Kapitel 67
Kapitel 67
Es war grausam. Es war wirklich grausam. Ich wusste ja, dass manche Familien ihre Kinder nicht mehr wieder erkannten, wenn sie zurück kamen und sie deswegen getötet hatten, da sie in ihnen fremde Monster sahen. Doch nun, wo ich das von jemandem hörte, der das gesehen hatte und jemanden kannte, der das tatsächlich getan hatte ... Da wurde mir schon ganz anders. Vor allem, da ich wusste, dass mir das genauso gut hätte passieren können als Lucius plötzlich in unserem Garten gestanden hatte.
„Brenda hat ihren eigenen Bruder erschossen.", flüsterte ich. Allein das auszusprechen klang für mich schrecklich. Er hatte doch nur zurück nach Hause gewollt. Vermutlich hatte er Brenda das alles sogar erklären wollen, doch sie hatte ihm nicht geglaubt und ihn wahrscheinlich auch nicht ausreden lassen. Wie konnte sie mit dieser Schuld leben? Mittlerweile musste sie selbst doch auch wissen, wer der Mutant vor drei Jahren gewesen war. Da das vor drei Jahren passiert war, musste er sich entweder eine Weile versteckt haben, oder hatte einer Familie gedient, ehe er seine Angst überwunden hatte und zu seiner Familie zurück gekehrt war. Und dann passierte so etwas. Von der kleinen Schwester erschossen. Lucius schien meinen Gedankensturm zu bemerken, denn er rutschte näher zu mir und legte seinen Arm um meine Schultern. „Brenda hat unglaubliche Schuldgefühle. Auch wenn sie versucht das zu verbergen.", sagte er.
„Hat sie ... Hat sie in seine Akte gesehen?", wollte ich wissen. Doch Lucius schüttelte seinen Kopf. „Nein. Sie konnte sich dazu nicht überwinden. Sie tut so, als wäre nichts geschehen." Mein Bruder senkte seine Stimme. „Am Morgen bevor wir hier her gefahren sind war ich noch einmal bei den Akten.", gestand er. „Ich habe deine und die von Brendas Bruder mitgenommen. Und auch eure Aufnahmen. Für den Fall, dass Brenda sich die Akte und Aufnahme ihres Bruders doch irgendwann mal ansehen möchte." Wir saßen schweigend beieinander. Lucius ignorierte meine Kälte, oder er bemerkte sie nicht einmal mehr. „Und deine habe ich mitgenommen für den Fall, dass ich Mum und Dad beweisen muss, dass du du bist.", flüsterte er. „Für irgendwann, wenn wir beide nach Hause gehen." Nach Hause. Lucius glaubte wirklich, dass wir eines Tages zurück kehren würden. Es zog mich runter. Es machte mich traurig. Es stand so viel zwischen meiner Rückkehr. Ambrosia, die Regierung, die Menschen. Und auch wenn wir all das überstehen würden, blieb noch immer die Frage offen, ob die Menschen unsere Andersartigkeit irgendwann akzeptieren würden. Meine Eltern mit eingeschlossen. So etwas war nicht von jetzt auf gleich wieder okay. Es brauchte seine Zeit. Viel Zeit.
„Du glaubst nicht daran, dass du irgendwann zurück nach Hause kommst.", stellte Lucius bedrückt fest. Langsam schüttelte ich meinen Kopf. „Nicht wirklich.", murmelte ich. Ich spürte Lucius' Blick auf mir. „Freya ...", seufzte er und schüttelte seinen Kopf. „Du wirst schon sehen." Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Die Zukunft war ungewiss. Doch erst einmal sollte ich mich darauf konzentrieren, Audra aus dem Gefängnis zu bekommen. Lucius schien mir die Sorgen anzusehen und wusste sofort um was es ging. „Mach dir keine Sorgen. Wir holen Audra ohne allzu große Probleme da raus. James und ich können ja so tun, als würden wir sie besuchen wollen und gleichzeitig schleicht ihr euch ein. So holen wir sie bestimmt dort raus.", sagte Lucius lächelnd. Ich lachte plötzlich auf. Genau das war auch James' Plan gewesen. Nur, dass James das alleine machen wollte. Tja. Jetzt wohl nicht mehr. „Was hast du denn auf einmal?", wollte Lucius wissen. Ich winkte grinsend ab. „James hatte den selben Plan wie du.", informierte ich ihn.
Lucius sah überrascht aus. „Ach ja?"
Ich nickte. „Ja."
Lucius zuckte mit seinen Schultern. „Dann machen wir es so. Wenn er die selbe Idee hatte wie ich, kann sie ja nicht so übel sein." Ganz plötzlich wirkte Lucius ziemlich nachdenklich. „Wir können aber keine Waffen mitnehmen. Die Wärter werden uns kontrollieren. Wir sind also darauf angewiesen ohne Waffen zu kämpfen." Ich zog eine Augenbraue hoch. Hatte Lucius da nicht vielleicht eine Kleinigkeit vergessen? „Du hast Waffen dabei.", widersprach ich ihm. Lucius zog seine Augenbrauen zusammen. „Habe ich das?", fragte er skeptisch.
„Hast du.", bestätigte ich. „Vielleicht hast du es vergessen, aber Liam, Kieran und ich werden auch in eurer Nähe sein. Außerdem kann ich dir innerhalb von Sekunden Waffen aus Eis machen. Keine Pistolen, aber Messer." Lucius' Miene erhellte sich und er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Stimmt. Wie konnte ich dein Eis vergessen?", murmelte er peinlich berührt. Er lächelte mich schräg an und ich sah, dass es ihm noch immer peinlich war. Es freute mich, als ich erkannte, dass er nicht mehr so abweisend darüber dachte. Lucius akzeptierte mich. So, wie ich war. Und das war das beste Geschenk, das er mir machen konnte.
„Zeigst du es mir?", bat Lucius mich auf einmal. „Bitte.", fügte er noch hinzu. Er ließ sich tatsächlich auf den Gedanken ein, dass ich anders war. Ich war ein wenig überrascht über seine Bitte. „Okay.", sagte ich noch immer ein wenig irritiert und streckte meine Hand aus. Lucius sah neugierig zu. Meine Handfläche wurde immer kälter und plötzlich bildete sich Eis, das eine Form annahm. Lucius betrachtete gespannt das Eis auf meiner Handfläche. Nun lag in meiner Hand ein Eismesser. Ich reichte es Lucius, der es vorsichtig in die Hand nahm und es fasziniert musterte. Da es so kalt war, wechselte er die Hand, mit der er es hielt. „Es schmilzt nicht.", stellte er verblüfft fest, während er es betrachtete. Ich lächelte.
„Nur wenn ich will, dass es schmilzt.", sagte ich. Es machte mich glücklich, zu sehen, wie fasziniert mein Bruder von meinem Eis war. Lucius strich mit dem Zeigefinger über die Eisklinge. „Es ist scharf.", bemerkte er überrascht.
„Es ist ein Messer.", sagte ich. „Zwar aus Eis, aber es ist ein Messer." Lucius nahm das Eismesser wieder in die andere Hand. „Und du kannst so viele davon machen, wie du willst?", wollte er wissen. Ich nickte. „Wow.", machte mein Bruder. Er war ganz begeistert von dem Eis in seiner Hand. „Kannst du es auch schneien lassen?" Kaum hatte er das gesagt, sanken weiße Schneeflocken auf ihn herab. Begeistert starrte er auf die Schneeflocken. In diesem Moment wirkte er wieder wie der kleine Lucius, den ich vor so vielen Jahren gekannt hatte.
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