Kapitel 101.3
Ein wenig verloren standen wir davor und blickten zu dem Gebäude. Mit einem Mal fühlte ich mich unglaublich müde. Alle Energie war aus mir gewichen und meine Gedanken waren leer. Ich wünschte mir nichts anderes, als mich endlich in einem Zimmer verkriechen zu können und für mich allein zu sein.
Audra fand eine Klingel und betätigte sie. Danach geschah erst einmal gar nichts. Ihr und mir war die Nervosität deutlich anzusehen, nur Kieran schien gelassen wie immer. Ich fragte mich nicht mehr länger, wie er das machte.
»Sind sie wirklich hier?«, fragte Audra zweifelnd, als nach fast fünf Minuten noch immer nichts geschehen war. Niemand antwortete. Angespannt schaute ich auf das stille daliegende Haus und hoffte, dass sich endlich irgendetwas tat. Enya würde uns keine falsche Adresse geben. Wir mussten hier richtig sein. Und natürlich konnte nicht sofort jemand auf die Klingel reagieren. Nachdem was geschehen war, mussten sie vorsichtig vorgehen. Dennoch wunderte es mich, dass sie so lange brauchten. In Morvah waren auch wir vorsichtig gewesen und doch haben wir schneller gehandelt, als es bei uns geklingelt hatte. Es war doch nichts passiert, oder?
Ehe ich in meinen Sorgen ertrinken konnte, schwang das Tor auf einmal ohne einen Laut von sich zu geben auf. Kurz warfen wir einander skeptische Blicke zu, bevor wir auch schon eintraten und sich das Tor sofort wieder hinter uns schloss. Vor uns wurde die Haustür einen Spalt breit geöffnet und ein leicht langgezogenes Gesicht wie auch dunkel blaue Augen kamen zum Vorschein. Als sie uns erkannte, erschien ein Lächeln auf ihren Lippen und sie öffnete die Tür komplett. Die schlanke, hochgewachsene Gestalt mit den gewellten dunkelbraunen Haaren war Varya. Es kam mir so vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, dabei waren es bloß ein paar Tage gewesen.
»Hallo, Varya.«, grüßte ich und rang auch mir ein Lächeln ab, was nicht ganz gelingen wollte. Schnell huschten wir alle hinein und sogleich schloss sie auch schon die Tür.
»Hallo.«, wiederholte sie. Kritisch musterte sie Audra und Kieran, wobei sie von Kieran nicht minder gemustert wurde. Derweil besah ich mir das Innere des Hauses. Der Flur war weniger ein Flur, als ein kleiner Raum mit Kommode und Jackenständer. Ansonsten war er in hellen Farben gehalten und leer, weshalb es dementsprechend viel Platz gab.
»Wartet bitte kurz, ich hole Samuel.«, sagte Varya und verschwand auch schon durch eine von zwei Türe, die von hier abzweigten. Es dauerte nicht allzu lange, da trat Samuel durch die Tür, durch die Varya zuvor verschwunden war.
Sein vor Sorge ernstes Gesicht erhellte sich, als er mich sah. »Freya!«, sagte er und ein bedrücktes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen.«
»Ach, sind wir dir also doch auf den Geist gegangen?«, versuchte ich, die niedergeschlagene Stimmung aufzuheitern und scheiterte kläglich. Samuel hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig.
»Deine frühe Rückkehr bedeutet, dass es Schwierigkeiten gibt.«, sagte er sachlich und seufzend nickte ich. Samuels Blick schwenkte zu Kieran und Audra und schnell begriff er, dass Lucius nicht bei uns war. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, doch genau wie seine Cousine zuvor fragte er nicht weiter nach.
»Samuel Bishop, Nummer einhundertsechsundsechzig.«, stellte er sich vor und reichte Audra sowie Kieran die Hand.
»Audra Harris. Freya und Li-« Sie stockte, blickte zu Boden. Ich konnte sehen, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte und um Fassung rang. »Freya wohnt bei mir.« Wieder schlug sie die Augen nieder. »Wohnte.«, korrigierte sie leise und war in Gedanken ganz offensichtlich bei Aldric und unserem Haus im Golden Quarter.
»Sie sind eine wunderbare Frau, Mrs Harris.«, sagte Samuel. »Ich wünschte, es würde mehr Menschen wie Sie geben, dann wäre einiges leichter. Aber wir tun trotzdem unser Bestes, damit Sie und Freya hoffentlich bald schon ein gewöhnliches Leben leben können.«
»Eure Aktion wurde heute schon im Radio kommentiert.«, sagte Audra.
»Leider von der falschen Person.«, meinte Samuel und sein Gesicht verfinsterte sich. »Wir können nur hoffen, dass die wenigsten Dorothea Magpie Glauben schenken.« Nun wandte er sich an Kieran, der ihn die ganze Zeit über kritisch gemustert hatte, als würde er versuchen, den anderen Mutanten einzuschätzen.
»Kieran Roth. Neununddreißig.«, stellte Kieran sich knapp vor und Samuel entgleisten die Gesichtszüge.
»Du gehörst zu den ersten Mutanten überhaupt!«, rief er und starrte Kieran fassungslos an. »Und bist du nicht einer der ersten, der im Krieg lernte, seine Gefühle auszuschalten?«
»Du warst in der Armee?«, stellte Kieran trocken die Gegenfrage.
»Nein. Nicht ich.«, sagte Samuel. »Aber ich kenne jemanden. Sagt dir die Nummer Siebenundvierzig etwas?« Zu seiner Enttäuschung schüttelte der andere Mutant nur den Kopf. »Sie erinnert sich jedenfalls an dich. Aber das Regiment 5 sagt dir etwas?« Widerwillig nickte Kieran. »Dachte ich es mir doch. Nun ja, Siebenundvierzig diente dort und nachdem durch dich klar wurde, dass wir alle dazu in der Lage sind, unsere Gefühle abzuschalten, tat Siebenundvierzig es dir gleich.« Samuel seufzte. »Seither möchte sie nicht mehr bei ihrem Namen, sondern bei ihrer Nummer genannt werden.«
Augenblicklich wurde Kieran hellhörig. »Nur bei ihrer Nummer?«, harkte er nach. »Hat sie ihre Gefühle noch immer nicht wieder?«
»Doch, hat sie.«, antwortete Samuel. »Viel hat sie uns über all das nicht erzählt, nur dass ihr Name aus einer anderen Zeit stammt und sie sich nicht mehr mit ihm identifizieren kann. Vielleicht wäre es auch für dich ganz interessant, dich mit ihr auszutauschen. Und ich bin mir sicher, dass es ihr viel bedeuten würde.«
Kieran wirkte auf mich nicht wie jemand, der sich zu etwas verleiten ließ, nur weil es für jemand anderen vielleicht persönlich wichtig war. Er war kein großer Redner, mehr ein Beobachter. Dennoch stimmte er zu meiner Überraschung mit einem einzigen Schulterzucken zu, woraufhin Samuel ihm den Weg zu Siebenundvierzig beschrieb. Mit einem letzten Blick zu mir und Audra verschwand er tiefer im Haus.
Und auch ich erinnerte mich wieder daran, wie Siebenundvierzig sich mir vorgestellt hatte. Sie hatte bezüglich ihres Namens etwas ähnliches gesagt. Dass auch sie im Krieg hatte kämpfen müssen tat mir unglaublich leid. Dennoch erstaunte es mich, dass Kieran nicht der einzige Mutant war, der dazu in der Lage gewesen war, seine Gefühle zurück zu erlangen. Immer wieder bekamen wir Schauergeschichten von den Gefühllosen zu hören, doch sie glichen mehr einem Märchen, als dass sie für uns wirklich in die Realität gehörten.
»Trotz der Umstände, unter denen du nun wieder hier bist, ist es gut, dass du zurück bist.«, wandte Samuel das Wort nun an mich.
»Ach ja?« Stirnrunzelnd sah ich zu ihm.
Er nickte. »Wir haben einiges zu besprechen. Aber komm erst einmal herein. Das ist keine Angelegenheit, die man hier im Flur klärt.« Also folgten wir aus dem Flur heraus, durch das Wohnzimmer, das deutlich größer war, als das von Enya, wobei uns einige Mutanten begegneten und anschließend stiegen wir eine Treppe hinauf. Das ganze Haus war groß, ebenso wie die Räume. Es gab viel Platz, alles war hell und modern eingerichtet und eigentlich gab es viele große Fenster, durch die das Sonnenlicht hereinfallen konnte. Allerdings hatten wir schon draußen bemerkt, dass jedes einzelne davon mit einem Vorhang verdeckt worden war.
Schließlich öffnete Samuel eine weitere Tür, die offensichtlich in eine Art Büro führte. »Setzt euch.«, sagte er. Auch dieser Raum war groß und geräumig. Ein einzelner schwerer Schreibtisch aus weißem Holz stand in der Mitte, während die Wände vor lauter Bücherregalen nicht mehr zu erkennen waren. Hinter dem Schreibtisch stand ein großer schwarzer Drehstuhl, der mehr nach einem Sessel als nach einem Schreibtischstuhl aussah. Genau dort ließ Samuel sich nieder. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, waren zwei schwarze Sessel platziert worden. Dort setzten Audra und ich uns.
Hinter Samuel war eine große Glasfront und durch die zugezogenen Vorhänge fand nur spärlich Licht seinen Weg hinein. »Du wolltest irgendetwas besprechen?«, ergriff ich das Wort, woraufhin Samuel nickte.
»Die Flugblatt-Aktion hat schneller Wellen geschlagen, als wir es alle erwartet hätten.«, begann er. »Es ist unglaublich. Noch nicht einmal eine Woche ist vergangen und schon wird in den Sozialen Medien und in den Nachrichten über uns diskutiert.« Ja, das wusste ich bereits. Auch, dass das nicht wirklich das war, worüber er mit mir sprechen wollte. Außerdem war ich mir sicher, dass er Audra nur hatte mitkommen lassen, weil sie hier sonst niemanden kannte und auch Kieran gerade beschäftigt war. Immerhin konnte Samuel nicht sagen, wie Audra, die ein Mensch war, auf fremde Mutanten reagieren würde.
»Erinnerst du dich an die Westminster Bridge?«, fragte er schließlich.
»Natürlich.«, erwiderte ich. Wie könnte ich mich nicht daran erinnern? Es war noch nicht allzu lange her und es war der Tag gewesen, an dem Lucius, Varya und ich aus Clausens Labor geflohen waren. Die Polizei hatte uns jeden Fluchtweg abgeschnitten, kaum, dass wir auf der Brücke waren. Dort war auch Siebenundvierzig zu uns gestoßen und hatte uns geholfen, zu entkommen.
»An dem Tag war dort auch der Hubschrauber eines Nachrichtenteams.«, sagte Samuel.
»Ich erinnere mich.« Mithilfe einer Eissäule hatte ich ihn uns vom Leib gehalten, sodass er abgestürzt war. Die Themse hatte ich gefrieren lassen und mithilfe meines Eises das Schlimmste verhindert.
»Nun ja.« Nachdenklich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Die Fernsehjournalistin, die Passagierin des Hubschraubers war, würde gerne mit dir sprechen.«
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