43 - Ariel
D A V I D
Es ist mitten in der Nacht.
Ich richte mich in meinem Bett auf. Dunkelheit herrscht im Zimmer und in der Stille ist das Geräusch, welches meine Bettdecke beim Zurückschlagen verursacht, lauter als sonst. Meine Füße berühren den Boden und ich husche lautlos aus dem Schlafzimmer hinüber in mein Arbeitszimmer. Aus der Ferne höre ich, wie vor der Türe meines Schlafzimmers der abgestellte Wachposten auf- und abgeht. Die Ausgänge meiner Räume sind bewacht, doch sie sind es nicht, die ich ansteuere. Im Arbeitszimmer suche ich im Dunklen nach dem kleinen Tablet meines Vaters. Es ist für meine Studien bestimmt und verfügt nur über wenige, strikt programmierte Funktionen. Aber man kann eine Speicherkarte einstecken. Und das ist die Funktion, die ich benötige.
Mit dem dünnen Gerät in der Hand schleiche ich in mein Bett zurück und ziehe Runes Speicherkarte zwischen der Matratze hervor. Sie ist Gott sei Dank klein genug, damit ich sie unauffällig in mein Sakko stecken und anschließend auf mein Zimmer bringen konnte. Ich richte meinen Kopfpolster so, dass ich mich aufrecht gegen die Wand lehnen kann und schalte das Tablet ein. Das bläuliche Licht ist hell in meinen Augen. Ich bemühe mich, es so zu lenken, dass der Wachposten bei einem zufälligen Blick den schwachen Lichtschein nicht unter dem Türspalt herausdringen sieht.
Es dauert ein paar Sekunden, bis das Gerät hochgefahren ist und ich die Speicherkarte seitlich einschieben kann. Während dieser Momente höre ich mein Herz überdeutlich in mir schlagen, laut pochend in der Ruhe der Nacht. Dann kann ich die Speicherkarte öffnen. Es sind mehrere Dateien. Mein Finger ist unruhig, als ich auf die Erste klicke. Es ist ein Foto einer handgeschriebenen Seite. Vermutlich ein Tagebucheintrag.
14. Jänner
Heute ist mein Sohn eine Woche alt.
Schon bei der ersten Zeile stockt mir der Atem. Ich erkenne die Handschrift nicht, sie ist mir fremd. Doch das Datum in Kombination mit den folgenden Worten, lässt mich stocken. Der 14. Jänner. Mein Geburtstag ist der siebte Jänner. Ich schlucke und meine Augen finden sofort den Buchstaben, mit welcher der Eintrag unterzeichnet ist. A. Für einen Moment schließe ich die Augen, geblendet vom hellen Bildschirm, geblendet von der möglichen Bedeutung. A. Wie Ariel. Ariel Brighton, der Name meiner Mutter.
Mit schlagendem Herzen öffne ich das Foto des nächsten Eintrags. Es sind knappe Zeilen und ein Name fällt. Isabelle Rutherford. Die Rebellin, die den Aufstand in die Wege leitete. Plötzlich bin ich ein paar Stunden zurückversetzt, in dem Gang mit meinem Vater, mit Finn und mit Rune. Ich höre ihn höhnisch lachen und Runes Haar zwischen den Fingern zwirbeln. „Isabellenrot", raunt er spöttisch und wie in Trance öffne ich das nächste Foto.
03. März
Ich nahm im Februar Kontakt zu Isabelle auf. Zu den Rebellen. Es muss im Geheimen geschehen. Anders ist es nicht möglich. Ich bin ein Teil des Aufstandes geworden. Und wir wollen die Gesellschaft zu Fall bringen. Wenn mein Ehemann davon wüsste ... ich weiß nicht, was dann mit mir geschehen würde. A.
Ich atme aus, zittrig. Wenn A. wirklich meine Mutter Ariel ist ... dann würde es bedeuten, dass sie zu den Rebellen gehörte. Meine Finger fühlen sich feucht an. Meine Mutter, eine Aufständische. Vor mir formen sich Bilder in der Dunkelheit. Ich sehe das Foto meiner Mutter vor mir, das eine Foto, auf welchem sie alleine abgebildet ist, mit dickem Bauch und einem glücklichen Lächeln im Gesicht. Mein Vater erzählte mir, dass Ariel bei meiner Geburt starb. Doch ... wenn ich das Datum des Eintrages betrachte, dann muss meine Mutter meine Geburt überlebt haben. Wenn mein Ehemann davon wüsste ... ich weiß nicht, was dann mit mir geschehen würde. Plötzlich sehe ich das düstere Lächeln meines Vaters, seine Augen leblos und kalt. Ich schlucke schwer. Meinem Vater traue ich auf einmal alles zu.
Es ist der nächste Eintrag, der vom 27. Mai, welcher schlagartig eine definitive Klarheit bringt. Der letzte Satz springt mir in die Augen und ich weiß, dass die Einträge von meiner Mutter Ariel stammen. Denn da ist sein Name. Kyle.
Und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich fühlen soll.
Meine Mutter starb nicht bei meiner Geburt. Sie schloss sich den Rebellen an und verabscheute die Gesellschaft. Und mein Vater wusste davon, er log mich an und ich habe Angst davor, was ich in den folgenden Einträgen erfahren werde. Diese Angst verwandelt sich in leisen Schmerz, als ich die nächsten Zeilen in der kurvigen Handschrift lese.
Mir geht es gut. Mein Sohn ist schon ein halbes Jahr alt. Und Gott, wie sehr liebe ich dieses kleine Lebewesen. Er ist so unschuldig und wird in diese grausame Welt hineingeworfen.
Meine Sicht wird wässrig und ich muss die Augen zusammenkneifen, meine Lippen aufeinander pressen, damit ihnen kein Laut entweicht. Ich spüre sie durch ihre Worte, ich spüre meine Mutter. Ich lernte sie nie kennen und doch fühle ich mich ihr in diesem Moment so nah wie noch nie. Ariels Liebe, die mir verweigert wurde, dringt zu mir und auf einmal ist meine Wange nass. Es dauert mehrere Augenblicke, bis ich mich wieder gefangen habe und bereit bin, das nächste Foto zu öffnen.
Ariel schreibt darüber, wie sich die Rebellen organisieren. Isabelle Rutherford konnte in die Slums fliehen und rottet dort die Aufständischen zusammen. Sie wollen die Gesellschaft stürzen und da ist noch ein Detail, welches ein ungutes Gefühl in mir aufkommen lässt. Meine Mutter schreibt, dass Isabelle schwanger ist. Und wieder höre ich Kyles Stimme flüstern, raunen. Sehe Runes verzerrte Tätowierung, ihr rotes Haar. Isabellenrot. Eine böse Vorahnung beschleicht mich und ich überfliege den nächsten Eintrag.
13. Dezember
In zwei Tagen ist es so weit. In zwei Tagen wird der Aufstand beginnen. Die Rebellen haben eine Hochzeit ausgewählt, an der die wichtigsten Personen der Gesellschaft anwesend sein werden - der Kreis der Ältesten. In mir herrscht Chaos. Denn Kyle ist einer von ihnen. Und auch, wenn ich diesen Mann niemals lieben werde, ist er der Vater meines Sohnes. Und ich habe Angst vor der Zukunft. Wir wollen die Ältesten auslöschen und ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin. A.
Kurz vor dem Aufstand. Dezember. Ich muss beinahe ein Jahr alt sein. Ein Jahr, in dem meine Mutter noch lebte und ich bei ihr war. Ein Jahr, das Kyle aus dem Gedächtnis der Gesellschaft gelöscht, indem er eine andere Geschichte erzählte.
Da ist das Zögern in Ariels Worten, das mich selbst durch die abfotografierten Zeilen erreicht. Ihr Zweifeln, ihre Unsicherheit. Die Entscheidung, alles auf eine Karte zu setzen. Denn wenn der Aufstand fehlschlägt, gibt es für Ariel keine Möglichkeit, so wie davor weiterzuleben. Keine Möglichkeit, ihren Sohn, mich, aufzuziehen. Sie riskierte alles für die Freiheit. Selbst mich.
14. Dezember
Ich bete jeden Tag dafür, dass mein Sohn in Freiheit leben kann. Das ist das Einzige, was ich mir wünsche. Egal was passiert, ich trage dich immer im Herzen. A.
Das Tablet gleitet mir aus der Hand und versinkt in der weichen Bettdecke.
Leicht scheint das bläuliche Licht zu mir und ich spüre Ariels Worte in der Luft um mich herum. Sie will, dass ich in Freiheit lebe. Dass ich das Leben führe, wofür sie kämpfte. Und sie schreb, dass sie mich immer bei sich haben wird. Egal was auch passiert.
Ich rutsche hinunter, bis ich ganz auf der Matratze liege und mich zusammenrolle. Von irgendwoher strömen die Tränen über meine Wangen und ich umschlinge mich selbst, unterdrücke mein Schluchzen. Mein Kopf dröhnt und mein Herz schmerzt und die Wut auf meinen Vater, die ich seit Ewigkeiten in mir trage, scheint sich zu vervielfachen. Heiß ist sie in meinen Adern. Sie bahnt sich den Weg zu meinem Herzen und ich balle die Hände zu Fäusten. Ich will ihn anschreien, will meinen Vater anbrüllen, so lange, bis ich keinen Atem und keine Stimme mehr habe und bis meine Gefühle taub sind.
Stattdessen graben sich meine Nägel in meine Handflächen und ich wiege mich hin und her, mein Körper vom Weinen bebend und meine Atmung zittrig. Meine Mutter war eine Rebellin. Sie kämpfte für die Freiheit, sie sehnte sich nach der Freiheit, genau wie ich. Ariel opferte alles und noch viel mehr. Sie gab mich und ihr Leben auf, für die Hoffnung, in einer besseren Welt leben zu können. Es reichte nicht aus. Denn die Gesellschaft existiert noch immer und meine Mutter ist fort.
Es dauert, bis meine Tränen versiegen und mein Herz sich beruhigt. Hier in der Dunkelheit, ganz alleine, kann ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Zum ersten Mal habe ich einen wahrhaftigen Grund, um meine Mutter zu trauern. Zuvor war sie nur ein Name, der mir in den Sinn kam wenn ich meine blauen Augen im Spiegel betrachtete. Doch jetzt steckt hinter ihrem Namen so viel mehr. Ariel. Der Leuchtbildschirm des Tablets ist längst wieder dunkel und der Kopfpolster unter mir von meinem Weinen nass.
Ich richte mich auf und greife erneut nach dem Gerät. Das Licht blendet meine gereizten Augen. Neben den Fotos ist noch eine weitere Datei. Ich tippe sie an, damit sie sich öffnet. Es ist eine Liste. Ich muss nur die Daten der ersten Person lesen und weiß, worum es sich handelt. Plötzlich wird mir alles klar.
Das weiße Papierkuvert mit der Nummer 119-140, welches ich in der Jacke meines Vaters fand. Die schwarze Speicherkarte darin. 119-140. Jana Zwin, Nummer 146. Eine Rebellin des Aufstandes, welche bis heute weggesperrt ist. Finns Worte, dass unter der 140 kein Aufständischer mehr am Leben ist. Und dann ist da die eine Nummer, in sonnengebräunte Haut eintätowiert, verschwommen, alt. 137. Runes Nummer.
Mein Finger zittert und ich scrolle die Liste hinunter. Wappne mich für die Wahrheit. Doch bevor ich die 137 erreiche, ist da eine andere Nummer, ein anderer Name, welcher sich in mein Gehirn einbrennt.
Nummer 130
Ariel Brighton
Status: beseitigt (Folgen der Geburt)
Mir ist schlecht. Denn das ist der Beweis für die grausamen Lügen meines Vater, für seine Beteiligung in dem ganzen Spektakel. Kyle Brighton hat seine eigene Ehefrau ins Gefängnis gebracht. Und ... und wahrscheinlich hat er auch etwas mit ihrem Tod zu tun.
Ich wage es kaum, ihren Eintrag zu verlassen, aber wie von selbst suchen meine Augen die andere Nummer. Eine Nummer, vor dessen reiner Wahrheit mein Herz rast. Nummer 137.
Ich finde sie und da ist nichts. Nur eine Lücke, wo ihr Name stehen sollte. Mein Blick gleitet über die Worte Anklagen: Nicht registriertes Dasein wegen unkontrollierter Schwangerschaft und Status: in Gefangenschaft, bevor er in der letzten Spalte hängenbleibt. Was dort steht, lässt mich innehalten und erstarren.
Zusätzliche Information: Tochter von Isabelle Rutherford
Ich scrolle hinauf, zu Isabelle Rutherfords Eintrag. Sie ist die Nummer 136. Und Rune ... Nummer 137. Und alles macht Sinn. Meine böse Vorahnung hat sich bestätigt.
Die Worte meiner Mutter, wo sie über Isabelles Schwangerschaft schrieb und Runes verzerrte Tätowierung und da ist Runes seltsame Vergangenheit und der Rotton ihrer Haare, so auffällig, so einzigartig. Rot wie die Schande, meinte mein Vater.
Isabellenrot, lachte er. Isabellenrot.
Ich lege das Tablet von mir fort. Atme ein, atme aus. Rune ist die Tochter von Isabelle Rutherford, der Rebellin des Aufstands. Rune wurde in Gefangenschaft geboren und ihre Mutter wurde ermordet. Irgendwie kam sie als Baby in die Arbeiterschicht, als Kleinkind in die Slums und schließlich in die Wildnis. Die Informationen drohen mich zu überwältigen und im selben Moment frage ich mich, wie Rune mit der Wahrheit umgegangen ist.
Beatimmt hat sie die Liste gesehen und hat alles zusammengezählt. Rune hat mit dieser Speicherkarte meines Vaters mit einem Schlag ihre Vergangenheit entschlüsselt. Eine Vergangenheit, durcheinander und unglaublich.
Wie hat das rothaarige Mädchen reagiert, das sich insgeheim vor seinrr eigenen Wahrheit fürchtet? Das sich vor seinen Gefühlen verschließt, wenn sie zu viel zu werden scheinen und sich in sich selbst zurückzieht, seine kalte Maske aufsetzt?
Bei unserer Begegnung wirkte sie so ruhig, so fokussiert. Sie hat mir die Speicherkarte mit den Information über meine Mutter und über sich selbst gegeben. Sie will ihre Wahrheit mit mir teilen und ich spüre eine Wärme in mir. Diese Geste bedeutet mir wahnsinnig viel.
Dennoch wird mein Herz schwer bei dem Gedanken daran, dass sie noch immer in der Gesellschaft ist und sich für mich in ein zu großes Risiko begibt.
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