.
„Wenn wir dir nicht glauben, dass du -" Samuel räusperte sich. „-Louis und Fenya aus der Stadt bringst, ohne ihnen oder uns eine Falle zu stellen, kannst du davon ausgehen, dass wir deine Hilfe auch sonst nicht wollen."
Frustriert sank Bill in sich zusammen. „Ich habe euch doch schon erklärt, weshalb ich bei MaWiCon arbeite.", sagte er. „Außerdem vertraut ihr dem Jäger anscheinend auch. Ansonsten wäre er nicht hier. Und während Jäger die Mutanten eigenhändig töten, stellen wir lediglich die Gerätschaften her, die man zur Unterstützung nutzen kann. Natürlich ist auch das nicht zu verzeihen. Aber im Vergleich zu den Jägern, sind wir das weitaus kleinere Übel."
„Er darf hier bleiben, weil seine Schwester für ihn bürgt.", erwiderte Samuel eisern. „Im Gegensatz zu ihm hast du niemanden, der das für dich tut." Dabei ignorierte er Bills letzte Aussage. Obwohl Lucius und ich noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier waren, schien es mir bereits so, als würden Samuel und Enya meinem Bruder vertrauen. Auch ohne, dass ich ihnen versicherte, dass er niemandem etwas tun würde. Bill hatte dieses Vertrauen nicht erhalten.
„Enya!", wandte Bill sich wieder an Enya. „Erinnerst du dich noch an die achte Klasse? Und an John, Thomas und Flavio?"
„Die, die immer die anderen Schüler geärgert haben?", fragte Enya. Sie wusste definitiv nicht, auf was ihr ehemaliger Klassenkamerad hinauswollte.
Bill nickte. „Genau die. Und weißt du noch, dass ich mich mit ihnen angefreundet habe?" Abwartend sah er Enya an, die langsam nickte.„Nachdem ich das getan hatte, hatten meine Worte auf sie plötzlich eine Wirkung: sobald ich sagte, dass mir nicht gefiel, was sie taten, haben sie sich größtenteils zurückgehalten."
„Willst du das etwa mit der heutigen Situation vergleichen?" Abwertend verzog Enya ihr Gesicht. „Das ist doch etwas vollkommen anderes! Damals ging es um ein paar kindische Streiche und jetzt geht es um Mord!"
„Aber anders weiß ich mir jetzt nicht mehr zu helfen!", rief Bill verzweifelt aus und raufte sich das braune Haar. „Wie soll ich euch beweisen, dass ich keine schlechten Absichten habe?"
„Ich weiß es nicht."
„Bitte! Lasst mich Louis und Fenya – oder wie auch immer ihr beide wirklich heißt – sicher aus der Stadt bringen!", bat Bill. „Und danach möchte ich euch hier helfen. Was auch immer ihr vorhabt, ich werde euch unterstützen! Es ist nicht gerecht, wie man euch behandelt! Und wenn ihr mir immer noch nicht vertraut, nehmt dann bitte meine Spenden an!"
Überfordert blickte Enya zu ihrem Cousin. Sie wusste offensichtlich nicht, was sie jetzt tun wollte. Auch, wenn sie es nicht zugeben wollte, Geld brauchte sie dringend. Zwar kamen sie und die Mutanten bis jetzt über die Runden, aber was, wenn mal mehr Mutanten hier lebten, als jetzt?Oder, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah oder sie wieder eine solche Aktion wie mit den Flugblättern starten wollten?
Zögerlich mischte sich nun Sanya ein. „Wieso geben wir ihm nicht eine Chance?" Samuel wollte schon etwas erwidern, doch Sanya bat ihn mit einer knappen Handbewegung, zu schweigen. „Bitte hör mir erst zu.", bat sie und deutete dann auf Lucius und mich. „Ihr beide wollt die Stadt verlassen. Und hier habt ihr eine Möglichkeit, das zu tun. Natürlich dürfen wir ihm nicht so leichtfertig vertrauen. Aber was, wenn wir ihn dabei beobachten? Ein paar von uns, die unter Menschen nicht auffallen, könnte euch folgen und so auch eingreifen, wenn etwas schiefläuft."
„Und was ist, wenn er die beiden aus der Stadt bringt und alles währenddessen gut läuft, er aber anschließend uns verrät? Bei den beiden handelt es sich um eine Jäger und eine Mutantin. Hier dagegen, leben viel mehr von uns. Was wäre also der bessere Fang?", gab Samuel zu bedenken.
„Bleibt uns überhaupt eine andere Wahl?", erwiderte Sanya vorsichtig. „Er weiß doch ohnehin schon von uns. Was wäre also die andere Option? Ihn gefangen zunehmen oder gar zu töten? Beides davon ist auszuschließen. Wenn er wirklich zu MaWiCon gehört, wie ich bis jetzt herausgehört habe, wird sein Verschwinden nicht unbemerkt bleiben. Auf die ein oder andere Weise würden wir entweder früher oder später die Aufmerksamkeit der Polizei auf uns lenken."
„Aber wir können auch nicht einfach hoffen, dass Bill uns nicht verrät!", sagte Samuel und fuhr sich gestresst mit der Hand über den Nacken.
„Hast du vielleicht eine andere Idee?", klinkte sich nun auch Enya wieder ein. „Mir fällt nämlich keine ein. Und selbst, wenn es uns möglich wäre, umzuziehen, könnte er unsere Adresse einfach wieder herausfinden."
Zerknirschtes Schweigen lag schwer in der Luft. Betroffen hingen alle Anwesenden ihren eigenen Gedanken nach. Obwohl Bill bisher wirklich aufrichtig gewirkt hatte, konnte ich ihm einfach nicht vertrauen. Noch nicht. Es mochte ja sein, dass er tatsächlich die Wahrheit sprach. Aber es barg ein enormes Risiko, uns auf ihn einzulassen.
„Na schön.", sagte Samuel schließlich. Ihm war anzusehen, dass ihm die ganze Sache nicht gefiel. „Aber wir werden dich im Auge behalten." Trotz dieser offensichtlichen Warnung, nickte Bill erleichtert. Ein kleiner Funken von Hoffnung schien in ihm aufzuglühen.
„Natürlich!", stimmte Bill leicht lächelnd zu.
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