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Kapitel 104

»So.«, sagte Jack und ließ die Kamera sinken. »Das war's dann.« Zeitgleich war ich erleichtert, aber auch besorgt. Hoffentlich hatte ich mich nicht falsch entschieden.

Mrs Campbell schien mir die Sorge anzusehen, doch falsch zu deuten. »Das wird schon.«, wollte sie mich aufmuntern. »Das hast du wirklich gut gemacht. Ich bin mir sicher, dass, wenn die Leute erst deine Seite der Geschichte hören und sehen, wie menschlich du dich verhältst, für euch sprechen werden.«

»Wir wissen nun schon seit so vielen Jahren von euch Mutanten.«, sagte Jack. »Und trotzdem habe ich bisher noch mit keinem einzigen gesprochen. Es überrascht mich selbst, wie sehr du uns ähnelst.« Als er meinen skeptischen Blick sah, schaute er verlegen weg. »Nun ja, abgesehen von deinen Schlangenschuppen, den Augen und deinen Fähigkeiten natürlich.« Er schenkte mir ein Lächeln, ehe er schlagartig erbleichte und sich nicht mehr zu rühren wagte. Als hätte man ihn in seiner Bewegung eingefroren.

»Jack?«, fragte Lily irritiert. Doch er antwortete nicht. Alarmiert drehte ich mich um und blickte in die Richtung, in die Jack zuvor gesehen hatte. Sofort sah ich auch, was Jack so erschrocken hatte. Vermutlich rechnete er mit einem Angriff oder dergleichen. Einige Meter von uns entfernt war Kieran – für Jack jedenfalls – wie aus dem Nichts aufgetaucht. Anscheinend sah er den Sinn dahinter, sich zu verstecken, nicht mehr.

Erstaunt blinzelte Mrs Campbell. »Ein Mutant.«, stellte sie überrascht fest.

»Ergehört zu mir.«, sagte ich, um klarzustellen, dass den dreien von Kieran keine Gefahr drohte.

Kopfschüttelnd lachte die Journalistin auf. »Du bist nicht allein gekommen.«, bemerkte sie.

»Natürlich nicht.«, erwiderte ich ohne jedes Gefühl von Scham. Als Mutant konnte man nie vorsichtig genug sein. Es wäre naiv gewesen, allein herzukommen. Das musste auch sie einsehen. Ich war ja schon überrascht genug, dass sie selbst allein und unbewaffnet erschienen war.

Stillschweigend kam Kieran auf uns zu und ich konnte nur zu gut beobachten, wie Jack und Lily sich anspannten. Offenbar behagte ihnen der Gedanke nicht, dass Kieran uns bereits die ganze Zeit über ungesehen beobachtet hatte. Und er konnte natürlich ohne gesehen zu werden überall auftauchen. Aber vielleicht war es nicht nur das. Wenn man ihn zum ersten Mal sah, wirkte er schon bedrohlich.

»Hallo, ich bin Octavia Campbell.«, stellte die Journalistin sich vor. »Aber ich denke, das weißt du bereits.«

»Kieran Roth.«, sagte Kieran knapp. Anders als ich hatte er keinerlei Bedenken, seinen vollen Namen zu nennen. Gab es überhaupt Familie, die er schützen wollte oder konnte? Ehrlich gesagt bezweifelte ich das. Schließlich war er viel zu jung gewesen, um sich überhaupt an die Gesichter seiner Eltern zu erinnern.

Aufgrund Kierans distanzierter Haltung runzelte Mrs Campbell kurz die Stirn, schien aber nicht weiter darüber nachzudenken, sondern sein Verhalten einfach der Tatsache zuzuschreiben, dass er berechtigterweise misstrauisch und vorsichtig war. Was natürlich auch zutraf.

»Hätte ich früher gewusst, dass du hier bist, hätte ich auch gerne mit dir vor der Kamera gesprochen. Aber wenn du magst, können wir das nachholen.«, bot sie an. »Ich würde gerne mehr erfahren. Und mit je mehr Mutanten ich sprechen kann, desto besser.« Sie war so euphorisch, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ihr Team nervös einen Schritt zurück trat. Wie konnte es sein, dass Kieran solch eine Wirkung auf sie hatte? Bei unserem ersten Aufeinandertreffen hatte ich es nicht so empfunden. Und Mrs Campbell schien auch nichts davon mitzubekommen.

»Nein.«, sagte Kieran kurz und entschieden. Eine Erklärung seiner Entscheidung schien er nicht als nötig zu empfinden. Enttäuscht nickte Mrs Campbell, doch sie akzeptierte das.

»Na schön. Solltest du dich anders entscheiden, höre ich dir gerne zu.«, bot sie an, woraufhin er bloß skeptisch eine Augenbraue hochzog. Ganz sicher würde er nicht mit ihr über seine Vergangenheit sprechen. Das tat er noch einmal wirklich mit anderen Mutanten. Und schon gar nicht würde er sich einem Menschen offenbaren.

Die Journalistin wandte sich wieder an mich. »Hier. Das ist meine Karte.«, sagte sie und reichte mir ein kleines weißes Kärtchen, auf dem ihre Kontaktdaten standen. »Falls du Fragen hast oder du dich entscheidest, weiter mit uns arbeiten zu wollen, kannst du mich jederzeit erreichen.«

»Danke.« Ich nahm die Karte entgegen.

»Ich würde mich freuen, wenn du dich melden würdest.«, sagte MrsCampbell lächelnd, ehe sie zu Kieran sah. »Ich schätze, wir sollen vor euch gehen, nicht wahr?«

»Das wäre besser.«, erwiderte dieser nur und sie nickte.

»Also schön.« Sie drehte sich zu ihrem Team. »Ab nach Hause. Morgen beginnen wir mit der Bearbeitung des Videomaterials.« Zeitgleich nickten Jack und Lily.

»Bis nächstes Mal!«, verabschiedete Jack sich gut gelaunt, wobei er Kieran allerdings noch einen zweifelnden Blick zuwarf. Lily winkte uns kurz zu, während Mrs Campbell Kieran und mich warm anlächelte und »Auf Wiedersehen!« sagte. In aller Ruhe wandte sie uns den Rücken zu und schlenderte mit ihrem Team über den Hof, in die entgegengesetzte Richtung, die wir anstrebten.

Still beobachtete ich, wie ihre Silhouetten immer kleiner wurden und sie schließlich hinter dem Bauernhaus verschwanden. »Was hältst du von ihnen?«, wollte ich von Kieran wissen. Schließlich hatte er sich dazu entschieden, sich zu offenbaren.

Für einen Augenblick schwieg er, als müsse er erst einmal seine Gedanken sortieren. Dann jedoch sagte er: »Ich glaube, sie sind vertrauenswürdig.« So weit Menschen das sein konnten. Diesen Teil sprach er zwar nicht aus, doch es stand ihm auf der Stirn geschrieben, was er darüber dachte.

»Ich hoffe, das stimmt.«, murmelte ich. Aber es würde noch ein paar Stunden oder gar Tage dauern, bis ich Gewissheit haben würde. Ab jetzt lag das Folgende nicht mehr in meiner Hand. Nachdenklich betrachtete ich die weiße Karte in meiner Hand, mit der feinen schwarzen Schrift. Mit ihrer Hilfe könnten wir Mrs Campbell ganz leicht finden. Und das wusste sie auch. Würde so jemand es wagen, uns zu hintergehen?

Kieran sprach mir nicht gut zu, nahm mir nicht meine Sorge. Natürlich nicht. Immerhin wusste er, was für ein Risiko wir hiermit eingegangen waren. »Komm, lass uns zurück zum Auto gehen.«, sagte ich seufzend und wollte mich schon in Bewegung setzen, als ich bemerkte, dass er keine Anstalten machte, mir zu folgen. Fragend drehte ich mich zu ihm. »Alles okay?«, fragte ich ihn.

Still und ernst stand er einige Meter von mir entfernt, ein düsterer Schatten in all dem Sonnenlicht. »Ich komme nicht mit.«, sagte er und seine Worte ließen mich erstarren. Nein! Er würde uns doch nicht etwa verlassen? Uns im Stich lassen? Mein Herz setzte für einen Moment aus, ehe es begann, heftiger zu schlagen, als normalerweise. Noch einen weiteren Verlust würde ich nicht ertragen können!

»Was?«, krächzte ich atemlos. Voller Unglaube starrte ich Kieran an, der mit unbeweglicher Miene, unnachgiebig wie ein Fels, vor mir stand. Nach all dem, was wir durchgemacht hatten. Nach all dem, was geschehen war. Wie konnte er uns jetzt zurücklassen? Jetzt, wo wir seine Hilfe am aller dringendsten benötigten?

Aber da war keine Reue, kein schlechtes Gewissen in seinem Blick. Mich schien mit einem Mal alle Kraft zu verlassen. Unsere zuvor so große Gruppe bröckelte mit der Zeit immer und immer weiter auseinander, bis schließlich nichts mehr von ihr übrig bleiben würde. Wie viel Zeit blieb uns noch?

»Ich komme nicht mit zurück.«, wiederholte Kieran mit ruhiger Stimme. »In diesem Haus bin ich nutzlos. In diesem Haus gibt es für mich nichts zu tun. Und ich habe lange genug gewartet und nichts getan. In diese Zeit möchte ich nicht zurückfallen.« Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu erwidern, doch er ließ mich nicht. »Spare dir deine Worte, Freya, denn sie werden mich nicht umstimmen. Bei den Severos bin ich untergetaucht, um auf den richtigen Augenblick zu warten. Der ist längst gekommen und ich werde nicht wieder so passiv werden, wie während meines Aufenthalts bei ihnen. Die Zeit ist gekommen.«

»Aber ...«, angestrengt suchte ich nach den richtigen Worten, doch sie entzogen sich mir, ehe ich sie auch nur greifen konnte. Mir fiel nichts ein, was ich ihm hätte sagen können, wie ich ihn hätte überzeugen können, dass er uns sehr wohl helfen konnte. Samuel würde bestimmt eine geeignete Aufgabe für ihn finden. Doch schon als diese Gedanken in meinem Kopf erschienen, wusste ich, dass es eine Lüge war. Kieran gehörte nicht in eine Gruppe, die ihre Gedanken zusammentrug und anschließend die Theorie einer bestmöglichen friedlichen Lösung ausarbeitete. So sehr ich auch versuchte, ihn mir zusammen mit Sanya, Samuel und den anderen auf einem Sofa vor einem Tisch voller Notizen und Entwürfen vorzustellen, es wollte mir einfach nicht gelingen. Kieran war intelligent, keine Frage. Er würde gute Ideen einbringen können, doch er wollte dort nicht hineinpassen.

Geschlagen senkte ich meinen Blick, beobachtete, wie sich die grünen Grashalme sachte im lauwarmen Wind wiegten. »Wo willst du hin?«, fragte ich schließlich leise. Würde er eines Tages zurückkehren? Wie ich Loszulassen hasste. Unsere Gruppe war auseinandergerissen worden. Und jetzt geschah es erneut. Wir zerbrachen. Scherbe nach Scherbe zerbrach klirrend.

»Ich werde an die Front zurückkehren.«, kam er auf sein Vorhaben zurück, das er vor noch nicht allzu langer Zeit vorgetragen hatte. Und doch hatte ich geglaubt, dass er es noch nicht allzu bald in die Realität umsetzen würde. Aber was hatte ich mir stattdessen gedacht? Dass er warten würde? Worauf denn?

»Jetzt?«

»Richtig.«, bestätigte Kieran.

»Aber wie willst du dorthin kommen? Der Krieg tobt auf der anderen Seite des Wassers.«, gab ich zu Bedenken.

»Halte mich nicht zurück, Freya. Das mag ich überhaupt nicht.«, knurrte er drohend und seine dunklen Augen bohrten sich intensiv in meine hellen. »Außerdem bin ich schneller allein. Und ich habe schon Schlimmeres durchgemacht, als das Wasser, das uns vom Festland trennt, zu überqueren.« Schon mehrmals war mir aufgefallen, dass er beinahe allergisch reagierte, wenn jemand versuchte, ihn in seinen Entscheidungen einzuschränken.

»Ich halte dich nicht zurück.«, murmelte ich. »Ich mache mir bloß Sorgen.«

»Unberechtigt.«, meinte Kieran, doch ich schüttelte entschieden meinen Kopf.

»Nein. Ich weiß, dass du nicht verletzt werden kannst. Aber das ändert nichts daran, dass man dich trotzdem noch immer gefangen nehmen und an dir experimentieren kann. Ich weiß, dass du unglaublich stark bist und gut auf dich allein aufpassen kannst. Aber es kann immer etwas schiefgehen.«

»Würde ich immer nachgeben und jedes Risiko vermeiden, wäre ich heute nicht hier.«, erwiderte er trocken.

Verzweifelt raufte ich meine hellen Haare. »Kieran! Das meinte ich doch gar nicht! Bitte verdreh nicht meine Worte! Ich wollte dir doch nur sagen, dass du trotzdem vorsichtig sein sollst!«, rief ich.

Für einen Moment betrachtete er mich schweigend, ehe er sagte: »Also gut.« Urplötzlich drehte er sich um und ich wusste, dass wenn ich jetzt nichts sagte, er schneller fort sein würde, als ich blinzeln konnte.

»Kieran!« Skeptisch sah er mich an, die Augenbraue hochgezogen. Einen Sinn für Abschiede hatte er nun wirklich nicht. Also blieb es wohl oder übel an mir hängen. Entschlossen ging ich auf ihn zu und zog ihn in meine Arme. Für mich war diese Umarmung schon seltsam, wie musste es da erst für ihn sein? Ich konnte spüren, wie er sich unter meiner Berührung instinktiv anspannte. »Komm zurück, ja?«, bat ich ihn, ehe ich ihn losließ und einen Schritt zurücktrat.

Kieran war ein wenig irritiert, doch dann nickte er.

»Bis bald.«, verabschiedete ich ihn, was er mit gerunzelter Stirn wiederholte. Ich wusste nicht, was gerade in ihm vorging und worüberer nachdachte. Was würde ich nur dafür geben, einmal in seinen Kopf sehen zu können und ihn endlich zu verstehen. Plötzlich war Kieran kaum mehr als ein dunkler Blitz, der über das Gelände des Bauernhofes zuckte und dann verschwunden war.


Die Rückfahrt war dementsprechend einsam und beklemmend, zumal ich mit dem Autofahren noch immer nicht wirklich warm geworden war.


»Wie war es?«, kam Audra auch schon direkt auf mich zu gestürmt, kaum dass ich durch die Haustür getreten war. Etwas überfordert hängte ich meinen Mantel auf, bevor ich mich ihr zuwandte.

Kurz ließ ich das Geschehen revue passieren. »Ich glaube, es lief ganz gut.«, wagte ich vorsichtig zu vermuten. »Mrs Campbell erschien auf mich, als würde sie es ehrlich mit uns meinen.«

»Das ist ja wunderbar!«, freute Audra sich und zog mich in eine erleichterte Umarmung. Nun schien alle Anspannung, die auf ihr gelastet hatte, seit wir das Grundstück verlassen hatten, von ihr abzufallen. Als sie mich schließlich losließ, schaute sie sich allerdings irritiert um. »Wo ist Kieran?«, wollte sie wissen. In ihrer Stimme schwang Sorge mit.

»Er ist nicht mit zurückgekommen.«, antwortete ich bedrückt.

Ungläubig riss Audra ihre Augen auf. »Wie?« Sprachlos sah sie mich an.

»Er meinte, dass er hier wenig ausrichten kann. Deshalb ist er, sobald wir mit Mrs Campbell fertig waren, direkt aufgebrochen. An der Front möchte er die Mutanten überzeugen, zu desertieren.«, informierte ich sie und mit einem Mal erblickte ich solch eine Traurigkeit in Audras Augen, dass mir selbst ganz schwer ums Herz wurde.

»Kieran ist ein guter Junge.«, sagte sie wehmütig. »Er weiß es nur nicht. Und ich kann ihm leider nicht helfen, sich selbst zu finden. Das kann nur er selbst. Ich glaube, er muss das tun. Zurück an die Front gehen, weißt du? Ich habe das Gefühl, dass er das, was ihm und seinem Freund, diesem Zweihunderteins, dort geschehen ist, nie ganz loslassen konnte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass er sich schuldig fühlt.«

Nun war ich es, die Audra irritiert anstarrte. »Wie kommst du denn darauf?«, wollte ich wissen. Kieran konnte man so schwer lesen, wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und er offenbarte nur das, was er auch offenbaren wollte. Der Rest blieb weiterhin im Verborgenen. Wie konnte es also sein, dass Audra unter seine Fassade schauen konnte?

Sie seufzte. »Nachdem wir in Wandsworth voneinander getrennt wurden, bin ich mit Kieran und den anderen weitergereist, sobald klar wurde, dass dein Bruder und du nicht mehr nachkommen würdet. Während ich mich beinahe in meiner Trauer verloren hatte, war Kieran da. Zwar hatte ich zu Anfang nicht das Gefühl, als würde er sonderlich viel von mir halten und trotzdem hat er einige Worte an mich gerichtet, die mich mit einem Mal wieder wachgerüttelt haben. Seitdem hat er nur noch selten mit mir gesprochen, aber seither hatte er immer mal wieder meine Aufmerksamkeit. Weißt du, es hilft ungemein, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen. Und obwohl er Unsägliches erlebt hat, steht er noch immer. Unbeugsam wie ein Fels in der Brandung.«

»Was hat er dir gesagt?«, wollte ich neugierig wissen.

Doch Audra lachte leise auf. »Was er mir gesagt hat, ist seine Sache, Freya. Ich schätze, dir hat er auch etwas gesagt, als es dir schlecht ging, von dem du mir auch nichts erzählen wirst.« Das hatte er tatsächlich. Von seiner Kindheit im Labor und den fünf Sera, die ihm verabreicht worden waren.

»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er hat dir etwas über Zweihunderteins erzählt.«, vermutete ich.

»Das hat er.«, bestätigte Audra. »Allerdings hat er nie seinen Namen oder seine Nummer oder die Elitejäger erwähnt.« Dann umschloss ihre Hand sanft mein Handgelenk und sie führte mich zu den anderen. Genau wie sie selbst, wartete auch Samuel angespannt auf meine Rückkehr.

»Freya!«, rief er erleichtert aus, als wir den Raum betraten. Wenn er Kierans Abwesenheit bemerkte, so erwähnte er sie nicht. Auch ihm erzählte ich kurz, wie das Treffen mit Mrs Campbell gelaufen war. Aufgrund meiner Erzählung schien er größere Hoffnung zu fassen. »Das klingt gut.«, meinte er. »Jetzt können wir nur noch hoffen, dass auch wirklich alles so abläuft, wie wir es uns wünschen. Aber das liegt nun außerhalb unseres Einflusses. Ich denke, es wird ein paar Tage dauern, bis das Interview ausgestrahlt wird. Ehrlich gesagt weiß ich nämlich wirklich nicht, wer das überhaupt ausstrahlen will. Aber Mrs Campbell hat sicher ihre Kontakte und Möglichkeiten. Außerdem sollten wir uns wieder darum kümmern, dass wir uns auch auf den Straßen sehen lassen. Bisher können wir das nur hier in der Umgebung machen, aber bestimmt schließen sich uns noch andere Mutanten an, die das dann in ihren Städten auch tun werden.«

Sanya, die bisher schweigend zugehört und neben uns gesessen hatte, meldete sich jetzt auch zu Wort. »Vielleicht sollten wir auch die spanische Regierung um Hilfe bitten.«, schlug sie unsicher vor.

»Ach ja?« Siebenundvierzig, die ein wenig weiter entfernt eine Unterhaltung geführt hatte, schwenkte ihre Aufmerksamkeit zu uns. »Wie stellst du dir das vor? Du siehst doch selbst, dass Großbritannien den Spaniern kaum Gehör schenkt und sie nicht ernst nimmt. Und wenn sie nicht mehr mit Worten versuchen, etwas zu ändern, werden sie einmarschieren. Willst du das?« Sie warf Samuel einen kurzen Seitenblick zu. »Ich glaube, die Lösung wäre dir zu gewalttätig.«

»Das wäre sie.«, stimmte Samuel seufzend zu. »Außerdem haben wir im Moment ja noch andere Möglichkeiten. Wir dürfen nur nicht zulassen, dass unsere Flugblätter in Vergessenheit geraten. Wir müssen uns zeigen und den Leuten persönlich von uns erzählen und ihnen zeigen, dass wir genauso wie sie Rechte haben.«

»Das versuchen wir doch schon seit Ewigkeiten.«, warf Siebenundvierzig ein. »Bisher waren wir nur ein kleines Ärgernis. Nicht mehr und nicht weniger. Das hat sich erst seit den Flugblättern verändert. Aber das lässt sich genauso schnell wieder ändern. Wir haben keine stichfesten Beweise für das, was wir auf unseren Flugblättern sagen.«

»Amrosia führte Akten über jeden von uns.«, mischte ich mich nun ein. »Und Videoaufnahmen. Sie befinden sich noch immer in den Laboren. Wenn wir sie holen – am Besten die über die Mutanten, die sich hier befinden – haben wir einen Beweis.«

Sekundenlang starrten Sanya, Siebenundvierzig und Samuel mich verblüfft an, ehe sich ihre Verblüffung in Begeisterung umwandelte. »Ehrlich?«, fragte Sanya hoffnungsvoll lächelnd. »Ich hatte immer gedacht, dass wenn sie Akten geführt hätten, sie längst zerstört hätten.«

»Haben sie nicht. Ich könnte gehen und sie holen.«, schlug ich vor.

Doch sofort schüttelte Samuel seinen Kopf. »Nein. Ausgeschlossen.«, entschied er. »Dich brauchen wir hier. Wenn Mrs Campbell euer Interview ausstrahlen und vielleicht auch verschriftlichen wird, wirst du unser Aushängeschild sein müssen. Die Leute werden dich kennen und so vielleicht eine leichte Bindung zu dir aufbauen. Dir werden sie vertrauen. Und für alle anderen wirst du das Symbol ihres Hasses sein.«

»Das klingt wirklich vielversprechend.«, murmelte ich nicht sehr begeistert. Ich wollte kein Aushängeschild sein. Das bedeutete nämlich, dass man mich beobachten und über all meine Handlungen urteilen würde. Ich wollte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich. Aber was machte ich mir eigentlich vor? Schon als Samuel mir von Mrs Campbells Interesse an einem Interview mit mir erzählt hatte, hatte ich geahnt, dass es so enden könnte. Und ich hatte dennoch zugestimmt.

Nachdenklich tippte Samuel sich an sein Kinn. »Am Besten wäre es, wenn wir auf jeden Fall deine Akte herholen und sie veröffentlichen.«

»Nein!«, unterbrach ich ihn sofort. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich aufgesprungen war. Das fiel mir erst auf, als alle anderen zu mir aufsahen. »Nein.«, wiederholte ich ruhiger und setzte mich wieder.»Mrs Campbell habe ich schon nicht meinen Nachnamen verraten. Und dann alle Informationen über mich der Öffentlichkeit zugänglich machen? Auf keinen Fall!« Zumal ich meine Familie nicht mit hineinziehen wollte. Außerdem: »Lucius hat meine Akte.«, erinnerte ich mich plötzlich. »Er hat sie mitgenommen, als wir in den Laboren waren, für den Fall, dass wir eines Tages unseren Eltern beweisen müssen, dass ich wirklich ich bin.« Nicht, dass es jemals dazu gekommen wäre. Dennoch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Zumindest bis sich unsere Wege getrennt hatten.

»Hm.« Samuel überlegte angestrengt. »Gut. Dann werden wir alle anderen Akten von den hier anwesenden Mutanten besorgen und sie um ihre Zustimmung fragen, diese zu veröffentlichen. - Du sagst, es gäbe auch Videomaterial? Das könnten wir im Netz hochladen. Dann können die Menschen genau zusehen, was mit uns geschehen ist. Vielleicht ändert sich ihr Denken dann.«

»Ich bin mir sicher, dass es so sein wird.«, sagte Audra zuversichtlich. »Zumindest die Familien werden die Kinder doch wohl erkennen.«

»Halte deine Hoffnungen nicht zu hoch.«, wandte ich ein. »Manche Menschen sehen die Wahrheit und versuchen trotzdem, das, was sie sehen, anders zu erklären.« Dabei dachte ich an Lucius, der anfangs tatsächlich angefangen hatte, zu glauben, dass die Mutanten einst menschliche Kinder gewesen waren, doch sie nicht mehr länger am Leben waren und somit die Mutanten ihre Körper übernommen hatten. Totaler Schwachsinn, aber in seinen Augen war es zu dem Zeitpunkt die leichter zu akzeptierende Erklärung gewesen.

»Sanya?« Samuel sah zu ihr. »Würdest du dich bereit erklären, die Akten zu holen?«

»Natürlich!«, sagte sie. Außerdem würde sie unter den Menschen nicht wirklich auffallen, wenn sie den Federkranz um ihren Hals gut genug kaschieren konnte, sodass er mehr wie ein Schal aussah. »Und nimm am Besten Siebenundvierzig mit. Nur zur Vorsicht.« Siebenundvierzig nickte zustimmend.

»Sollen wir dann sofort los?«, wollte diese wissen.

»Je eher wir die Akten haben, desto besser.«, meinte Samuel. »Zumal die Überreste von Ambrosia, die sich nicht im Gefängnis befinden, dazu entscheiden könnten, dass es doch notwendig ist, die Akten und Videos zu zerstören. Mich, für meinen Teil zumindest, beunruhigt es, dass Dorothea Magpie jetzt in die Öffentlichkeit getreten ist. Das könnte die übrigen Mitglieder Ambrosias dazu verleiten, wieder aus ihren Löchern hervorzukriechen. - Hoffen wir, dass das nicht passiert.« Entschlossen erhoben Sanya und Siebenundvierzig sich, schnappten sich den Autoschlüssel, den ich zuvor Samuel überreicht hatte, und eilten aus dem Raum.

»So. Dann können wir jetzt unsere nächsten Aktionen planen.«, erhob er seine Stimme, sodass auch die anderen anwesenden Mutanten ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten. »Wer meldet sich freiwillig, um sich wieder unter die Menschen zu mischen?«

Enthusiastisch meldeten sich Elliot, der Wolfsmutant, sowie ein Mädchen mit solch dunkelbraunen Haare, dass sie schon schwarz erschienen. Etwa mittig auf ihrer Schädeldecke sprossen zwei ziegenähnliche Hörner aus ihren Kopf, die bestimmt gut dreißig Zentimeter oder gar länger waren. »Na dann, Elliot und Fahsai.«, sagte Samuel. »Enya wird vermutlich auch irgendwo unter den Leuten zu finden sein. Aber kommt ihr bitte nicht zu nahe. Es darf keine Verbindung zwischen euch und ihr gefunden werden, okay? Wir werden anders vorgehen als sonst. Also achtet bitte auf das, was ihr sagt und wie ihr euch verhaltet. Enya wird euch nämlich filmen. Ist das für euch in Ordnung?« Elliot und Fahsai hatten nichts dagegen.

»Dann kommt beide bitte mit mir. Wir müssen euer Vorgehen besprechen.« Er erhob sich und die beiden Mutanten folgten ihm aus dem Zimmer.

»Will er mich jetzt hier im Haus behalten?«, fragte ich Audra missmutig.

»Er will dich doch nur beschützen. Wegen Mrs Campbell wäre es nicht gut, wenn du auf einmal nicht mehr zur Verfügung stehen könntest.«, sagte Audra tröstend. »Ansonsten hätte er sehr wahrscheinlich nichts dagegen, dich mitgehen oder die Akten holen zu lassen. Und wer weiß: Vielleicht möchte Mrs Campbell dich auch mal in Aktion sehen, um dich aufzunehmen.« Das stimmte mich nicht gerade zuversichtlich. Würde ich von nun an immer springen müssen, wenn Mrs Campbell und Samuel es für richtig hielten? Ich wollte nicht zu einer Marionette ihrer Überzeugungen werden. Ich wollte auch ohne ihre Zustimmung für das kämpfen, was ich für richtig hielt. Ohne darüber nachdenken zu müssen, was andere von meinen Handlungen halten könnten.

Kieran hatte es in dieser Hinsicht deutlich leichter. Er tat einfach, was er wollte und ließ sich von nichts und niemandem reinreden. Er interessierte sich schlicht und einfach nicht für das, was andere über ihn zu sagen hatten. Aber ich konnte mir das, sobald das Interview veröffentlicht wäre, nicht mehr leisten.


Dementsprechend langweilig wurden die nächsten Tage. Sanya und Siebenundvierzig waren fort, genau wie Kieran. Samuel war mit den verschiedensten Planungen beschäftigt, bereitete sich auf alle Eventualitäten vor, während auch die anderen Mutanten, die hier geblieben waren, merklich angespannter zu werden schienen, je mehr Zeit verging, ohne, dass etwas geschah. Darum versuchten sie sich mit lesen, fernsehen und Gesellschaftsspielen abzulenken, während sie eigentlich auf heißen Kohlen saßen und auf die Akten sowie das Interview warteten.

Audra und ich hatten es ihnen irgendwann gleichgetan. Und doch lag meine Konzentration eigentlich immer woanders. Elliot und Fahsai hatten es tatsächlich geschafft, unbemerkt nach London zu kommen, wobei ich mich wirklich fragte, wie das möglich gewesen war, da keiner von beiden wirklich unauffällig aussah. Im Hyde Park hatten sie sich dann den Menschen offenbart und versucht, sie von unserer Sache zu überzeugen. Genau wie Samuel gesagt hatte, hatte Enya abseits gestanden und die beiden gefilmt. Anschließend war das Video im Netz gelandet. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die die Flugblätter im Moment erhielten, hatten sich auf viele Leute das Video angeschaut. Wie beiden Flugblättern gab es in den Kommentaren gemischte Meinungen dazu zu finden. Aber an sich war es wohl gut gelaufen. Bevor die Polizei einschreiten konnte, waren Elliot und Fahsai bereits verschwunden. Und einmal mehr wünschte ich, selbst dabei gewesen zu sein.

Aber nein. Ich war dazu verurteilt, es einfach auszusitzen, nichts zu tun und die Hände still zu halten. Es war zum verrückt werden. Ich hätte so viel tun können, aber man ließ mich einfach nicht, aus Angst, dass mir etwas geschehen könnte. Dabei war ich wohl deutlich besser dazu in der Lage, mich selbst zu verteidigen, als Elliot oder Fahsai.

»Varya, sobald das Interview veröffentlicht wird, solltest du Kontakt zu deinem Vater aufnehmen.«, meinte Samuel, als er Varya das nächste Mal über den Weg lief. Unter seinen Worten schrumpfte diese in sich zusammen. Zwar hatte sie gewusst, dass sie sich eines Tages dazu überwinden müsste, doch ihr war anzusehen, dass sie gehofft hatte, dass sie bis dahin noch viel Zeit hätte. Wäre ich sie, wäre ich auch nicht sonderlich erpicht darauf, den Mann zu sehen, der mir mit einer Waffe gedroht hatte, damit ich verschwand.

»Ich kann nicht.«, versuchte Varya es trotzdem und ihre kaputte Stimme klang noch kratziger als sonst.

»Du kannst.«, erwiderte Samuel und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Du bist stark und ich weiß, dass es dir nicht leicht fällt, aber ich bin mir sicher, dass du das gut machen wirst. Varya, wir brauchen dich.«

Gequält presste sie die Lippen fest aufeinander, sodass sie bloß noch eine schmale Linie waren. »Er wird mir nicht zuhören.«

»Das weißt du nicht.«

»Ich glaube, dass er dich vermisst.«, warf ich ein, woraufhin sie mich zweifelnd ansah. »Als wir aus Clausens Labor geflohen sind, war das nur zu deutlich.«

»Aber er dachte auch, ich sei wieder ein Mensch. Und kurz darauf wurde ihm das Gegenteil bewiesen.« Schmerzlich wandte sie den Blick ab und sah zu Boden.

»Das ändert nichts.«, entgegnete ich. »Ja, bestimmt wird der Anfang nicht leicht, aber er wird dir zuhören. Der Rest, der dann geschieht, liegt nicht mehr in unserer Hand, aber du kannst zumindest versuchen, ihn anzustupsen und in die richtige Richtung zu lenken.«

Varya schien noch immer nicht überzeugt, aber der Idee auch nicht mehr ganz so abgeneigt zu sein. Ergeben seufzte sie und sagte: »Na schön. Ich kann es immerhin versuchen.«

»Wunderbar!«, rief Samuel erfreut aus. »Varya, damit hilfst du uns gewaltig!«

»Aber ich kann nichts versprechen.«

»Das musst du auch nicht.«, beruhigte Samuel sie.

»Hey, seid still! Es geht los!«, rief ein aufgeregter Mutant dazwischen und deutete hektisch auf den Bildschirm. »Schaut!« Mit einem Schlag war es totenstill. Alle hielten inne und starrten auf den Fernseher. Nichts war seltsamer, als sein eigenes Gesicht im Fernsehen zu erblicken. Und dann auch noch mein nicht verborgenes Gesicht. Ich hielt einfach den Atem an, wagte nicht, Luft zu holen. Wie erstarrt sah ich mir selbst in die Augen. Aufgeregt ergriff Audra meine Hand und drückte sie.

Das andere Ich blinzelte ein wenig unsicher in die Kamera, während das helle Licht meine weißen Schuppen deutlich hervorhob. Meine unmenschlichen Augen konnte man ebenso nicht übersehen. Die grüne Weide im Hintergrund verlieh dem Ganzen – trotz meiner beunruhigenden Erscheinung – etwas Ruhiges.

»Hallo.«, sagte das andere Ich mit ruhiger Stimme. Jetzt jedenfalls war ich alles andere als ruhig. »Mein Name ist Freya und ich bin eine Mutantin. Seitdem trage ich die Nummer dreiundneunzig.« Über meinem Kopf erschien der Titelschriftzug Unsere verschwundenen Kinder. Nun verschwand ich und stattdessen wurden Vermisstenanzeigen von Kindern gezeigt. »Über die vergangenen Jahre verschwanden auffällig viele Kinder.« Das war Mrs Campbells Stimme. »Eines Tages kehrten sie nicht mehr von der Schule, vom Nachhauseweg von Freunden oder Verwandten, von ihren Hobbys oder vom Spielen draußen zurück. Ihr Verschwinden ließ viele Familien und Freunde im Dunkeln, auch mit Hilfe der Polizei konnten sie nicht mehr gefunden werden. Sie waren verschollen.«

Die Vermisstenanzeigen verschwanden und Mrs Campbell und ich erschienen. »Wofür steht die Nummer dreiundneunzig, Freya?«, wollte die Journalistin wissen.

»Ich bin das dreiundneunzigste Kind gewesen, das entführt worden ist.«, sagte das andere Ich. »Diese Nummer wurde mir von Ambrosia zugeordnet und machte uns für sie weniger zu Menschen, sondern mehr zu Objekten. Man nannte mich dort nicht mehr bei meinem Namen, sondern nur noch bei dieser Nummer.«

»Und dennoch stellst du dich heute mit deinem Namen und dieser Nummer vor.«, bemerkte Mrs Campbell. »Wie kommt das?«

»Nun ja, wenn man Jahre lang nur noch bei einer Nummer genannt, sie schon zu einem Teil deiner Identität wird, gehört sie eines Tages zwangsläufig zu dir. Außerdem kennt man auch heute noch viele Mutanten nur bei ihrer Nummer, sodass es schwierig wird, sie nur mithilfe ihres Namens irgendwo einzuordnen.«

»Ist es denn nicht schmerzhaft, durch diese Nummer immer wieder an das erinnert zu werden, was dir geschehen ist? Ich an deiner Stelle würde meine Nummer, sobald ich die Möglichkeit hätte, sofort loswerden wollen, um mich davon zu distanzieren, denn, wie du schon sagtest, diente die Nummer auch dazu, euch das Menschsein abzusprechen.«

»Die Nummer ist mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden, das ist wahr.«, stimmte mein anderes Ich zu. »Aber sie verdeutlicht auch, was wir überstanden haben. Und manche Mutanten können sich wegen der Geschehnisse auch nicht mehr mit ihrem damaligen Selbst identifizieren, weshalb sie ihren Namen ablegen und ihre Nummer an dessen Stelle übernehmen.« Mrs Campbell hatte es gut gefunden, die Menschen zuerst über unsere Nummern und deren Herkunft sowie Bedeutung aufzuklären.

»Aber du bevorzugst deinen Namen?«, fragte sie.

»Genau. Ich bin Freya und so möchte ich auch genannt werden.«, stimmte das andere Ich zu, das mir wie eine gänzlich andere Person vorkam, so, wie ich hier vor dem Fernseher saß.

»Hast du Durst? Heute ist es recht warm.« Mrs Campbell reichte mir eine Wasserflasche.

»Ja, danke.« Mein anderes Ich nahm die Flasche, öffnete sie und trank einen Schluck.

»Ich habe auch ein paar Süßigkeiten dabei. Möchtest du was?« Die Journalistin zeigte mir Schokolade und Kekse.

»Oh, die Kekse, bitte.« Das andere Ich nahm lächelnd einen Keks. Auch das war nicht zufällig geschehen. Octavia Campbell war der Meinung gewesen, dass mich das nahbarer und auch menschlich erscheinen lassen würde. Dass ich genau wie andere Menschen aß und trank und Vorlieben hatte, was Süßigkeiten anging.

»Möchtest du mir etwas aus deinem Leben als Kind erzählen?«, bat Mrs Campbell mich. »Bist du zur Schule gegangen?«

»Natürlich bin ich das. Schließlich besteht die Schulpflicht, nicht wahr?« Mein anderes Ich lächelte. »Damals bin ich zusammen mit meinem Bruder eingeschult worden. Und ich wusste wirklich nicht, was ich von der Schule halten sollte.«

»Hattest du Angst?«

»Ich weiß es nicht mehr wirklich. Aber was ich noch weiß, ist, dass ich ziemlich unsicher war, weil die Schule anders war, als alles, was ich bis dahin gekannt hatte.«, antwortete mein anderes Ich und schob sich einen Keks in den Mund, wobei die spitzen Eckzähne kurz aufblitzten. »Als ich mich schließlich eingelebt und Freunde gefunden hatte, wurde es aber besser. Nur leider war es mir nicht möglich gewesen, länger zu bleiben. Als ich acht Jahre alt und in der zweiten Klasse gewesen war, befand ich mich gerade vom Rückweg vom Spielplatz, als meine Klassenlehrerin mich abfing.«

»Deine Klassenlehrerin?«, harkte Mrs Campbell nach.

»Ja, genau. Miss Magpie. Heute sitzt sie im Gefängnis, weil sie einer der führenden Köpfe von Ambrosia war.«, erzählte das andere Ich. »Später habe ich erfahren, dass sie zu den sogenannten Suchern gehörte und Ausschau nach Kindern hielt, die geeignet für die Experimente waren. Dazu schleuste sie sich beispielsweise in Schulen ein, wie bei mir.«
»Und sie hat dich ausgesucht.«, stellte die Journalistin fest.

»Leider ja.«, bestätigte ich.

»Fragst du dich manchmal, weshalb gerade du ausgesucht wurdest?«, wollte sie wissen.

Mein anderes Ich seufzte. »Die Frage stellt sich glaube ich jeder von uns mindestens einmal. Aber eigentlich macht es im Nachhinein keinen Unterschied. Es ist passiert und keiner von uns kann daran etwas ändern. Außerdem waren wir zu dem Zeitpunkt nur kleine verängstigte Kinder. Was hätten wir tun sollen?«

»Jetzt bist du kein kleines verängstigtes Kind mehr.«, meinte sie, woraufhin das andere Ich leicht lachte.

»Nein, das ändert aber nichts daran, dass die Angst nicht verschwunden ist.«, sagte es. »Mit einem Mal hatten wir diese Kräfte und viele von uns sahen nicht mehr so aus, wie sie sich in Erinnerung hatten, als sie sich zum letzten Mal im Spiegel gesehen hatten. Auch, als wir endlich aus den Laboren ausbrechen konnten, konnte das die Zeit nicht zurückdrehen. Viele von uns wussten nicht, was sie tun sollten. Natürlich war der erste Instinkt, nach Hause zu gehen. Nur, wo war das? Wir befanden uns mitten im Nirgendwo, der Großteil von uns waren noch immer Kinder. Und auch jetzt, all die Jahre später, habe ich Angst vor dem, was geschehen kann.«

»Damit meinst du, wie man euch behandelt, nicht wahr?«

»Natürlich.«, sagte das andere Ich. »Stellen Sie sich vor, Ihnen würde auf einmal verboten werden, ihrer Arbeit oder Ihren Hobbys nachzugehen. Sie dürften Ihre Freunde nicht mehr sehen, haben nichts mehr. Plötzlich zwingt man Sie, zu fremden Leuten zu ziehen, die Sie verabscheuen, obwohl sie Sie gar nicht kennen und noch nie zuvor ein Wort miteinander gewechselt haben. Ehe Sie sich versehen, müssen Sie diesen Leuten, die Sie nicht respektieren, gehorchen und dürfen keine Widerworte geben. Ohne zu murren und ohne zu fragen müssen Sie das tun, was man Ihnen aufträgt. Sie leben Ihr Leben nicht mehr für sich selbst, sondern für diese Leute. Und Sie wissen, dass so Ihr gesamtes Leben aussehen wird. Dass sie sich von diesen Leuten versklaven lassen und Sie als Sklave sterben werden.

Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist, dass Sie eine normale Kindheit hatten. An mir wurde herumexperimentiert. Man sperrte mich in eine Röhre und veränderte mich gegen meinen Willen. Da war ich gerade mal acht Jahre alt. Und im Alter von zwölf Jahren geschah mir das, was ich Ihnen jetzt beschrieben habe. Allerdings hatte ich im Vergleich zu anderen Mutanten das Glück, dass die Menschen, für die ich arbeitete, begriffen, dass ich, trotz meines Aussehens, nur ein Kind war. Jetzt sind sie mir die Eltern, die ich verloren habe.« Bei den Worten drückte Audra meine Hand fester und ich konnte die Tränen in ihren Augen glitzern sehen. Ein leichtes Lächeln legte sich auf meine Lippen und ich drückte ebenfalls kurz.

»Das ändert aber nichts an der Gesamtsituation.«, stellte Mrs Campbell fest. »Auch, wenn du es womöglich besser hast, als andere Mutanten, bleibt noch immer die Angst.«

»Natürlich. Es ging nicht ewig gut, auch wenn wir alle es gerne so gehabt hätten. Ich weiß nicht weshalb, doch irgendwann fand die Regierung wohl heraus, dass mich die beiden Menschen gut behandelten. Eines nachts brannte unser Haus und Regierungsagenten stürmten hinein. Einen anderen Mutanten, der mir wie ein Bruder ist, und mich wollten sie an die Front schicken. Zu dem Zeitpunkt waren ich bereits siebzehn. Aber es gibt auch Mutanten, die bereits mit zwölf oder jünger im Krieg kämpfen mussten. Sie sind nur Kinder und dennoch werden sie gezwungen für unsere Regierung zu töten und zu sterben. Für eine Regierung, die uns nicht respektiert. Für Menschen, die uns verabscheuen.«

»Aber du wurdest nicht an die Front geschickt.«

»Nein. Wir hatten das Glück, entkommen zu können. Leider hatte mein Vater nicht das Glück. Er starb noch vor Ort. Und meine Mutter wurde verurteilt und in ein Gefängnis gesperrt. Weil sie freundlich und menschlich war. Können Sie sich das vorstellen? Sie war freundlich zu meinem Freund und mir und wurde dafür bestraft. Wären wir beide noch Menschen gewesen, wäre das nicht passiert. Dabei können wir nichts für das, was wir sind. Wir wurden gegen unseren Willen unseren Familien entrissen und genetisch verändert.« Das andere Ich umklammerte die Wasserflasche so fest, dass sie knisterte.

»Jetzt sind wir dem Labor sowie dem Feuer entkommen und der Freiheit noch immer keinen Schritt näher gekommen. Dabei wollen wir nichts anderes, als endlich wieder, genau wie damals, als wir Kinder waren, ein normales Leben zu führen. Ich möchte mein Aussehen nicht immer verstecken müssen, wenn ich durch die Straßen laufe und hoffen, nicht erwischt zu werden. Ich möchte mich nicht vor unserer eigenen Regierung fürchten müssen, dass sie mich wieder dazu zwingen, mein Leben für fremde Leute aufzugeben, die mich hassen. Ich möchte nicht in einem Kampf kämpfen, der mir nichts bedeutet. Ich möchte nicht mehr unterdrückt werden.«

»Freya, hast du schon von den Flugblättern gehört?«, fragte Mrs Campbell.

»Selbstverständlich habe ich das.«, entgegnete das andere Ich. »Und ich finde sie wirklich gut. Den Leuten müssen endlich die Augen geöffnet werden. Wir sind keine Monster, auch wenn wir in ihren Augen vielleicht wie welche aussehen. Wir waren genauso Menschen wie sie, bevor wir gezwungen wurden, es nicht mehr zu sein.«

»Wenn sich deine Wünsche nach Freiheit und Gleichheit erfüllen würden, wenn du ein normales Leben führen könntest, was würdest du tun?«, wollte die Journalistin wissen.

Das andere Ich überlegte. »Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch keine wirklichen Gedanken gemacht. Das liegt alles in so weiter Ferne. Und vielleicht wird es niemals Wirklichkeit. Anstatt mir vorzustellen, wie mein Leben aussehen könnte, wäre alles anders gelaufen, und immer wieder darüber nachzudenken, was ich nicht haben kann, was doch eigentlich selbstverständlich sein sollte, sollte ich lieber darüber nachdenken, was ich tun kann, um meine Situation zu verändern. Ich wage nicht, mir vorzustellen, wie mein Leben sein könnte, da das einen auf Dauer nur traurig und hoffnungslos macht.«, dachte das andere Ich nach.

»Stattdessen konzentrierst du dich auf das Hier und Jetzt.«, sagte Mrs Campbell.

»Was bleibt mir anderes übrig? Ich muss schauen, dass sich meine Situation nicht verschlechtert. Und überlegen, was ich tun kann, um sie zu verbessern. Wissen Sie, ich kenne die Mutanten, die für die Flugblätter verantwortlich sind. Sie arbeiten darauf hin, dass unsere Wünsche nach einem normalen Leben Wirklichkeit werden. Dafür brauchen sie jede Hilfe, die sie bekommen können. Denn ohne die Menschen schaffen wir es nicht.«

»Danke, Freya. Dass du mir das alles heute erzählt hast, bedeutet mir wirklich viel.«, bedankte sich Mrs Campbell.

»Mir auch. Im Moment wird viel über uns diskutiert. Auch Miss Magpie, die für fast alles, was mir passiert ist, verantwortlich ist, ist bereits zu Wort gekommen und sie hat bloß Lügen über uns verbreitet. Ich wollte klarstellen, dass wir Mutanten nicht künstlich erschaffen worden sind. Wir waren Menschen. Wir waren Kinder und wir hatten ein Leben. Bei dieser Diskussion geht es um uns. Also finde ich es nur richtig, uns auch zu Wort kommen zu lassen.«, sagte das andere Ich.

»So. Zum Schluss habe ich noch eine Frage an dich.«, leitete Mrs Campbell das Ende unseres Gesprächs ein. »Wenn du die Möglichkeit hättest, mit deinen Eltern in Kontakt zu treten und sie würden dir zuhören, was würdest du ihnen sagen?«

Das andere Ich brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich würde ihnen sagen, dass ich sie vermisse. Und dass ich sie lieb habe, auch, wenn sie mich heute vermutlich nicht mehr erkennen und verabscheuen würden. Ich bin noch immer Freya.«

Zu meiner Überraschung wurde nun eine Vermisstenanzeige gezeigt. Meine Vermisstenanzeige. Wo Mrs Campbell die aufgetrieben hatte, war mir schleierhaft. Und mir wurde ganz anders, als ich sie nun zum ersten Mal vor Augen sah. Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich wagte es nicht, zu atmen. Mein Körper begann zu zittern und ohne, dass ich es verhindern konnte, traten mir die Tränen in die Augen.

In großen Lettern prangte das Wort Vermisst über dem Foto eines kleinen lächelnden Mädchens mit schwarzen Haaren und grünen Augen. Oh, diese schwarzen Haare und diese grünen Augen! Es war ewig her, dass ich mich selbst so gesehen hatte. Heute war es befremdlich für mich, mich so zu sehen. So, wie ich als Mensch ausgesehen hatte.

Von Audra vernahm ich ein leises Schluchzen und erst jetzt wurde mir klar, dass sie mich als Mensch gar nicht gekannt hatte. Sie hatte mich noch nie als Menschen gesehen. Sie kannte mich nur in meiner Mutanten-Gestalt.

Es fiel mir schwer, meine Augen von dem Bild des längst vergangenen Mädchens zu lösen. Von dem Mädchen, das nicht mehr war und nie wieder sein würde. Unter ihrem Bild stand: »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?«, gefolgt von meinem Namen, wobei mein Nachname geschwärzt worden war. Es folgte eine kurze Beschreibung meines Aussehens sowie des Tages und Ortes, an dem man mich zuletzt gesehen hatte. Dabei wurde der Spielplatz genannt, auf dem ich gemeinsam mit Mikéle gewesen war. Er musste meiner Familie gesagt haben, wo ich mich zuletzt befunden hatte.

Nun konnte ich nicht mehr verhindern, dass mir die Tränen über das Gesicht rannen. Meine Familie musste unglaublich besorgt gewesen sein. Sie musste unglaublich Angst gehabt haben. Und hier saß ich nun. Ohne, dass meine Eltern wussten, dass ich noch immer am Leben war.

»Freyas Familie wandte sich nach ihres Verschwindes an die Polizei.«, erklang Mrs Campbells Stimme, während weiterhin meine Vermisstenanzeige zu sehen war. »Doch die stellte die Ermittlungen schnell ein und ihr sowie ihrer Familie wurde nicht mehr viel Beachtung geschenkt, weshalb Familie und Freunde selbstständig nach dem verschwundenen Mädchen suchten. Ohne Erfolg. Freyas Fall ist nur einer von vielen.«

Mit diesen Worten endete der Beitrag. Und ich lag in Scherben.



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