45 - Antrag
R U N E
In den Nächten nach unserem Wiedersehen schlafe ich schlecht.
Unruhig drehe ich mich von einer Seite zur anderen, das feine Bett ist plötzlich zu weich und ich fühle mich, als würde ich darin versinken. Oder es sind meine Gedanken, die mich in die Tiefe ziehen, die mir den Schlaf rauben, mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich weiß es nicht. Ich kann nur schlaflos in der Dunkelheit liegen und an die Decke starren und versuchen, nicht die ganze Zeit an David zu denken.
An seine Augen, an das erschrockene Erkennen darin. An seine Umarmung, fest und sicher. An seine sorgenvollen Worte, an den Ausdruck, als ich ihm die Wahrheit meiner Wünsche gestand. An seine Lippen, so verlockend und jetzt so fern. Und gleichzeitig zieht sich bei der Erinnerung an den Moment alles in mir zusammen. Denn da war der Mann mit den leblosen Augen.
Kyle Brighton. Davids Vater.
Noch immer zittere ich, wenn ich glaube seine Finger an meinem Kinn zu spüren. Noch immer ist da der Hass in mir, als er sich über meine Haarfarbe amüsierte und Isabelles Namen in den Mund nahm.
Isabelle.
Es dauert ein paar Nächte, bis ich ihren Namen flüstern kann, ohne meine Emotionen zur Seite zu drängen. Doch mit jeder Nacht die vergeht, komme ich besser mit der Wahrheit zurecht. Die Beweise sind so eindeutig wie die Tätowierung auf meiner Haut. Doch Gefühle sind nicht einfach zu verstehen und ich hatte nie eine Person, die ich Mutter nennen konnte. Oder so nennen wollte.
Und langsam, ganz langsam, wächst in mir das Verlangen, Isabelle in diesem Licht zu sehen. Nicht nur als Namen der Rebellen, als Geschichte des Aufstands. Sondern als Mutter, die ich nie kennengelernt habe, die aber durch mich weiterlebt. Denn ich habe den starken Verdacht, dass wir uns nicht unähnlich sind.
***
„Guten Morgen", begrüßt mich Deidre freundlich in der Früh, als ich den Weg zum Salon finde. Es ist ziemlich zeitig am Morgen und ich kann Marc noch nirgends sehen.
„Bist du gerade erst angekommen?", frage ich die braunhaarige Frau und mustere ihre Frisur, welche ein wenig durcheinander ist. Verlegen fährt sich Deidre durch das Haar und richtet ihren strengen Zopf.
„Ja, vor wenigen Minuten. Doch ich bin heute ein wenig spät dran. Ich muss das Frühstück gleich herrichten." Etwas hektisch reißt sie die Türe auf, durch welche man zur Küche kommt.
„Lass mich dir helfen", rufe ich und folge ihr. Gemeinsam decken wir den Tisch für zwei Personen ein, Marc und mich, wie in letzter Zeit üblich. Des Öfteren habe ich versucht, Deidre dazu zu überreden, mit uns zu essen, doch sie winkt immer ab. Irgendwie fühle ich mich dennoch verpflichtet, der jungen Frau bei ihren Tätigkeiten zu helfen. Schließlich ist es wegen Deidre, dass ich überhaupt hier bin und bleiben kann.
Während ich gerade einen gut gefüllten Brotkorb auf den Tisch stelle, erscheint Marc Zwin. Gut gelaunt begrüßt er mich und nimmt lächelnd Platz. Inzwischen knurrt mein Magen und ich lasse mich ihm gegenüber nieder. Ich greife nach der Teekanne und schenke mir ein. Deidre ist bereits wieder in die Küche verschwunden. Gemächlich beobachte ich, wie sich der ältere Mann ein Brötchen mit Butter und Marmelade bestreicht und einen Zuckerwürfel in seinen Kaffee wirft. Obwohl ich in den ersten Tagen von den Köstlichkeiten der Gesellschaft überwältigt war und beinahe alles probierte, bin ich nun wieder zu meinem gewohnten Frühstück zurückgekehrt: Brot, ein bisschen Butter, heißer Tee.
Wir unterhalten uns ein wenig. Marc erzählt mir, dass er bisher keine Mitteilungen der Gesellschaft erhalten hat – wegen mir, Caroline Zwin, seiner vermeintlichen Tochter. Noch gibt es keine Folgen für sein Handeln, doch wir beide wissen, dass Kyle Brighton über Caroline Bescheid weiß. Deidre kommt kurz in den Salon, um uns nach unserem Befinden zu befragen, da unterbricht ein lautes Klingeln unsere Gemütlichkeit.
Ich fahre zusammen und mein Griff um das Buttermesser verstärkt sich augenblicklich. Auch Deidre erstarrt. Beinahe rutscht ihr der Teller, den sie abservieren wollte, aus den Fingern. Mit großen Augen sieht sie zu Marc. Sie deutet bedeutungsvoll auf mich und weist zur Tür der Küche. Sofort verstehe ich, was sie meint. Ich schiebe meinen Sessel nach hinten und stehe auf.
„Versteck dich. Niemand darf dich so sehen", raunt Deidre mir zu, als sie mir den leeren Teller in die Hand drückt. Trotz meiner Dienstkleidung ist mein Haar so wild wie eh und je und meine Tätowierung durch die hochgekrempelten Ärmel unbedeckt. Ich schlucke und sehe zu dem Platz, an dem ich gesessen bin. Marc Zwin lebt alleine. Er sollte nicht mit Dienstboten oder seiner Tochter frühstücken. Und in meinem derzeitigen Aufzug würde ich weder als Dienstbotin noch als Caroline durchgehen. Er begegnet meinem Blick und macht nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich gehe zur Eingangstür", verkündet Deidre leise und streicht ihre Dienstkleidung glatt. Sie schenkt uns ein zuversichtliches Lächeln und sowie sie aus dem Raum ist, verschwinde auch ich aus dem Salon. Nervös lehne ich mich neben die Türe an die Wand und versuche, Deidres Stimme am Eingang der Villa auszumachen. Einige Minuten vergehen. Ich höre nur das Klappern der Kaffeetasse, die Marc unsanft abstellt.
„Herr?", dringt dann ihre Stimme bis zu mir. „Herr Zwin?" Höflich ruft sie nach Marc. Ein Sessel schabt über den Boden. Marc erhebt sich. Mein Herz pocht schneller und ich weiß, dass ich bis nach hinten in die Vorratskammer verschwinden sollte, doch ich bleibe an Ort und Stelle. Undeutlich vernehme ich Stimmen aus der Ferne, leicht hallen sie durch den Marmorgang der Villa. Ich glaube, Marcs vehementen Tonfall zu hören, kann aber die einzelnen Worte nicht verstehen. Mein Atem ist unregelmäßig. Kommt jetzt die Strafe der Gesellschaft? Wollen sie mich ausfindig machen? Und wenn sie dann bemerken, dass es eigentlich gar keine Caroline Zwin gibt? Sondern nur ein Mädchen aus der Wildnis, welches sich mitten in die Gesellschaft geschlichen hat?
Mit durchdringendem Knall wird die schwere Eingangstür geschlossen. Schlurfende Schritte nähern sich dem Salon. Mein Gehör ist von den vielen Jahren der Jagd gut geschult. Es sind nur zwei Personen, erkenne ich erleichtert. Sie betreten den Salon. Ich höre angespanntes Schweigen und wage es nicht, von selbst mein Versteck zu verlassen.
„Rune?" Deidre klopft kurz an die Holztüre. „Komm. Die Luft ist rein." Zögerlich drehe ich den Türknauf und trete heraus. Der Blick der braunhaarigen Frau ist seltsam trüb. Marc sitzt schon wieder am Tisch. In seinen Händen befindet sich ein großes, weißes Kuvert. Ich fasse nach der Stuhllehne und setze mich wieder. Keiner sagt ein Wort.
„Was ist passiert? Bin ich aufgeflogen?", frage ich drängend. Keiner antwortet mir, Marc starrt auf das Kuvert in seiner Hand. „Ich kann sofort die Villa verlassen und ..."
„Nein, Rune. Du bist nicht aufgeflogen", meint Deidre leise.
„Was denn dann?"
Marc schürzt die Lippen. „Deine Tarnung ist besser als gedacht. Du bist sicher in der Gesellschaft. Mehr als das." Verwirrt sehe ich an und will etwas erwidern, da streckt er mir das Kuvert entgegen. „Mach es auf", ist alles, was Marc sagt.
Ich schlucke und nehme das steife Papier an mich. Es ist komplett weiß, aus einem dicken, edlen Karton gefertigt. Unwillkürlich denke ich an das selbst geschöpfte Papier der Lihai, welches die Kinder manchmal aus Spaß herstellen. Der Vergleich ist absurd, denn dieses Kuvert ist glatt und elegant. Ich kann keine Schrift darauf erkenne. Umständlich löse ich die obere Lasche, die gut verklebt ist, mit den Fingern. Ich spüre die neugierig und angespannten Blicke von Deidre und Marc auf mir ruhen. Schließlich ist die Lasche geöffnet. Innerhalb des Kuvert liegt ein festes Stück Papier.
Mit spitzen Fingern ziehe ich es heraus. Der obere Rand, der mich ansieht, ist mit Gold verziert. Immer weiter kommt es zum Vorschein, das edle Papier mit dem geschnörkelten Goldrand. Darauf ist eine verschnörkelte Schrift gedruckt, schwarz, fein, geschwungen. Meine Augen gleiten über das Schreiben. Und können nicht fassen, was sie da lesen.
Caroline Zwin wird die Ehre zuteil, in eine der einflussreichsten Familien der Gesellschaft einzuheiraten.
Die Verlobungsfeier findet heute statt. Caroline wird um 14:00 Uhr abgeholt. Ein tadelloses Auftreten wird erwartet.
Die Hochzeit zwischen David Brighton und Caroline Zwin ist auf den 02. März, 17:00 Uhr angesetzt. Jegliche Kosten übernimmt die Familie Brighton.
Kyle Brighton
Das Papier entgleitet meiner Hand. Ich lasse es fallen, als ich hätte ich mich daran verbrannt. Es segelt durch die Luft, bis es neben meinem Teller zum liegen kommt. Meine Lunge findet die Luft nicht. Mein Körper ist still. Meine Gedanken rasen.
Und nur mühsam findet mein Herz wieder seinen Rhythmus, Schlag für Schlag für Schlag. Das ist ein Heiratsantrag. Ein Antrag, wie es in der Gesellschaft üblich ist. Von Kyle Brighton.
Um ihn zu heiraten.
Um David zu heiraten.
Heirat.
Das Wort ist mir bekannt und doch so fremd. Ich kenne seine Bedeutung, doch ich verstehe den Sinn nicht, den es mir auferlegen soll. Mir, Rune. Und mir ... Caroline. Ich schlucke schwer. Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht real sein.
Deidre und Marc starren mich an und ich bemühe mich, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Behutsam langt Marc nach dem Schreiben und überfliegt es. Seine Mundwinkel verziehen sich komisch. Es dauert eine Weile, bis irgendwer von uns seine Stimme wiederfindet.
„Du warst als Caroline Zwin so überzeugend, dass selbst die Ältesten dir glauben", haucht Deidre. „Du hast einen Antrag von ihm bekommen, Rune. Von David Brighton", murmelt sie fassungslos.
„Nicht von ihm. Von seinem Vater", erwidere ich tonlos. „Und das ist kein Antrag. Das ist ein Befehl."
Marc seufzt. Er legt den Brief zur Seite. „So ist die Gesellschaft, Rune. Die Männer machen sich die Hochzeiten untereinander aus oder erteilen die Befehle dazu", meint er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Kyle Brighton ist einer der Ältesten. Er sucht sich aus, wen sein Sohn heiratet, nicht umgekehrt." Er sieht mich ernst an. „Sein Wort ist Gesetz."
„Und ... was sollen wir tun?", fragt Deidre, die sich nun zu uns an den Tisch setzt. Ich nippe an meinem Tee, doch das Wasser ist nur noch lauwarm. Marc gibt keinen Laut von sich und bewegt unruhig seine Kaffeetasse.
„Ich weiß es nicht", antwortet er schließlich. Ich starre in die Gegend, kann die Information noch immer nicht verarbeiten. David soll mich heiraten. Ich soll David heiraten. Wäre die Gesellschaft die Wildnis, wäre ich glücklich, mein Leben mit ihm verbringen zu können. Doch wir sind nicht unter den Bäumen. Sondern innerhalb der Mauern.
„Caroline Zwin müsste dieser Aufforderung widerstandslos folgen. Sie ist ein Nichts in der Struktur der Gesellschaft", bringt Deidre zum Ausdruck. „Kyle Brighton will seinen Sohn damit vor den Augen der ganzen Gesellschaft demütigen." Ihr Blick richtet sich auf mich. „Aber du bist nicht Caroline. Du bist Rune."
Plötzlich richtet sich Marc auf. „Was hast du gerade gesagt?" Auf seiner Stirn erkenne ich kleine, konzentrierte Falten.
„Was denn?"
Der ältere Mann legt den Kopf schief. „Vor den Augen der ganzen Gesellschaft", wiederholt er Deidres Worte und die junge Frau zieht die Luft ein, die Augen groß. „Du hast recht", wispert sie ungläubig.
„Was denn?", schalte ich mich ein, ich scheine nicht zu verstehen worauf sie hinauswollen.
„David ist einer der Erben der Ältesten. Ja, er hat mit seiner Flucht für großes Aufsehen gesorgt, doch Kyle Brighton gliedert ihn wieder in das System ein. Und ich bin mir sicher, dass seine Hochzeit keine kleine Veranstaltung sein wird. Jeder soll mitbekommen, was mit David geschieht. Wie er eine schändliche Tochter heiratet."
„Vor den Augen der ganzen Gesellschaft", wiederhole auch ich die Worte und auf einmal weiß ich, was sie meinen.
Deidre nickt zustimmend, sie hat es in meinen Augen erkannt. „Die Hochzeit wäre die Chance der Rebellen. Wir haben die Informationen über die Morde. Wir haben dich, Isabelles Tochter. Und wir haben David, der mit Sicherheit auch auf unserer Seite ist."
„Mit Sicherheit", stimme ich ihr zu, voller Überzeugung.
Deidre schnappt sich den Brief mit dem Antrag. „Am zweiten März ist die Hochzeit. Ich werde so schnell wie nur möglich Kontakt mit den anderen Aufständischen aufnehmen. Wir haben nur zwei Wochen, um eine Rebellion zu organisieren."
Marc räuspert sich und wir wenden uns ihm zu. „Es ist ein ziemliches Risiko, das ist euch bewusst", warnt er uns. „Noch ist Zeit auszusteigen, Rune. Wenn du David heiratest und der Plan schief geht ..."
Marc muss seinen Satz nicht weiterführen, damit ich ihn verstehe. Seine Augen sind verständnisvoll und warm. Doch ich habe meine Entscheidung vor langer Zeit getroffen. Ich habe mich längst in den blauen Augen verloren, in Davids Sehnsucht nach der Freiheit. Ich habe meinen Stamm verlassen, meine Heimat, um ihm in die Gesellschaft zu folgen. Ich bin bereit, mit den Folgen meiner Entscheidung zu leben. Ich muss für mein Leben und meine Liebe kämpfen, solange ich noch kämpfen kann.
„Ich werde David heiraten", sage ich, „und dann stürzen wir die Gesellschaft ins Chaos."
HochzeitHochzeitHochzeit - aber ob es eine glückliche Hochzeit wird?
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