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Kapitel 107

»Sieh dir das an!« Ungläubig starrte Samuel auf sein Handy. Neugierig schaute ich auf den Bildschirm. Es lief gerade ein Video, das eine Menschenmenge auf der Westminster Bridge zeigte. Einige von ihnen hielten Schilder in die Luft, andere schienen irgendetwas zu rufen. Allerdings hatte Samuel den Ton nicht angestellt.

»Was ist das?«, wollte ich stirnrunzelnd wissen.

Ein zufriedenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und zog sie langsam in die Höhe. »Das sind Menschen, die demonstrieren.«, erklärte er mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. Und da er mir das unbedingt hatte zeigen wollen, ging ich davon aus, dass sie zu unseren Gunsten demonstrierten. Mit nervös klopfendem Herzen lenkte ich meine Aufmerksamkeit erneut zu den Schildern, die die Menschen hochhielten.

Die Schilder leuchteten in den verschiedensten Farben und zeigten beinahe alle unterschiedliche Schriftzüge. »Menschenrechte für Mutanten!« hieß es auf einem Regenbogenschild. Eines zeigte eine Zeichnung von Personen, die im Kreis standen und einander an den Händen hielten. Unter ihnen waren Menschen sowie Mutanten zu erkennen.

Aber es war ein anderes Schild, das mich schlucken ließ. »Samuel, was soll das?«, fragte ich leise. Das Schild, auf das ich mich bezog, war schneeweiß. Natürlich wusste er sofort, welches ich meinte.

»Das ist ein Zitat aus deinem Interview.«, sagte er ruhig. »Und ich finde es ganz passend.«

»Passend?« Zweifelnd schüttelte ich meinen Kopf, während meine Augen auf dem Schriftzug verharrten. #IchbinFreya. Das hatte ich gesagt, um Abstand zu meiner Nummer zu nehmen, um zu verdeutlichen, einmal ein Mensch gewesen zu sein. Ich war keine Nummer, sondern ein Lebewesen. Vermutlich hatten die Demonstranten das genau aus diesem Grund gewählt. Um meine Aussage zu unterstützen.

»Gibt es auch eine Gegendemonstration?«, wollte ich wissen.

Samuel schüttelte den Kopf. »Bisher noch nicht. Aber ich gehe ganz stark davon aus, dass das bald kommt.« Dennoch konnte seine Freunde nicht getrübt werden. »Es verändert sich etwas. Und es beginnt mit den Leuten. Jetzt müssen wir nur noch auf das Ergebnis von Varyas Treffen mit ihrem Vater warten.«

»Ist sie schon weg?« Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie losgegangen war. Aber woher auch? Selbst, wenn sie hier war, bekam ich sie kaum zu Gesicht. Sie war lieber unter sich und hielt sich von den anderen fern.

Bestätigend nickte er. »Heute morgen hat Siebenundvierzig sie in die Stadt gebracht. Ich bin mal gespannt, ob Mr Melnikova überhaupt erscheint.«

»Ich bin mir sicher, dass er da sein wird.«, meinte ich und dachte an den Tag, an dem Varya, Lucius und ich aus Clausens Labor entkommen waren. Obwohl er zuerst geglaubt hatte, dass seine Tochter wieder ein Mensch war und ich ihm ansehen konnte, dass er sie vermisste, war ich mir sicher, dass er zumindest für ein Gespräch darüber hinwegsehen könnte, dass sie noch immer ein Mutant war.

»Hoffentlich geht alles gut.«, murmelte Samuel mit einem Hauch Nervosität. »Wir brauchen Mr Melnikova. Natürlich würden wir es auch allein durch den Druck der Bevölkerung auf die Politik schaffen können, aber direkt jemanden in der Politik zu haben, der uns unterstützt, steigert unsere Chancen erheblich, auch wirklich etwas zu bewirken. Oder zumindest ein wenig schneller.«

Urplötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein breit grinsender Elliot blickte uns aus gelb leuchtenden Augen entgegen. Euphorisch breitete er seine Arme aus. »Riecht ihr den Duft der Freiheit, Leute?«

Irritiert starrten Samuel und ich den Wolfsmutanten an. »Geht es dir gut?«, fragte Samuel skeptisch. Und obwohl das kaum möglich sein sollte, wurde Elliots Grinsen nur noch breiter.

»Mir ging es nie besser!«, erwiderte er. »All unsere Bemühungen sind nicht umsonst und endlich tut sich etwas!« Bezog er sich etwa auf die Demonstration, die Samuel mir gerade eben gezeigt hatte? Auch Samuel neben mir schien nicht ganz zu wissen, was er davon halten sollte. Als Elliot bemerkte, dass er immer noch in fragende Gesichter blickte, seufzte er. »Varya ist zurück.«, klärte er uns auf.

Augenblicklich erhellte sich meine Miene. Varya war zurück und Elliots Verhalten ließ darauf schließen, dass es gut gelaufen war.

Mit großen Augen sprang Samuel sofort auf und auf seine Lippen legte sich ein erleichtertes Lächeln. »Ich gehe davon aus, dass du von ihr bereits erfahren hast, wie es gelaufen ist.«

»Klar habe ich das.«, sagte der andere Mutant stolz grinsend. »Sie war zwar erst etwas überfordert, hat mir dann aber doch kurz gesagt, wie es war.« Es hätte mich ehrlich gesagt auch ein wenig gewundert, hätte sie von sich aus angefangen, ihm davon zu erzählen. Bestimmt hatte sie das alles sehr mitgenommen. Vermutlich war meine Kontaktaufnahme zu meinen Eltern ähnlich wie die zu ihrem Vater. Mit dem Unterschied, dass sie wahrscheinlich deutlich nervöser gewesen war als ich.

»Wo ist sie jetzt?«, wollte Samuel wissen.

»In der Küche.«, antwortete Elliot. Samuel fackelte nicht lange, sondern eilte direkt los. Ohne groß darüber nachdenken zu müssen, ging ich hinterher. Sobald wir in der Küche ankamen, bemerkte ich schnell, dass wir nicht die Einzigen waren, die von Varyas Rückkehr erfahren hatten. Mindestens fünf Mutanten tummelten sich hier und Varya befand sich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihr gefiel das offensichtlich überhaupt nicht.

»Hallo, Varya!«, grüßte Samuel sie und sie wirkte erleichtert, da sie sich nun nicht mehr mit den anderen Mutanten beschäftigen musste, die sie mit Fragen überhäuften. »Kommst du bitte in das Büro?« Eifrig nickte sie, da sie noch immer nicht gerne mit ihrer kaputten Stimme vor Leuten sprach. Also folgte sie Samuel, der mich mit einem kurzen Blick dazu aufforderte, ihm zu folgen. Weshalb gerade ich mitkommen durfte und die anderen nicht, war mir schleierhaft, wobei ich ohnehin davon ausging, dass Samuel ihnen bald berichten würde, sobald Varya es ihm erzählt hatte.

Doch ich würde mich nicht beschweren und so nahm ich es einfach hin. Schnell erreichten wir das Bürozimmer und ich schloss hinter mir die Tür. Beinahe schon aus Gewohnheit nahm Samuel auf dem großen schwarzen Drehstuhl hinter dem schweren Schreibtisch platz, sodass ich mir vorkam, als würde ich meinem Chef oder Schuldirektor gegenüberstehen. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen und behielt meine Gedanken für mich.

Varya und ich ließen uns auf den Sitzgelegenheiten auf der anderen Seite des Tisches nieder. Voller Erwartungen sah Samuel sie an und ohne ausgesprochene Aufforderung begann sie zu erzählen: »Mein Vater hat schon auf mich gewartet.« Wie gewohnt klang ihre Stimme rau und kratzig. Kurz schien sie zu überlegen, ob sie mehr ins Detail gehen oder nur das Wichtigste erzählen sollte. »Er ... wollte mich tatsächlich sehen und mit mir reden. Und entschuldigt hat er sich auch.« Sie brauchte nicht auszusprechen, weshalb er sich entschuldigt hatte. Das konnte ich mir auch so denken. Aber ob eine einfache Entschuldigung ausreichte, um wieder gut zu machen, dass er seine eigene Tochter verjagt und ihr angedroht hatte, sie zu erschießen? Doch ich konnte auch sehen, dass Varya erleichtert war und die Entschuldigung ihr wirklich etwas zu bedeuten schien. Außerdem war es ihre Sache. Da würde ich mich nicht einmischen.

»Bevor ich ihm dann gesagt habe, weshalb ich gekommen war, haben wir erst einmal über belanglose Themen gesprochen.«

»Und? Wie lief das?«, fragte ich vorsichtig. Bei meinen Eltern fiel mir das schwer und ihnen ebenso.

Varya zuckte mit den Schultern. »Gut, glaube ich. Jedenfalls war er dieses Mal unbewaffnet.« Sonderlich überzeugend klang das auf mich nicht gerade.

»Und sonst?« Zwar versuchte Samuel seine Aufregung zu unterdrücken, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Unruhig saß er auf seinem Stuhl und musste sich sichtlich zwingen, ruhig sitzen zu bleiben.

»Er hat sich angehört, weswegen ich gekommen bin und hat sich entschieden, uns zu helfen.«, antwortete Varya.

»Hat er dir auch gesagt, wie?«

»Na ja, er möchte unser Anliegen im Parlament vortragen und die anderen Politiker von unserer Sache überzeugen. Mehr weiß ich auch nicht.«, meinte sie unsicher. »Außerdem sagte er, dass sich bald die ersten Extremisten erheben könnten, die sich gegen uns stellen werden. Und das könnte alles ein bisschen schwieriger gestalten.«

Nachdenklich nickte Samuel. »So etwas hatte ich mir schon gedacht. Aber großartig werden wir dagegen nichts unternehmen können, als einfach weiter zu machen. Wir können nur hoffen, dass es nicht zum Blutvergießen kommt.«

»Glaubst du wirklich, dass -«, wollte ich meine Frage formulieren, doch wurde von ihm unterbrochen.

»Dass manche Menschen so weit gehen würden?« Beinahe schon spöttisch zog sich seine Augenbraue in die Höhe. »Natürlich, Freya. Du weißt doch wohl genau wie ich, wie weit manche Menschen gehen würden, um ihre Prinzipien und Überzeugungen zu verteidigen. Und manche tun es einfach aus Angst, weil sie uns und die mit uns verbundenen Veränderungen fürchten. In mancher Hinsicht können Menschen genauso Monster sein, wie wir.«

Natürlich wusste ich von den Grausamkeiten, die Menschen uns Mutanten antaten. Dies reichte von abschätzigem Verhalten bis hin zum Erschießen der eigenen Kinder. Aber ob sie auch zu solchen Taten imstande wären, geschehe dies in aller Öffentlichkeit? Das Ärgste, was Menschen Mutanten bisher in der Öffentlichkeit angetan hatten, waren wüste Beschimpfungen. Ich wusste, dass viele Menschen schlecht und gewaltbereit waren. Ich traute ihnen vieles zu. Aber in solch einem Ausmaß? Hoffentlich würde das Ganze nicht derart eskalieren, wie Samuel es glaubte.

»Und Freya? Eigentlich meinte ich mit dem Blutvergießen, dass Menschen sich gegen Menschen wenden werden.«, sagte er.

Ungläubig sah ich ihn an. »Gegen Menschen?« Das einzige Mal, dass ich gesehen hatte, wie Menschen anderen Menschen wegen uns Schaden zugefügt hatten, war, als die Regierungsagenten unser Haus in Flammen setzten und Aldric starb, während Audra weggesperrt worden war.

»Ja, Menschen.«, bestätigte er ruhig. »Menschen können genauso gut gegen andere Menschen hetzen, wie gegen uns. Außerdem laufen sie dann nicht Gefahr, sich gegen einen Mutanten mit überlegenden Fähigkeiten behaupten zu müssen. Diese Hemmung fällt erst, wenn sie sich sicher sind, dass der Mutant sich nicht wehrt oder sie die Oberhand haben. - Wir können nur hoffen, dass die folgenden Demonstrationen, egal ob für oder gegen uns, friedlich verlaufen.«

So, wie er das sagte, klang es bereits, als habe er eine Ahnung, in welche Richtung das Ganze schwenken würde. Und ihm gefiel diese Vorstellung nicht. Was würde der friedliebende Samuel tun? Ich war mir sicher, dass er schon bald einen von uns – wahrscheinlich nicht mich – auf eine dieser Demonstrationen schicken würde. Wenn es gerade dann zur Gewalt kommen würde, wenn er selbst vor Ort wäre; wie würde er handeln? Ich hatte ihn noch nie in Aktion gesehen. Würde er sich bloß verteidigen oder auch mal zurückschlagen? Oder würde er sich dem ganz entziehen? Obwohl ich nicht hoffen sollte, dass es so weit kam, wünschte sich ein kleiner Teil in mir, die Antwort zu erfahren.

»Und Freya?« Samuels Blick war ganz und gar ernst.

»Ja?«

»Ich denke, dass du schon bald zum Handeln kommst.«, eröffnete er mir. »Sobald in den Medien bekannt wird, dass sich einige Politiker auf unsere Seite stellen – oder, dass unsere Situation überhaupt im Parlament diskutiert wird. Dann solltest du auf der Bildfläche erscheinen.« Wieso nicht eher? Da ich allerdings wusste, dass eine Diskussion bezüglich dieses Themas mit Samuel zu nichts führen würde, beließ ich es bei einem knappen Nicken.

»Keine Sorge.«, meinte Samuel, dem meine gedrückte Stimmung nicht entgangen war. »Es dauert vermutlich nicht mehr lange.« Das hoffte ich doch. So langsam war ich das tatenlose Herumsitzen und seine ständigen Vertröstungen leid. Es waren Wochen vergangen. Wochen, in denen ich immer wieder gebeten wurde, noch ein wenig zu warten. Dann noch ein wenig und schließlich noch ein wenig mehr. Ich war es so satt.

Mehrmals schon hatte ich mir gewünscht, einfach mit Kieran gegangen zu sein. Auch, wenn mich die Aussicht auf die Front alles andere als reizte, so tat er doch immerhin etwas Sinnvolles. Er trug zur Verbesserung bei. Er war nützlich. Was auch immer er gerade tat. Wie auch immer er es tat.

Aber vielleicht war es auch besser, dass ich nicht dort war, wo Kieran war. »Dann müssen sie vor mir mehr Angst haben.« An diese Worte erinnerte ich mich zu gut. Und ich wusste, wie gewissenlos und gleichgültig er sein konnte. Ich konnte nur hoffen, dass er im Krieg nicht zu einem Monster wurde. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, zu was er in der Lage war, um zu bekommen, was er wollte.

Wusste Samuel, zu welchen Methoden Kieran greifen könnte oder sogar wollte? Wüsste er es, hätte er sich garantiert geweigert, ausgerechnet Kieran zu den Mutantensoldaten gehen zu lassen. Immerhin kollidierten ihre Ansichten extrem miteinander. Sie waren so unterschiedlich wie Krieg und Frieden.

Aber auch Kierans friedlicher Lösungsansatz wollte mir nicht gefallen: »Erfülle ihnen diesen Wunsch oder lass sie glauben, dass du ihn erfüllen kannst und sie gehören dir.« Das war manipulativ und diente allein dazu, die Soldaten auszunutzen. Das waren die Methoden der Regierung. Hätte ich Kieran Vorgehensweise ändern können, hätte ich mich dazu entschieden, ihn zu begleiten? Vermutlich nicht. Niemals würde Kieran etwas tun, hinter dem er nicht selbst stand.

»Worüber denkst du so angestrengt nach?«, wollte Samuel interessiert wissen.

»Über Kieran.«, antwortete ich. »Es sind so viele Wochen vergangen, ohne dass ein Wort von ihm oder dem Militär nach außen gelangt ist.«

Bei der Erwähnung des Chamäleon-Mutanten verfinsterte sich kaum merklich sein Gesicht. Doch die Regung war so minimal, dass ich sie mir auch hätte einbilden können. Dabei hatten Kieran und Samuel nicht sonderlich viel Zeit miteinander verbracht, in der kurzen Zeit, in der Kieran hier gewesen war. Aber vermutlich hatten die wenigen Aufeinandertreffen und Gespräche ausgereicht, um ihnen beiden zu verdeutlichen, wie unterschiedlich sie waren und dass ihre Ideale einfach zu gegensätzlich waren.

»Mach dir keine Sorgen.«, sagte er mit kalter Gelassenheit. »Soweit ich das beurteilen kann, ist Kieran effizient.« Effizient? So würde ich eher eine Maschine bezeichnen, als ein fühlendes Lebewesen. »Vielleicht ist das auch ein gutes Zeichen, dass es weiterhin so still um das Militär ist. Das bedeutet, dass immerhin kein Chaos ausgebrochen ist. Oder dass dies zumindest nicht nach außen dringen soll, weil sie das intern regeln wollen. Kieran kommt damit klar. Unkraut vergeht nicht.« Den letzten Satz murmelte Samuel so leise, dass ich ihn beinahe nicht verstanden hätte. Ungläubig starrte ich ihn an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Was zur Hölle war bitte zischen den beiden vorgefallen? Bisher war er immer professionell gewesen und nichts hatte ihn aus der Fassung bringen können. Diese offene Ablehnung verstörte mich, denn sie wollte so gar nicht zu Samuel passen.

Doch ich behielt meine Gedanken für mich. Das war eine Sache zwischen Samuel und Kieran. Mich ging das nichts an und ich war auch nicht hier, um Samuel ins Gewissen zu reden. Immerhin wusste ich, dass Kieran speziell und seine fehlende Moral ein großes Problem war.

Für ihn war das Thema wohl auch beendet, denn er wandte sich wieder Varya zu, die die ganze Zeit über still auf ihrem Stuhl gesessen hatte, sodass man auch hätte vergessen können, dass sie überhaupt anwesend war.

»Hast du die Nummer deines Vaters? Ich würde mich gerne mit ihm in Kontakt setzten.«, sagte er, woraufhin sie schnell nickte, einen Zettel aus der Hosentasche hervorkramte und ihn überreichte. Kurz flogen Samuels Augen über das Geschriebene, dann nickte er. »Gut. Dann werde ich mich mal um die Zusammenarbeit kümmern.« Mit diesen Worten wies er uns indirekt an, ihn allein zu lassen.

Es dauerte nur ein paar Tage, ehe auch der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass im Parlament Politiker saßen, die sich für uns einsetzten. Und das stieß die Debatte über das weitere Vorgehen bezüglich der Mutantennoch einmal mehr an.

Immer öfter bezogen die Menschen öffentlich Stellung und immer öfter kam es zu Demonstrationen. Für sowie gegen die Mutanten. Glücklicherweise lief bisher alles relativ friedlich ab. Und ich glaubte schon, dass Samuel sich geirrt hatte und dass alles gut gehen würde. Bis auf wenige Ausschreitungen in Form von kleinen Prügeleien und eingeschlagenen Fenstern gab es keine Auffälligkeiten.

Auch in der Politik wurde weiterhin hitzig diskutiert und Mr Melnikova, Varyas Vater, zog nach und nach mehr seiner Kollegen auf seine Seite.

Ebenso erlaubte sich auch Mrs Campbell keine Pause. Von Samuel war ihr eine weitere Akte überreicht worden. Elliot hatte sich recht schnell entschieden, mit ihr vor der Kamera zu sprechen. Anders als Siebenundvierzig und ich war er ganz und gar nicht zurückhaltend. Als ich sein Interview wenig später im Fernsehen sah, kam es mir so vor, als habe er mir seine gesamte Kindheit erzählt und auch als er über seine Zeit bei Ambrosia sprach, füllte er das alles mit mehr Details, als mir lieb war.

Aber den Menschen gefiel das. Im Fernsehen wirkte Elliot offen und freundlich. Beinahe schon herzlich. Da übersahen die Leute auch gerne mal seine gelben Augen und die Krallen. Außerdem hatte er das Glück, dass sich seine Zähne nur verlängerten und spitzer wurden, wenn er es wollte. Somit wirkte er auf die Menschen deutlich weniger befremdlich als ich. Sie fanden ihn sympathisch.

Aber im Gegensatz zu mir hatten sie auch nicht gesehen, wie bedrohlich er aussehen konnte, wenn er wütend wurde. Wie stark er war und wie leicht es ihm fallen würde, einen von ihnen zu verletzen oder gar zu töten. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte er mit einigen anderen Mutanten Jagd auf die Jäger gemacht. Und als ich gemeinsam mit meinem Bruder hier bei ihnen aufgetaucht war, hätte er Lucius beinahe angefallen.

Doch das wussten die Menschen nicht. Sie sahen nur, was Elliot sie sehen lassen wollte. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie gut er sich verstellen konnte. Aber ich konnte schließlich auch nicht behaupten, dass ich ihn wirklich kannte. Immerhin hatte ich auch noch nicht richtig mit ihm gesprochen.

Und dann kam endlich der Tag, den ich schon so lange herbeigesehnt hatte. Gelangweilt saß ich mit Audra auf dem Sofa. Wir beide waren jeweils in ein Buch versunken, als Samuel geradewegs auf mich zu marschierte. »Mrs Campbell hat angerufen.«, kam er auch direkt zur Sache.

Aufmerksam legte ich das Buch beiseite und schaute zu ihm auf. Ich konnte mir nur zwei Dinge vorstellen, weshalb sie wegen mir angerufen haben könnte. Entweder wollte sie ein weiteres Interview haben oder aber sie wollte mich auf einer Demonstration sehen. Dabei hoffte ich stark auf letzteres.

»Was wollte sie?«, fragte ich und schaffte es, meine Aufregung hinter einer Maske aus Gelassenheit zu verstecken.

»Für heute Mittag ist eine Demonstration angemeldet worden. In London am London Eye. Soweit Mrs Campbell es in Erfahrung bringen konnte, wird das vermutlich die bisher größte Demonstration sein. Und laut ihr ist es Zeit, dass du dich persönlich in der Öffentlichkeit zeigst. - Du musst auch keine Rede halten. Deine bloße Anwesenheit würde ausreichen, um deine Unterstützung auszudrücken und den Menschen zu zeigen, wofür sie demonstrieren. Vielleicht werden sich ein paar Leute mit dir unterhalten wollen. Aber mache dir keinen Kopf. Das schaffst du schon. Du musst einfach nur nahbar wirken.«, informierte Samuel mich.

»Alles klar.« Nach außen hin zeigte ich mein Lächeln, wirkte ruhig, während ich innerlich in Hochstimmung war und neuer Tatendrang jeden Zentimeter meines Körpers durchströmte. Endlich konnte ich etwas unternehmen! Endlich war ich nicht mehr nutzlos!

»Du wirst allerdings nicht allein gehen. Elliot und Siebenundvierzig werden dich begleiten. Immerhin wurden sie genau wie du im Fernsehen gezeigt. Enya wird selbstverständlich auch dort sein und sich im Hintergrund aufhalten. Und ich werde auch mitkommen, aber mich genau wie Enya zurückhalten.«, erklärte er.

Überrascht hoben sich meine Augenbrauen. »Du kommst mit?« Seit ich hier war, war Samuel kein einziges Mal mit den anderen gegangen, wenn diese sich auf ihre Missionen begaben. Immerzu war er hier geblieben und hatte von hier aus alles überwacht und geplant. Seine Entscheidung, mitzukommen, löste in mir ein beklemmendes Gefühl aus, denn das bewies, dass es langsam ernst wurde.

Aber wie stellte Samuel sich das vor? Er fiel auf. Wahrscheinlich sogar genauso sehr wie ich. Seine Haut hatte eine andere Beschaffenheit als die, eines Menschen. Sie war rau und hellgrau. Hinzu kamen seine vollkommen schwarzen Augäpfel, die Kiemen an seinem Hals und seine vielen spitzen Zähne. Auf die Menschen würde er alles andere als harmlos und friedlich wirken.

Wenn Samuel wollte, konnte er durchaus wie das Böse auf Erden erscheinen, was ziemlich ironisch war, wenn man erst einmal wusste, wie sehr er die Gewalt verabscheute.

Er schien meinen ungläubigen Blick zu bemerken, denn er lachte leise auf. »Sieh mich nicht so an. Das ist nicht das erste Mal, dass ich mich unter die Menschen mische. Und bisher hat es immer gut geklappt, auch wenn es bei mir selbstverständlich nicht so einfach ist, wie beispielsweisebei Sanya. Man darf nur meine Haut und mein Gesicht nicht sehen.«

»Im Winter wäre das machbar.«, erwiderte ich skeptisch. »Aber wir haben Sommer, Samuel. Wie willst du deine Haut verstecken? Auf Dauer fällt ein langer Mantel auf, der deine Haut und dein Gesicht verdeckt.« Das wusste ich schließlich selbst zu gut. Außerdem gab es immer irgendwen, dem es gelang, einen Blick unter die Kapuze zu werfen. Und wenn es nur ein Kind war. Ein menschliches Kind, das Samuels Anblick nicht gewohnt war, würde ohne Zweifel vor Angst aufschreien.

»Ich mache das nicht zum ersten Mal.«, wiederholte er nur mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Doch das änderte nichts daran, dass man ihn entdecken könnte. »Und selbst, wenn etwas schiefgehen sollte: Wir sind am London Eye. Die Themse ist direkt dahinter. Im Notfall springe ich einfach in den Fluss.« Beinahe beiläufig tippte er sich an die fünf Schlitze an seinem Hals, die seine Kiemen darstellten. Und erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass er vermutlich unter Wasser atmen konnte. Schon vor langer Zeit hätte er einfach ins Meer springen und nach Spanien schwimmen können. Für ihn wäre es kein Problem gewesen, das Land zu verlassen. Immerhin konnte er die Grenzkontrollen ganz einfach umgehen. Schon längst hätte er sich ein neues Leben aufbauen können. Ein ruhiges, friedliches Leben. Aber er hatte sich dafür entschieden, hier zu bleiben und für uns zu kämpfen, anstatt nur sich selbst zu retten.

»Du bist unglaublich.«, murmelte ich mehr zu mir, als zu ihm. Er antwortete mit einem weiteren Lächeln und sagte nichts. »Wann geht's eigentlich los?«

»In zwei Stunden sind wir in London. Wir sollten also recht bald los, damit wir frühzeitig da sind und die Gegend sowie die Leute einschätzen können. Es wird Polizei vor Ort sein und ich gehe ganz stark von einer Gegendemonstration aus.«, sagte er. »Aber die letzten Demonstrationen sind bis auf wenige Ausnahmen friedlich verlaufen. Ich glaube nicht, dass wir großartig etwas zu befürchten haben. Vielleicht ein paar kleinere, aber größtenteils harmlose Prügeleien. Ich glaube nicht, dass es heute sonderlich anders laufen wird als die letzten Male.« Also gab es nichts zu befürchten. Hatte er deshalb auf Mrs Campbells Bitte, mich dort zeigen zu lassen, eingewilligt? Außerdem kam er auch selbst mit. Und das bedeutete doch nun wirklich, dass er von einem friedlichen Verlauf ausging.

Dass es wirklich so friedlich bleiben würde bezweifelte ich spätestens, als wir einsam und allein in einer Gasse standen und zu dem Platz des London Eyes spähten. Noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen an einem Ort versammelt gesehen. Man hatte sie schon lange zuvor gehört, bevor man sie überhaupt erst gesehen hatte. Lautes Geplapper, vereinzelte Rufe. All das verschmolz zu einem unverständlichen Rauschen, aus dem man kein einziges Wort heraushören konnte.

Anders als mit Lucius und Bill hatten wir uns nicht mithilfe eines umgebauten Autos auf den Weg nach London gemacht. Stattdessen waren wir von Schatten zu Schatten geschlichen, hatten uns an Häuserfassaden hochgezogen und waren über die Dächer gehuscht. Zu unserem Glück hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, als wolle er die Erde ertränken lassen. Die Wolken, die die Welt verdunkelten, kamen wie gerufen. Beides zusammen gab uns die Deckung, die wir brauchten. Niemand blickte nach oben. Niemand bemerkte die Gestalten, die sich auf Londons Dächern bewegten, auf den Weg in die Stadt hinein.

Tatsächlich kam ich mir währenddessen vor, wie in einem Film und es war genauso absurd wie aufregend. Ich genoss den harschen Wind auf meinem Gesicht, der mir den Regen entgegen blies. Ich genoss das Adrenalin, das durch jeden Winkel meines Körper strömte. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so frei gefühlt. Noch nie zuvor hatte ich mich so frei in einer Stadt voller Menschen bewegen können.

Außerdem kam noch hinzu, dass ich endlich etwas tun konnte. Das lange Warten hatte ein Ende gefunden. Die ganzen vergangenen Tage voller Zurückhaltung und Trägheit gehörten nun der Vergangenheit an.

Und obwohl ich Angst hatte, vor dem was auf mich zukommen würde, überwog die Entschlossenheit. Noch nie zuvor hatte ich vorgehabt, mich vor einer Menschenmenge zu offenbaren. Schon gar nicht einer solch großen Menschenmenge. Es wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Aber jetzt? Zum aller ersten Mal wusste ich nicht, wie die Menschen auf meine Anwesenheit reagieren würden. Bisher waren sie mir meist mit Furcht und Abscheu gegenübergetreten. Nur gab es jetzt einen Unterschied: Diese Menschen hier waren für uns Mutanten.

»So viele!«, hauchte Elliot, der neben mir stand. Sein Blick war allein auf die große Menschenmasse gerichtet. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. Der Platz schien beinahe schon zu klein zu sein, ob so viele Menschen zu beherbergen.

Samuel hatte sich kurz bevor wie hier angekommen waren, von uns getrennt, sodass man ihn nicht mit uns in Verbindung setzen würde. Schließlich wollte er die Situation ungestört beobachten und notfalls einschreiten. Enya sei ebenso bereits hier, hatte er noch gesagt, bevor er verschwunden war. Aber in dem Gewühl aus Menschen hatte keiner von uns sie bisher entdecken können. Auch Samuel war wie vom Erdboden verschluckt. Wie ich es erwartet hatte, trug er Kleidung, die für diese Jahreszeit viel zu warm war. Er hatte sich einen schwarzen Kapuzenpulli übergestreift, dessen Kapuze er so tief in sein Gesicht gezogen hatte, dass davon nur noch Schatten zu sehen waren. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben.

Ich dagegen trug wieder einmal einen langen Mantel, dessen Kapuze auch mein Gesicht verdeckte. Nur würde ich die nicht mehr lange aufhaben. Es war nämlich geplant, dass ich sie lüften würde, sobald ich mich unter die Menschen gemischt hätte.

»Bekommst du jetzt etwa Angst?«, spottete Siebenundvierzig. Sie schien genau so gelassen wie eh und je. Aber alles andere hätte mich tatsächlich auch gewundert.

»Mach dich nicht lächerlich.«, knurrte Elliot.

Lieb lächelnd zuckte sie mit ihren Schultern. »Hätte ja sein können, dass dir die vielen Menschen Angst machen.«, meinte sie unschuldig, doch ihr kleines böses Lächeln konnte sie nicht verbergen.

Elliot seufzte bloß. »Es sind nicht die Menschen. Mit denen komme ich klar. Es ist die Situation. Wir müssen ruhig und freundlich bleiben. Laut Samuel lassen wir uns besser nicht provozieren und verhalten uns friedlich, egal was kommt. Das ist es, was mir Sorgen bereitet. Ich bin doch kein Schoßhund.«

»Aber ein Schoßwolf.«

»Deine Witze waren schon einmal besser, Siebenundvierzig.« Kopfschüttelnd wandte er sich von ihr ab und ließ seinen Blick wieder über die unzähligen Menschen schweifen. All der Regen, der lautstark auf sie niederprasselte, schien ihnen nichts auszumachen.

»Wir sollten gehen.«, mischte ich mich nun trocken ein.

»Was?« Verwirrt schwenkte Siebenundvierzigs Aufmerksamkeit zu mir. »Gehen? Etwa zurück?«

Doch ich deutete mit einem leichten Kopfnicken zur Menge. »Nein. Zu ihnen. Es bringt nichts, es weiter hinauszuzögern.«

»Da muss ich ihr recht geben.«, pflichtete Elliot mir bei. »Lasst es uns hinter uns bringen.« Gemeinsam traten wir aus dem Schatten der Gasse und reihten uns in den Strom aus Menschen ein. Wie das Meer umschlossen sie uns, nahmen uns in ihrer Strömung auf und erschwerten uns das Vorankommen.

»Noch ein bisschen weiter.«, murmelte Siebenundvierzig, während wir uns an Körpern vorbeischoben und uns langsam in die Mitte vorwagten. Dabei mussten wir immer wieder vorbei schwenkenden Schildern ausweichen. Jedoch erwischte eines davon Siebenundvierzig am Kopf. Genervt drehte sie sich zu dem Menschen um, zu dem es gehörte.

»Oh, 'tschuldigung!«, kam es sofort von dem Mädchen, das ich auf nicht älter als vierzehn Jahre schätzte. Ihr Gesicht nahm die Farbe von Tomaten an. »Alles gut?«

Elliot warf Siebenundvierzig einen warnenden Blick zu. Wir durften keinen negativen Eindruck machen. Dementsprechend musste sie sich zurückhalten. »Ja, ja. Kein Problem.«, winkte Siebenundvierzig betont unbeeindruckt ab.

Erst sah das Mädchen aus, als wollte es noch etwas sagen, doch dann erstarrte sie. Ihre Augen verharrten auf Siebenundvierzig. »Dich habe ich schon einmal gesehen. Du bist eine Mutantin. Siebenundvierzig, richtig?« Ihre Augen weiteten sich, als sie nun auch Elliot und mich neben ihr bemerkte. Das Mädchen verstummte augenblicklich.

Für einen Augenblick erwartete ich schon, dass sie anfangen würde, eine Warnung zu schreien. Reflexartig spannte sich mein Körper an und meine Wachsamkeit erhöhte sich.

»Oha.«, machte das Mädchen, sobald es seine Stimme wiedergefunden hatte. »Das ist ja der Wahnsinn. Darf ich deine Schuppen mal anfassen?«

Ihre Frage fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Irritiert blinzelte ich. »Wie bitte?« Verlegen lächelte unser Gegenüber und deutete noch deutlich verlegener auf ihr Schild. Erst jetzt nahm ich es näher in Augenschein. Auf weißem Hintergrund war eine Zeichnung von mir zu sehen. Rechts daneben war der Schriftzug #IchbinFreya zu erkennen.

»Als ich dich im Fernsehen gesehen habe, war es das erste Mal, dass ich mich wirklich mit euch Mutanten beschäftigt habe.«, gab sie etwas beschämt zu. »Aber dann habe ich mehr über das, was du gesagt hast, nachgedacht.« Und was hatte das damit zu tun, dass sie meine Schuppen berühren wollte? Nur weil ich keine normale Haut mehr hatte, bedeutete das doch auch nicht, dass ich ihr einmal über den Arm streichen musste. Aber wahrscheinlich war das einfach die menschliche Neugier dem Unbekannten gegenüber. Ich musste ihr wie eine Attraktion vorkommen.

So gerne ich einfach aus Prinzip abgelehnt hätte, musste ich doch einsehen, dass ich meinen Stolz zumindest heute ein wenig zurückstellen musste. Wir waren hier, um den Menschen zu zeigen, dass wir keine Bedrohung darstellten. Wir mussten nahbar und gewöhnlich wirken. Zumindest so weit es eben möglich war.

Also reichte ich ihr meine Hand. »Freya.«, stellte ich mich vor und umging somit die seltsame Situation, die sich uns ganz sicher eröffnet hätte, hätte ich ihr einfach meinen Arm hingehalten, damit sie mal über meine Schuppen streichen konnte. »Aber das weißt du ja schon.«

Erneut weiteten sich ihre Augen. Dieses Mal aus Erstaunen. Ein freudiges Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie neugierig meine Hand nahm und sie schüttelte. »Ella.«, sagte sie. Glücklicherweise verzichtete sie darauf, mir zu mitzuteilen, wie seltsam sich meine Haut anfühlte.

»Ich glaube, du kannst deine Kapuze jetzt abnehmen.«, meinte Siebenundvierzig beiläufig. Daraufhin lüftete ich meine Kapuze, während Elliot seine Sonnenbrille abnahm, die seine gelben Augen verborgen hatte. Außerdem achtete er auch nicht mehr darauf, seine Hände mit den Krallen zu verstecken.

Natürlich zog unser Aussehen sofort die Aufmerksamkeit auf uns. Vor allem meine hellen Schuppen fielen auf. Schlagartig wurde es um uns herum still. Ich konnte zahlreiche Augenpaare auf mir spüren und das gefiel mir ganz und gar nicht, obwohl ich das eigentlich sogar bereits erwartet hatte. Da sollte man doch meinen, dass ich mich darauf längst eingestellt hatte.

Um die unangenehme Stille um uns herum zu durchbrechen, begann Ella einfach mit uns zu reden. »Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich euch jemals treffen werde.«, gab sie gut gelaunt zu.

»Na ja, wir können ja nicht dich die ganze Arbeit machen lassen und von unserem Loch aus zusehen.«, entgegnete Elliot, woraufhin Ellas Augen groß wurden.

»Ihr wohnt in einem Loch?«, kam es ganz entsetzt von ihr.

»Nein. Hör nicht auf ihn, er überspitzt alles gerne.«, winkte Siebenundvierzig ab.

»Oh.« Ihr war das sichtlich peinlich.

»Wann bitte überspitze ich etwas?«, erkundigte sich Elliot irritiert.

»Vorhin zum Beispiel.«, kam prompt die Antwort. »Wenn du nicht gerade schlecht gelaunt bist, bist du so gut gelaunt, dass es schon beinahe unheimlich ist.«

»Jetzt übertreibst du aber.« Er schüttelte seinen Kopf. »Jetzt bin ich weder schlecht gelaunt, noch unheimlich gut gelaunt.«

»Überraschenderweise schlägst du heute den Mittelweg ein.«, meinte Siebenundvierzig daraufhin.

Als ich einen kurzen Blick zu Ella warf, stellte ich fest, dass sie die beiden aus geweiteten Augen beobachtete. Das Mädchen war auch wirklich leicht zu beeindrucken. Wobei ich jetzt noch nicht einmal sagen konnte, was diese Konversation so beeindruckend machte. Allerdings erhielt ich da auch schon die Antwort.

»Ihr beide verhaltet euch genau so wie meine beste Freundin und ihr Bruder.«, stellte sie erstaunt fest. »Ich weiß, nach euren Interviews und der Tatsache, dass ihr mal Menschen gewesen seid, sollte mich das nicht wundern. Aber es überrascht mich trotzdem.« Sie sah so aus, als wollte sie sich wieder entschuldigen, doch sie hielt ihren Mund.

»Wie Geschwister, hm?« Skeptisch runzelte Siebenundvierzig die Stirn. »Dann bist du aber der kleine Bruder.« Als sie das sagte, stieß sie Elliot mit dem Ellenbogen in die Seite. Der zuckte zusammen.

»Wieso das denn?«, empörte er sich.

»Ist es nicht offensichtlich? Ich bin älter als du. Also fang gar nicht erst an zu diskutieren.«, erklärte sie trocken. Und wie ich die beiden so beobachtete, kam ihr Verhalten dem von Geschwistern tatsächlich sehr nahe. Mit einem Mal vermisste ich meinen Bruder. Nicht den Lucius, der er jetzt war. Sondern den, der er einmal gewesen war. Als wir Kinder gewesen waren, hatten wir uns gut verstanden. Es machte mich innerlich fertig, dass wir niemals mehr die Chance haben würden, jemals wieder eine solch enge Beziehung wie damals aufzubauen. Nicht, nachdem Lucius mich verraten hatte. Genau wie ich hatte er diesen Wunsch gehabt. Doch mit seinen Handlungen hatte er alles zerstört. Weil er den falschen Weg eingeschlagen und das Vergangene nicht hatte loslassen können. Er hatte sich geweigert, die Realität zu akzeptieren.

Die Stille war gebrochen. Leise erklangen die Stimmen der anderen Menschen wieder, doch ihre Aufmerksamkeit lag noch immer auf uns. Noch war niemand so mutig wie Ella, um mit uns zu sprechen. Aber ich verurteilte niemanden deswegen. Es war etwas anderes, für Mutanten zu sprechen, ohne jemals wirklich mit einem zu tun gehabt zu haben, als jetzt tatsächlich einen vor sich zu haben. Alte Denk- und Verhaltensweisen waren schwer abzulegen, wenn man direkt mit ihnen konfrontiert wurde.

Es war ein alter Mann, der als erstes seine Bedenken überwand. Vorsichtig kam er auf Siebenundvierzig, Elliot und mich zu. Als er schließlich bei uns angelangt war, kratzte er sich unsicher am Kopf. »Es tut mir wirklich leid, was man euch angetan hat. Und es tut mir sehr leid, wie ihr behandelt worden seid. Das war nicht richtig.«, sagte er leise. »Ich weiß, dass eine einfache Entschuldigung nichts davon wieder geradebiegen wird.«

»Aber dafür sind Sie ja jetzt hier.«, sagte Ella lächelnd an unserer Stelle.

»Hm. Ja.« Stirnrunzelnd sah er zu Ella, als wüsste er nicht, weshalb sie sich jetzt da einmischte und für uns antwortete. Ich wusste es ehrlich gesagt auch nicht. Aber was sollte ich auch großartig dagegen sagen?

Ehe der alte Mann auch noch einen Ton sagen konnte, wurde er von einem Jungen, den ich auf höchstens neun Jahre schätzte, beiseite geschoben. »Hier, schau mal!«, rief er und hielt stolz eine angemalte Stoffpuppe hoch. »Meine Schwester hat geweint, als ich sie angemalt habe!«

»Ah, okay.« Anscheinend war Siebenundvierzig von dem kleinen Jungen überfordert. 

Ich wusste wirklich nicht, was ich denken sollte. Das da in den Händen des Kindes war ganz offensichtlich mal eine ganz normale Stoffpuppe gewesen. Allerdings hatte er sie komplett weiß angemalt und Schuppen auf die Haut gekritzelt. Auch die Augen hatte er an meine angepasst. Oder es zumindest versucht. Denn ehrlich gesagt sahen die Augen der Puppe aus wie die Abgründe zur Hölle. Die Vampirzähne, die er ihr an den Mund gemalt hatte, machten es nicht besser. Außerdem hatte er der Puppe Zahnstocher in die Hände gerammt, die wohl Krallen darstellen sollten. Dabei hatte ich noch nicht einmal welche. Es ähnelte weniger mir und mehr einer Voodoo-Puppe. Es wunderte mich nicht, dass seine Schwester geweint hatte, als sie dieses Ungeheuer gesehen hatte, das ihr Bruder aus ihrer Puppe gemacht hatte.

»Hm. Schön.« Mehr fiel mir dazu wirklich nicht ein.

»Ja, nicht?« Aufgeregt funkelten die Augen des Jungen. »Das bist du!«

Elliot, der neben mir stand, verkniff sich ein Lachen. »Das sehe ich.«, meinte er und hüstelte.

»Boah!«, rief der Junge aus, als er Elliot sah und ohne Vorwarnung griff er nach seiner Hand. Elliot, der zu überrumpelt war, starrte den Kleinen einfach nur an, als wäre er ein Alien. Fasziniert betatschte das Kind Elliots scharfe Krallen. Es war wenig überraschend, dass er sich schnitt. Doch anstelle zu weinen oder ängstlich zurückzuweichen, grinste er nur noch breiter und schaute begeistert auf die Stelle seines Fingers, an der ein kleiner Tropfen Blut herausquoll. »Wahnsinn!«

»Äh.« Hilfesuchend blickte Elliot zu Siebenundvierzig, die nur ahnungslos mit den Schultern zuckte. So hatte ich mir den Tag definitiv nicht vorgestellt.

»Glühen deine Augen auch im Dunkeln?«, wollte der Junge entzückt wissen.

»Nun -« Elliot setzte zu einer Erklärung an, doch das Kind ließ ihn nicht.

»Ja oder nein?«, unterbrach er ihn. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Da wurde der große böse Wolf von einem Kind so verunsichert. Unglaublich. Elliot hatte keine Probleme gegen die Jäger zu kämpfen. Aber mit dem Jungen kam er nicht klar.

Zur Antwort verzichtete er nun auf eine Erklärung und ließ seine gelben Augen einfach aufglühen. Damit hatte er den Jungen glücklich gemacht. »Boah, cool! - Weißt du, wir haben einen Hund, aber der kann das nicht!«

»Ich bin doch kein Hund!«, empörte sich Elliot, doch der Kleine schenkte seinem Protest keine Beachtung.

»Ben hat vielleicht nicht glühende Augen wie du, aber er hat voll die spitzen Zähne!«, erzählte der Junge weiter.

»Ben ist dein Hund?«, harkte Elliot nach, woraufhin der Junge ihm einen Blick zuwarf, als sei er blöd.

»Ja, natürlich!«

Siebenundvierzig, die ihre Chance sah, beugte sich grinsend zu dem Kind hinunter. »Weißt du was? Elliot hier hat auch spitze Zähne.«

»Wahnsinn! Echt?« Sofort war der Junge wieder begeistert. Der Wolfsmutant warf Siebenundvierzig nur einen gequälten Blick zu, den sie getrost ignorierte.

»Ja, zeig doch mal, Elliot.« Grinsend drehte sie sich zu ihm um. Wenn Blicke töten könnten, würde sie längst nicht mehr unter den Lebenden weilen. Und ich musste feststellen, dass es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, gerade Siebenundvierzig und Elliot in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und hier her zu schicken. Ihr lockeres Verhalten und die kleinen Sticheleien würden auf die Menschen menschlich wirken.

Anders als ich, die einfach nur still hier stand und lieber beobachtete. Die beiden wirkten nahbar und ich war froh, dass sie das für mich übernahmen. Ohne sie wäre ich garantiert aufgeschmissen gewesen und die Menschen um uns nicht so entspannt.

»Muss das sein?«, beschwerte sich der Wolfsmutant, doch Siebenundvierzig erlöste ihn nicht.

»Willst du den Jungen etwa enttäuschen? Schau doch mal, wie er sich freut!« Sie hätte auch von einem Hund sprechen können, so wie das klang.

»Ja! Willst du mich enttäuschen?«, griff der Junge die Worte der Mutantin auf.

Elliot warf Siebenundvierzig einen finsteren Blick zu, doch ihm war bereits anzusehen, dass er aufgegeben hatte. Und so hockte er sich vor den Jungen, fletschte die Zähne, die zeitgleich begannen, sich zu verformen. Länger und spitzer.

Wo waren die Eltern des Kindes? Hatten die keine Bedenken hierbei?

Vor Begeisterung begannen die Augen des Jungen zu funkeln und er brachte kein Wort mehr heraus. Er war tatsächlich sprachlos. Zufrieden lächelte Siebenundvierzig, sagte jedoch auch kein Wort. Das Kind dagegen sah so aus, als hätte es gerade ein großartiges Geschenk bekommen.

Bevor Elliot auch nur reagieren konnte, hatte es auch schon wieder die Hand ausgestreckt und berührte mit dem Zeigefinger einen von Elliots spitzen Zähnen. »Sag mal, geht's noch?«, rief der und sprang sofort auf. »Das ist kein Spiel! Du hast dich doch vorhin schon geschnitten. Reicht dir das nicht?« Mal ganz abgesehen davon, dass man jemandem nicht einfach in den Mund griff.

Trotz der abrupten Bewegung schien der Junge nicht eingeschüchtert. Er ignorierte ganz einfach Elliots bösen Blick und wandte sich wieder mir zu. »Hier.«, sagte er und reichte mir die verunstaltete Stoffpuppe.

»Gehört die nicht deiner Schwester?«, fragte ich skeptisch.

»Ja. Aber sie will sie nicht mehr.« Er zuckte lächelnd mit den Schultern. »Immerhin hat sie mir sie weinend hinterher geworfen.« Wer solch einen Bruder hatte, brauchte keine Feinde mehr. Seine Schwester tat mir leid. Dennoch rang ich mir ein Lächeln ab, nahm die Voodoo-Puppe und bedankte mich.

Nun schenkte er auch endlich Siebenundvierzig seine Aufmerksamkeit. Diese sah so aus, als wäre sie schon auf das, was kommen würde, vorbeireitet. Überlegen lächelte sie. »Hm. Ne, du bist langweilig.«, sagte der Junge nach kurzem Überlegen, drehte sich um und ließ sie fassungslos zurück. Elliot lachte aus vollem Halse.

»Ach, sei still!«, zischte sie, doch er lachte nur noch lauter.

»Ich glaube, ich mag ihn doch!«, keuchte er atemlos.

»Schön für dich.«

»Och, bist du jetzt etwa beleidigt?« Amüsiert grinste er.

»Irgendwie erinnern sie mich an meine beiden Kinder.«, hörte ich von irgendwo ein leises Gemurmel.

»Also ist es wirklich wahr. So unterschiedlich sind wir gar nicht.«

»Sie waren einmal Menschen. Was hast du denn gedacht?«

»Unsere Gesellschaft kann nicht bleiben, wie sie ist. Wir können sie nicht weiter unterdrücken.«

Ein leises Lächeln umspielte meine Lippen. Das lief doch alles wunderbar.



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