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15 Jahre später; Tirh, Hauptstadt von Mitena
Die Luft war warm und zum schneiden dick. Das Publikum in der undurchdringlichen Dunkelheit hinter den Scheinwerfern schwieg wie ein Mann und hatte den Kopf geneigt. Ihre Hände lagen jeweils auf den Schulter ihres rechten Nebenmannes und alle lauschten, als José die letzte Strophe der Nationalhymne sang.
Nur durch Mitenas Hand,
ihrer Ordnung in der Welt,
gibt es Sicherheit im Land.
Das ist, was uns gefällt.
Singt laut, ihr Leut'
Singt, was euch freut.
Singt für den Staat Mitenas!
Und dann kehrte Stille ein. Eine ganze Minute konnte José seinen eigenen Atem hören, sein eigenes Blut in den Ohren, denn es wurde geschwiegen. Aus Respekt und Ernsthaftigkeit für den Staat Mitenas. Wie jedes Mal nach der Nationalhymne, die unter allen Umständen jedes Konzert abschloss und das letzte Lied war, was gesungen wurde. Die Leute kannten sie auswendig, hatten jedes Wort schon unzählige Male gehört und selbst gesprochen. Dennoch blieb es das liebste Lied, das erste und das letzte was jeder Bürger Mitenas hörte.
Nachdem die Minute vorbei war holte José die Menge mit ein paar heftigen Gitarrengriffen zurück, spielte eine kurze rockige Melodie, die die Menge wieder zum Gröhlen brachte, während sie ihre Starre von zuvor abschüttelten. Als er endete hob er die Hände zum Abschied, verneigte sich und bedankte sich bei seinem Publikum. Gefolgt von Blumen, Unterhosen und Süßigkeiten, tatsächlich waren auch einige echte Früchte darunter, wurde der Vorhang langsam geschlossen. José verschwand total erschöpft, aber freudig strahlend und sich immer wieder bedankend hinter schwerem rotem Stoff.
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Backstage, in dem kleinen abgedunkelten Raum ohne Fenster, drückte José den Kolben den Spritze mit zittrigen Fingern runter. Die farblose Flüssigkeit verschwand in seinen Venen und der Schwindel und die Übelkeit verschwanden mit jeder verstreichenden Sekunde wie von Zauberhand. Er wurde ruhiger, sein Herzschlag normalisierte sich, sein Zittern stoppte. Erleichtern, aber noch immer erschöpft lehnte er sich in dem abgessesenen Sofa zurück und schloss für ein paar Sekunden die schmerzenden Augen.
"Der Auftritt war zwei Minute und achtunddreißig Sekunden zu lang, José. Deine HealthShots reichen jedoch nur für drei Stunden. Dein letzter Shot war-" "Vor zwei Minuten.", unterbrach José die Assistentin seines Managers, Livia, die mit Tablet und Anzug hereingestürmt war. Sie sah lächerlich aus, so zurechtgemacht und aufgetakelt als wäre sie Jemand. Als würde man nicht an dieser zierlichen, absolut langweiligen Person vorbeigehen, wenn man sie auf der Straße traf. Außerdem wirkte sie zu jung, um professionell zu sein. Gerade von der Schule vielleicht.
José schloss die Augen wieder. "Darf ich dich daran erinnern, dass du-" "Nein, darfst du nicht.", unterbrach er sie wieder, nachdem sie mit geblähten Nasenflügeln all ihren Mut zusammengenommen hatte wieder zu sprechen. Nun hatte er sie wieder zum Verstummen gebracht, empört stand sie da und sah ihn einen Moment an. Ihre roten Lippen zu einem Strich zusammengepresst. "Dein Muttermal ist zu sehen. Deck es wieder ab!", sagte sie nur burschigkos und tippte dann etwas auf dem Tablet ein. Das Muttermal das sie meinte war eine kleine Zahl mit vier Buchstaben seitlich an seinem Hals. Es war seine Nummer aus der Farm, das Tattoo, das jeder Blüher kurz nach seiner Geburt bekam und die ihn als eine niedere Lebensform auszeichnete. Keiner seiner Fans sollte es je zu sehen bekommen, deshalb überdeckte er es üblicherweise mit einem Puder.
"Das Konzert ist vorbei und das Hotelzimmer wird schon keinen Anstoß daran nehmen.", entgegnete José müde. "Außerdem bin ich dieses Versteckspiel leid. Sollen die Leute doch sehen was ich bin, wen sie da anjubeln. Wird in Mitena Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nicht ausdrücklich gefordert? Warum darf ich also nicht ehrlich mit meinen Fans sein und ihnen zeigen, dass auch Blüher zu mehr in der Lage sind als arbeiten und dienen?" Er hatte diese Frage schon zu oft gestellt, er stellte sie, seitdem er denken konnte. Aber heute weinte und tobte er nicht mehr dabei, wie er es früher oft getan hatte. Früher, als er noch gehofft hatte, das irgendwann eine andere Antwort kam, als die Unmittelbare. Heute war er schlauer und abgeklärter. Er stellte die Fragen zwar noch immer, aber tat es nicht mehr aus gutherziger Hoffnung, er tat es weil es die Leute störte es ihm immer und immer wieder zu erklären.
"Absolut nicht! Unter gar. Keinen. Umständen! Das wäre ein Skandal, alle Nachrichten würden sich den Mund über uns zerreißen. Die Leute würden dich boykottieren und von allen Bühnen verbannen. Dann wäre es aus. Für dich und für uns!", ereiferte sich Livia entsetzt. Sie war noch nicht lange hier, José hatte ihr die Frage noch nicht oft genug gestellt, deshalb regte sie sich noch darüber auf. "Und ich würde zurück auf die Farm geschickt werden.", fügte er mit den Worte seines Managers hinzu. "Ja, unweigerlich!", bestätigte sie nickend. "Und dort würde ich bestraft werden." "Höchstwahrscheinlich." "Und dann würden sie mich ausschalten.", endete José ernst in die Augen der Frau blickend. Sie stockte, schien zu überlegen, ob sie noch etwas sagen sollte, ob sie auch nun nicken sollte.
Schließlich räusperte sie sich und sagte ausweichend: "Dazu kann ich nichts sagen. Es ist jedoch leidig sich über das zu unterhalten was sein könnte, aber wahrscheinlich sowieso nicht eintrifft. Es sind sinnlose Gedanken die den Kopf einnehmen. Deck dein Muttermal jetzt wieder ab und zieh dir etwas präsentables an, der Fahrer wird in wenigen Minuten hier sein." José zog die Augenbrauen hoch. "Steht etwa noch ein Termin an?" Die Frau nickte und ein stolzes Lächeln umspielte nun ganz plötzlich ihren Mund. Möglicherweise war sie aber auch nur glücklich das sie endlich das Thema wechseln konnte. "Vor etwa einer Stunde hat der Staatspräsident von Mitena, Alvaro Carlo Pérez höchst persönlich! angerufen. Er sagte, er hätte das Konzert live im Publikum verfolgt und wäre ein großer Fan deiner Stimme und deiner Lieder. Für heute hat er dich eingeladen mit ihm und einigen anderen hohen Staatsministern nach dem Konzert zu Abend zu essen und wäre sehr erfreut, wenn du als sein Sondergast erscheinen kannst. Pablo hat dem natürlich sofort zugesagt und mich in Kenntnis gesetzt. Eine derartige Ehre ergibt sich nicht so schnell wieder, zumal es die höchste Werbung ist, wenn das Staatsoberhaupt gutes von dir hält. Vielleicht kannst du den Herren deine Stimme im Privaten noch einmal präsentieren, wenn sie das wünschen. In jedem Fall ist es eine Einladung, die wir nicht ausschlagen können.", erzählte Livia beinahe überschwänglich und konnte ihre Aufregung darüber nicht verbergen, sodass sie noch jünger wirkte.
José zog die Augenbrauen noch etwas weiter nach oben. Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet. Der Staatspräsident wollte seine Gesellschaft? Das kam ihm total absurd vor, wie ein Scherz, den jemand gleich offenbaren würde und zu dem er herzlich lachen würde. Und gleichzeitig drängte sich ihm die Vorstellung von einem großen runden Tisch auf mit vielen dicken gesichtslosen Politikern und ihm, wie er am Kopfende des Tisches wie ein verschüchterter Junge ein Mikrofon in der Hand hielt, aber kein Wort herausbrachte. Wer war er denn schon? Irgendso ein Loser, der Glück gehabt hat nicht wie sein Vater zu enden, sollte sich mit dem wichtigten Mann ganz Mitenas zum Abendessen treffen? "Los jetzt! Wo sind die Visagisten, wenn man sie braucht?", fragte Livia laut in den Raum, der bis auf José leer war.
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