Kapitel 102.3
Irgendwer schaltete den Fernseher aus. »Mit solchen Leuten, die die Nachrichten moderieren, wird das niemals etwas.«, murmelte Elliot, der Wolfsmutant, der gemeinsam mit anderen einmal die Jäger angegriffen hatte.
»Nein.«, stimmte Sanya leise zu.
»Und das mit Frankreich?« Das kam von jemandem, den ich noch nicht kannte. »Dieser Krieg muss endlich enden, bevor wir alle tot sind.«
»Ach, und wie willst du das anstellen?«, fragte Jade herausfordernd. Ihre Augen funkelten wütend. »Dafür bräuchten wir Leute in der Armee. Selbst, wenn wir die hätten: Was würden die schon tun?«
»Irgendwie muss jemand diesem Lefebre endlich klar machen, dass wir keine Bestien sind, die er auf Teufel-komm-raus vernichten muss!«, knurrte Elliot.
Jade lachte höhnisch. »Du bist dafür jedenfalls der Falsche.«
»Ich rede auch nicht von mir.«
»Von wem dann?«, provozierte das Mädchen.
»Wie wäre es, wenn wir Videobotschaften aufnehmen?«, mischte sich nun Siebenundvierzig ein. »Immerhin steht jetzt Bill hinter uns. Der bekommt das doch sicher hin, dass die auch in Frankreich senden. Am Besten auch hier. Allerdings bräuchten wir dann jemanden, der sein Gesicht dafür herhält.«
»Ein paar von uns sind doch schon bekannt.«, meinte Sanya. »Du, beispielsweise.«
Siebenundvierzig lachte. »Und mich hältst du für die Richtige? Sanya, man hat mich im Fernsehen gesehen, wie ich Polizisten aufgespießt habe!«
»Ich sagte 'beispielsweise'.«, erwiderte Sanya ruhig.
»Ein schlechtes Beispiel.« Siebenundvierzig schüttelte amüsiert den Kopf.
»Samuel!«, schlug Elliot vor. »Dich kennt man und noch nie hast du jemanden von dir aus angegriffen. Du hast dich wenn nur verteidigt.«
Samuel seufzte. »Wollen wir nicht jemanden nehmen, der weniger bedrohlich aussieht?«, fragte er. War es wirklich so schlecht, dass er bedrohlich aussah? Würden wir ihn trotzdem nehmen, könnte man dies als Beweis verstehen, dass nicht bloß das Äußere zählte und selbst gefährlich aussehende Mutanten friedlich sein konnten. »Außerdem sollten wir erst mal das mit Mrs Campbell abwarten.« Er sagte ihnen nicht, dass ich bereits zugestimmt hatte. Vielleicht wollte er mir trotzdem noch Zeit zum Nachdenken geben und mich nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Das war nett, aber nicht nötig.
»Jemand muss an die Front.«, hörte ich Kieran so leise neben mir sagen, dass nur ich ihn hören konnte. Sein Blick war ernst und seltsam entschlossen. Stirnrunzelnd sah ich ihn an. Wieso hatte ich das Gefühl, dass er selbst dorthin gehen wollte?
»Kieran-«, begann ich, doch wurde sogleich unterbrochen.
Sein Gesicht war düster und ihm war anzusehen, wie wenig ihm dieser Gedanke gefiel. »Nein.«, unterbrach er mich. »Jemand muss dorthin. Und es ist nun einmal ein Fakt, dass ich mich am Besten dafür eigne.« Er musste nicht erwähnen, dass nichts ihm etwas anhaben konnte. Schließlich hatte ich das nicht vergessen. »Die Mutanten an der Front haben zu viel Angst oder ihnen ist mittlerweile alles egal, wenn sie überhaupt noch bei Verstand sind, sodass sie einfach weiter kämpfen. Von sich aus würden die wenigsten desertieren.«
»Du willst also wieder in den Krieg ziehen, um die Mutanten dazu zu bringen, der Armee den Rücken zuzukehren?«
»Die Regierung jedenfalls wird ihre Truppen nicht abziehen. Und das bedeutet, dass es viele Tote geben wird.«, sagte er trocken.
»Das stimmt.«, wandte ich ein. »Aber du bist ein einziger Mutant. Wie willst du das schaffen? Wenn es stimmt, was du sagst und sie zu viel Angst haben ...«
»Dann müssen sie vor mir mehr Angst haben.« Er sagte das mit solch einer Gleichgültigkeit, dass mir ein unangenehmer Schauer den Rücken hinunter lief. Wieder einmal wurde mir in Erinnerung gerufen, wie grausam und gewissenlos er eigentlich sein konnte.
»Angst ist nicht die Lösung.«, sagte ich. »Selbst, wenn es jetzt gut läuft, ist das nichts für die Ewigkeit. Eines Tages könnten sie sich gegen dich wenden. Außerdem wärst du dann nicht besser als die Regierung und all die anderen hasserfüllten Menschen.«
Kieran hatte nur einen düsteren Blick für mich übrig. »Uns fehlt die Zeit, um die Soldaten auf eine andere Weise zum Desertieren zu bringen. Mit Hass kann ich umgehen.« Stimmt. Jetzt, wo er das sagte, fiel mir das Ultimatum von vier Wochen wieder ein. Aber war Angst wirklich die einzige Lösung? Im ersten Moment mochte Angst wirkungsvoll sein, doch für wie lange? Kieran mochte unverwundbar sein, aber er wäre alleine und sie viele. Zumal es noch immer die Gefühllosen gab.
Kieran schien mir anzusehen, was in mir vorging. »Auch die Gefühllosen haben eine Schwäche.«, sagte er bestimmt. »Jeder einzelne von ihnen hat einen Wunsch, der ihn mit seinem alten Ich verbindet. Bei den meisten ist es der Wunsch, ein Zuhause zu haben. Eine Familie. Erfülle ihnen diesen Wunsch oder lass sie glauben, dass du ihn erfüllen kannst und sie gehören dir.«
Schweigend sah ich ihn an. Er wollte tatsächlich die Methoden der Regierung verwenden. Und ichwusste wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Mir war klar, dass er das für die beste und womöglich auch die einzige Lösung hielt. Vielleicht war das auch so. Aber sollten wir nicht zuerst all unsere Optionen durchgehen? Die Mutanten sollten nicht mehr leiden, als ohnehin schon. Und ganz gewiss würde Kieran sich damit keine Freunde machen.
Aber er war auch kein Redner. Kieran war niemand, der sich in die Menge stellte und mit Worten jonglierte, um die Menge für seine Sache gewinnen zu können. Doch wer sollte gehen, wenn nicht er? Der Krieg war gefährlich und nur bei ihm konnte ich mir sicher sein, dass er unversehrt zurückkehrte. Außerdem kannte er die Armee. Er wusste, worauf er sich einließ. Siebenundvierzig war auch in der Armee gewesen. Aber auch sie wirkte auf mich nicht wirklich einfühlsam, was solche Dinge anging. Schon einmal hatte Samuel sich über sie geärgert, weil sie lieber angriff, anstatt mit Worten zu kämpfen.
»Besprich das am Besten erst einmal mit Samuel.«, sagte ich schließlich. Mit ihm konnte er deutlich besser planen. Womit ich jedoch nicht gerechnet hätte, war der Blick, den Kieran mir zuwarf. Erschrocken zuckte ich zusammen. Noch nie zuvor hatte er mich so verächtlich angesehen.
»Samuel ist nicht mein Boss oder sonst jemand, der mir sagen kann, was ich zu tun und lassen habe.«, zischte er, wobei sich seine dunklen Augen zu Schlitzen verengten. »Niemand hat Einfluss auf meine Entscheidungen, Freya. Niemand schränkt mich ein. Diese Freiheit lasse ich mir nicht auch noch nehmen. Nicht einmal von dir.«
In seinen dunklen Augen sah ich etwas, das ich nicht benennen konnte, obwohl es mir so naheging. Alte, niemals verheilte Narben, vor allen Blicken verborgen. Und solch eine düstere Entschlossenheit, dass es mich beinahe zutiefst erschütterte. Was auch immer er erlebt hatte, woher auch immer diese strikte Weigerung kam, sich auf jemand anderen zu verlassen, das kam nicht von nichts. Augenblicklich hatte ich Mitleid mit ihm und war versucht, ihn einfach machen zu lassen. Kieran wusste, was er tat. Auch, wenn mir seine Vorgehensweisen nicht immer gefielen. Und dennoch kam in mir die Frage auf, wie Kieran jemals in einer gewöhnlichen Welt leben könnte. Sollten wir es wirklich schaffen, dass wir die gleichen Rechte wie die Menschen erhielten, würde er sich an bestimmte Regeln halten müssen. Und es würde immer Leute geben, auf die er hören musste. So war eine Gesellschaft aufgebaut. Und selbst der Premierminister konnte nicht tun und lassen was auch immer er wollte. Wie würde Kieran in so eine Gesellschaft passen? Das, wonach er suchte, würde er niemals finden.
»Ich will dir auch gar nichts verbieten.«, sagte ich leise. »Aber bitte warte noch.«
Skeptisch zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Worauf?«
»Ich habe zugestimmt, mich mit Mrs Campbell, einer Journalistin, zu treffen.«, verriet ich. »Eigentlich soll ich alleine kommen, aber mir wäre es lieber, wenn du mich begleiten würdest.«
Schweigend betrachtete er mich, wägte in seinen Gedanken ab.
»Das Treffen wäre Übermorgen. Und wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich um keine Falle handelt.«, fuhr ich fort. »Ich weiß, dass ich auch gut alleine klarkommen. Und trotz meiner Fähigkeiten wurde ich schon einmal gefangen genommen.« Das für meinen Geschmack noch nicht solange her, wie ich es gerne hätte.
»Na schön.«, willigte Kieran ein und ich wusste nicht, weshalb er das tat. Es nervte mich, wie wenig ich ihn und das, was er tat, einschätzen konnte. Aber so war er nun einmal. Daran würde sich vermutlich niemals etwas ändern. Oder es lag einfach daran, dass ich ihn, nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, noch immer nicht verstand. Obwohl ich geglaubt hatte, langsam den Durchblick zu haben, was ihn anging. Aber da hatte ich mich wohl geirrt. Wieso hatte er sich dazu entschieden, mit uns zu kommen, während er doch einfach ein ruhiges Leben bei den Severos hätte leben können. Kein schönes Leben, aber weniger gefährlich als dieses hier. Wieso hatte er sich für uns, die für ihn Fremde gewesen waren, entschieden?
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