Kapitel 102
Ungläubig sah ich ihn an. »Die Fernsehjournalistin will mit mir reden? Weshalb?« Mir fielen tausende Gründe ein, weshalb sie mit mir sprechen wollen würde. Es könnte als Falle gedacht sein, sodass die Regierung oder Ambrosia – je nach dem, für wen sie arbeitete – mich in die Finger bekommen könnte. Oder sie wollte mich, sollte ich kommen, auf irgendeine Weise provozieren, sodass ich sie oder ihr Team angriff. Dann hätte sie einen vermeintlichen Beweise dafür, wie gefährlich wir Mutanten waren, mit der Kamera eingefangen und könnte mich als eine gefährliche Bestie stellvertretend für alle Mutanten der Nation vorführen. Ganz schnell würden die Bemühungen Samuels und Enyas im Sand versinken.
»Sie hat Siebenundvierzig auf der Brücke erkannt, die sie wohl schon mehrmals bei unseren kleinen öffentlichen Demonstrationen gesehen hat. Daher glaubt sie, du würdest auch zu uns gehören.«
»Und weshalb möchte sie dann mit mir anstatt mit Siebenundvierzig sprechen?«, fragte ich misstrauisch. Auf keinen Fall wollte ich wieder in die nächste Falle und somit in das nächste Labor rennen. Für mein ganzes Leben hatte ich nun schon genug Labore von innen gesehen. Da musste kein weiteres mehr hinzukommen.
»Laut ihr – und sie heißt übrigens Octavia Campbell – hast du ihr das Leben gerettet.« Er wollte noch mehr sagen, doch ich ließ ihn nicht. Ungläubig lachte ich auf. Fassungslos schüttelte ich meinen Kopf.
»Gerettet?« So bezeichnete die gute Frau das also? Ohne mich hätte sie nicht erst gerettet werden müssen! »Ihr Kamerateam und ihr Hubschrauber hätten uns nur Probleme bereitet, hätten sie den Kampf auf der Westminster Bridge ausgestrahlt. Darum habe ich verhindert, dass es überhaupterst so weit kommen konnte. Sie waren Zivilisten und wie hätte das denn ausgesehen, wenn ich den Hubschrauber, der durch mich abgestürzt wäre, auch abstürzen lassen hätte?«
Aufgrund dessen, wie ich ihm die Situation schilderte, verzog der friedliebende Samuel sein Gesicht. »Freya, du hättest diese Leute nicht einfach sterben lassen.«, sagte er leise. »Selbst, wenn es sich nicht um ein Kamerateam gehandelt hätte, das uns Mutanten im Nachhinein schlecht geredet hätte. Also tu bitte nicht so, als sei allein das der Grund, weshalb du sie ohne weitere Schäden aus dem Verkehr gezogen hast. Sie waren Zivilisten und du hast ihnen nichts getan.«
»Aber gerettet habe ich sie auch nicht.«, erwiderte ich trotzig. Mit einem Mal kam ich mir wieder wie ein kleines Kind vor. Dass Audra neben mir saß und schweigend zuhörte, machte es nicht besser.
»Es ist doch egal. Mrs Campbell hat dieses Wort verwendet, weil es für sie die Wahrheit ist. Und das ist doch gut für uns, dass sie es so sieht.«, sagte Samuel seufzend. Er holte noch einmal Luft, ehe er fortfuhr. »Jedenfalls hat sie sich in ihren Sozialen Medien an uns gewandt und um ein Treffen gebeten.«
Ich runzelte meine Stirn. »Eure Gruppe hat keinen Account, oder?« Das wäre ziemlich gefährlich. Internetaccounts konnte man zurückverfolgen. So ein Risiko würden Samuel und die anderen doch nicht eingehen.
»Selbstverständlich nicht.« Entschlossen schüttelte er seinen Kopf. »Allerdings wird sie wohl ahnen, dass wir die Beiträge, die uns betreffen, auch durchlesen. Unter einen, den besonders viele Leute gesehen haben, hat sie sich an uns gewandt, in der Hoffnung, dass wir es sehen würden. Und wir haben es gesehen. Da sie weiß, dass wir ihr wohl kaum antworten können, hat sie auch direkt Ort und Zeitpunkt sowie die Bedingungen genannt.«
»Und die wären?«
»Zum einen, dass es du bist, die sie treffen wird. Und es ist wirklich gut, dass du wieder hier bist. Schließlich wussten wir nicht, wann und ob wir dich je wieder sehen würden. - Das ist eine große Chance, Freya.«, sagte Samuel eindringlich. »Ich weiß, dass es riskant ist und du schon viel zu viel durch gemacht hast, um dich wieder solch einem Risiko auszusetzen. Darum liegt die Entscheidung letztendlich bei dir. - Aber jetzt erst mal zum Rest. Mrs Campbell ist der Auffassung, dass du ihr, als du die Möglichkeit dazu hattest, nichts getan hast und sie deshalb keinen Grund sieht, weshalb du ihr jetzt etwas antun solltest. Darum möchte sie bloß dich treffen. Um zu verhindern, dass sie trotzdem von dir angegriffen wird, sollst du allein kommen.«
»Das wird ihr auch nicht viel helfen, sollte es so kommen.«, kommentierte ich stirnrunzelnd. Die Frau hatte mich schließlich schon in Aktion gesehen.
»Ich weiß. Aber sie fühlt sich damit besser. Und wie gesagt: Sie vertraut darauf, dass das Ganze friedlich abläuft.«, sagte Samuel. »Sie selbst wird auch allein kommen, damit es fair bleibt. Erst möchte sie mit dir allein sprechen. Sollte es gut laufen, würde sie ihren Kamera- und Tonmann dazu holen. Natürlich erst, nachdem sie das mit dir abgesprochen hat.«
Mir gefiel das nicht. Selbst, wenn sie die Wahrheit sprach und ein friedliches Gespräch wollte, konnte sie mir nicht garantieren, dass sie das Ton- und Videomaterial nicht für ihre Zwecke missbrauchte und so veränderte,dass es sich gegen uns verwenden ließ.
Samuel, der mir meine Sorge anzusehen schien, lächelte verstehend. »Ich weiß, dass das ein Risiko ist. Glaub mir. Oft genug bin ich diese Szenarien durchgegangen. Mrs Campbell schreibt, sie wolle mehr über uns Mutanten erfahren. Anscheinend haben ihr dein Vorgehen auf der Brücke sowie unsere Flugblätter zu Denken gegeben. Ich werde dich zu nichts zwingen. Und ich bin auch nicht so gutgläubig, dass ich nur die positiven Möglichkeiten dieses Treffens sehe. Natürlich kann alles auch gut gehen und unsere Sorge ist ganz unbegründet. Vielleicht möchte sie uns wirklich helfen. Und eine Journalistin, die Zugang zu den Nachrichten hat, wäre für uns wirklich von unschätzbarem Wert. Allerdings kann das alles auch unglaublich schief laufen und am Ende vernichtet uns ebendiese Frau.«
Mit einem Mal sah er sehr erschöpft aus. Samuel hatte schon lange bevor Lucius und ich bei ihm und Enya aufgetaucht waren, für die Rechte der Mutanten gekämpft. Er kannte alle Risiken und Gefahren. Aber er sah auch die Hoffnung und er wusste nicht, ob er es wagen sollte, auf sie zu vertrauen. Es wäre wirklich zu schön, wenn sich Mrs Campbell auf unsere Seite schlagen würde. Wo würden wir ohne Vertrauen hin kommen? Wir mussten den Menschen vertrauen. Darauf, dass sie sich zu uns stellten und mit uns kämpften. Gegen alles und jeden Misstrauen zu hegen würde uns nicht weiterbringen. Wir würden auf der Stelle stehen bleiben, bis all die Mühen schließlich untergingen und in Vergessenheit gerieten. Das Leben würde weitergehen wie bisher. Nichts würde sich verändern.
»Es ist deine Entscheidung, Freya. Mrs Campbell möchte mit dir sprechen. Nicht mit Siebenundvierzig, mir oder sonst jemandem. Ich werde dir da nicht reinreden. Denk in aller Ruhe nach. Keiner von uns wird dich zwingen.«
»Für wann hat sie denn das Treffen vorgeschlagen?«, fragte ich leise.
»Übermorgen um fünfzehn Uhr, unterhalb der Westminster Bridge.«, antwortete Samuel. »Aber ich glaube kaum, dass das der wahre Treffpunkt ist. Schließlich konnte das jeder lesen und garantiert stellt die Polizei dort Polizisten auf. Vielleicht ist das bloß ein Hinweis. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.«
Langsam nickte ich. Ja, auch ich glaubte nicht, dass das der tatsächliche Treffpunkt war. Aber sollte ich es wirklich tun? Liam wäre auf jeden Fall hingegangen. Mit der Hoffnung, etwas zu bewirken, hätte er dieses Risiko liebend gern in Kauf genommen. Bei dem Gedanken an ihn, zog sich mein Herz krampfhaft zusammen. Noch immer konnte ich einfach nicht glauben, dass er fort war. Für immer fort.
Im Kopf ging ich meine Optionen durch. Würde ich nicht gehen, verpassten wir vielleicht die Chance unseres Lebens und ich würde somit nicht nur mir die Hoffnung auf eine bessere Welt nehmen, sondern auch noch vielen anderen Mutanten. Ansonsten konnten wir hoffen, dass es unseren Erfolg bloß hinauszögerte. Doch um wie lange? Wie lange konnten wir noch so leben?
Würde ich gehen, könnte es ebenso gut eine Falle sein, die entweder bloß mir schadete, indem man mich gefangen nehmen würde oder es würde allen Mutanten schaden, je nach dem, was Mrs Campbell zu tun gedachte. Es war eine echte Zwickmühle.
»Du kannst doch Kieran mitnehmen.«, schlug plötzlich Audra vor. Augenblicklich zuckte ich aus meinen Gedanken hoch. Seit wir das Büro betreten hatten, hatte sie nicht wirklich viel gesagt.
»Freya soll allein kommen.«, rief Samuel in Erinnerung, doch zu seiner Verwirrung erschien ein Lächeln auf Audras Lippen.
»Kieran wird gar nicht erst gesehen werden.«, widersprach sie zuversichtlich. »Er ist großartig darin, unbemerkt zu bleiben.«
Meine Miene erhellte sich. »Das ist er tatsächlich!« Würde Kieran mitkommen, konnten wir zumindest ausschließen, dass ich wieder gefangen genommen werden würde. Wie wollte man einen Gegner bekämpfen, von dem man nicht wusste dass er da war, geschweige denn, dass man ihn nicht besiegen konnte. Außerdem war er unglaublich schnell. Zudem bedeutete das, selbst wenn man mich provozieren sollte, könnte noch immer Kieran angreifen, anstatt ich und ihn würde man, im besten Fall, auf dem Video gar nicht erst zu sehen bekommen. Also konnte man das schwer gegen mich und die anderen Mutanten verwenden. Zumindest wären unsere Chancen tatsächlich höher, unbeschadet da heraus zu kommen, sollte sich Mrs Campbell doch als eine Mutanten-Gegnerin entpuppen.
»Er ist ein Chamäleon.«, informierte ich Samuel, als ich seinen skeptischen Blick sah. Dass er dazu noch kugelfest und schnell wie ein Blitz war, verschwieg ich vorerst. Kieran war unsere Geheimwaffe. »Er wird nicht wirklich unsichtbar, aber er ist unfassbar gut darin, sich der Umgebung anzupassen, sodass er in den meisten Fällen nicht wahrgenommen wird.« Vor allem, wenn man nicht wusste, dass er da war.
»Überträgt sich das auch auf seine Kleidung?«, wollte Samuel wissen, woraufhin Audra und ich nickten. »Also schön. Solltest du dich entscheiden, diese Journalistin zu treffen, würde Kieran dich begleiten.«
Mit der Aussicht, dass er mitkommen würde, erschien es mir auf einmal weniger riskant, Mrs Campbell zu treffen. Also nickte ich. »Gut. Dann werde ich gehen.«, entschied ich.
»Bist du sicher? Du musst dich nicht sofort entscheiden, du kannst auch noch etwas warten, um genügend Zeit zu haben, alles in Ruhe abzuwägen.« Irgendwie kam es mir so vor, dass er ahnte, dass bei uns etwas Schlimmes geschehen war, weshalb er mir erst einmal etwas Ruhe gönnen wollte. Allerdings hatte es auch seinen Reiz, nicht erst einmal über etwas nachzudenken, denn so konnte ich mich voll und ganz auf die Vorbereitungen konzentrieren und weniger mit mir selbst beschäftigen. Und so konnte ich mich davon ablenken, dass Liam nicht mehr bei uns war. Dass er uns grausam entrissen worden war.
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