
41 - Augenblicke
D A V I D
Der steife Anzug liegt unangenehm auf meiner Haut. Er ist neu geschneidert worden, trotzdem sitzt das Sakko locker und da ist viel zu viel Raum für meine schmalen Schultern. Auch meine Schuhe, neu und glänzend, drücken. Ich ignoriere mein ungutes Gefühl und bemühe mich, die Geschehnisse um mich auszublenden, so gut es geht. Hier sind zu viele Menschen, lauter Männer der Gesellschaft. In kleinen Gruppen stehen sie plaudernd um die Stehtische herum, Weingläser in den Händen, die Stimmung bereits gehoben vom Alkohol. Sie sind laut und wie immer nehmen sie den gesamten Platz im Raum ein. Am anderen Ende des Salons drängen sich die Frauen zusammen, hübsch herausgeputzt in ihren prächtigen Kleidern. Doch sie werden nicht in das Geschehen miteinbezogen. Sie bleiben im Hintergrund, unter sich.
Der Mann an unserem Tisch lacht auf. Mein Vater hat einen weiteren Witz auf meine Kosten gemacht. Seitdem er versucht, mich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, passiert das ständig. Begonnen hat das ganze vor zwei Wochen auf Silvans Verlobungsfeier. Es war das erste Mal, dass ich wieder unter Menschen kam. Und das erste Mal, dass ich Silvan wiedersah. Doch ich konnte ihn nur aus der Ferne betrachten und durfte auch gerade so eine Stunde auf der Feier bleiben. Nur so lange, wie die Zeremonie dauerte. Bevor das Buffet eröffnet wurde, verfrachtete mich Finn auf Kyles Befehl zurück in den Wagen und brachte mich zurück in die Villa meines Vaters. Seit rund einem Monat darf ich wieder dort leben, wenn auch mit strengen Auflagen.
Vor meinem Fenster hat Kyle ein Gitter angebracht und meine Türe wird rund um die Uhr bewacht. Ich kann meine Räume nur verlassen, wenn Kyle es anordnet und Finn oder ein anderer Wachmann mich abholt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Luxusgefängnis der kalten Zelle vorziehe. Und ich bin mir auch nicht sicher, wie viel Zeit inzwischen seit meiner Rückkehr in die Stadt vergangen ist. Im Gefängnis behielt keiner mehr den Überblick. Meine Zellengenossen waren dafür schon zu lange eingesperrt. Ab und zu überlegte ich, Finn danach zu fragen, doch ich stellte ihm nie diese Frage. Denn was nutzt es mir? Die Tage sind noch immer kalt, aber der Jahreswechsel ist an uns vorübergezogen.
Meine Tage sind einsam, doch seitdem ich wieder in der Villa lebe, tragen sie einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich. Denn wenn mein Vater mich wieder der Öffentlichkeit aussetzt, dann hat er zumindest weiterhin vor, mich zu seinem Erben zu erziehen. Mich nach seinem Belieben zu formen. Und solange ich mitspiele und mit Finn und den Rebellen Kontakt halte, ist in mir dieser winzige Funken der Hoffnung.
Ich spüre alle Blicke der Männer an unserem Tisch auf mir ruhen, sehe, wie sie hämisch über mich lächeln und auf einmal halte ich es nicht mehr aus. Dieser abschätzige Ausdruck in ihren Augen, die Stimme meines Vaters, der über mich spottet. Die Gedanken in meinem Kopf, dass ich einmal ein Teil davon sein muss, ein glaubhafter Befürworter dieses Systems. Ich atme ein, zittrig, und stelle mein Wasserglas ab. Ich muss mich zusammenreißen, um bedächtig den Kopf zu neigen.
„Dürfte ich mich kurz entschuldigen?", bringe ich gerade noch hervor, ehe ich mich schon durch die Menge drängle. Ich höre, wie Kyle etwas sagt und augenblicklich folgt Finn mir. Ich bemühe mich wirklich um einen angemessenen Schritt, nicht zu schnell, nicht zu hastig, und steuere auf den Seitenausgang des Salons zu.
„David!", vernehme ich Finns gepresste Stimme. Ich beachte ihn nicht. Ich will nur noch fort vor der Menschenmenge, weg von der erdrückenden Gesellschaft. Ich erreiche den Flur und sowie ich um die Ecke bin, lehne ich mich gegen die Wand. Hier, verborgen in den Schatten des Seitenganges beruhigt sich meine Atmung langsam.
„David! Du weißt, dass du ..." Ich ignoriere Finn, der bei mir angekommen ist und drehe mich zur Seite. In dem Moment biegt eine weitere Person um die Ecke, den Kopf gesenkt. Ich betrachte das junge Mädchen, folge ihren Schritten mit meinem Blick, um Finns aufgebrachtes Gerede neben mir besser ausblenden zu können. Das Kleid des Mädchens ist anders als die Kleider, die ich sonst an den jungen Frauen kenne. Anstatt das Dekolletee zu betonen, liegt bei diesem Mädchen der Rücken frei. Einen Moment mustere ich ihren nackten Rücken, der auf unerklärliche Weise stark wirkt.
„David, jetzt hör mir doch zu!", versucht es Finn erneut. „Du musst dich nur eine Stunde zusammenreißen, dann bringe ich dich wieder zurück in die Villa. Nur eine Stunde musst du die Gesellschaft ertragen."
„Selbst eine Stunde ist gerade zu viel", raune ich ihm zu und er will schon zu einer entrüsteten Antwort ansetzen, da erregt ein klapperndes Geräusch meine Aufmerksamkeit. Das Mädchen ist noch immer im langen Flur und steuert auf das Ende zu, wo sich links hinten die Toiletträume befinden. Im Licht der warmen Flurlampen glitzert etwas auf dem Marmorboden. Ich drücke mich von der Wand weg und bin im nächsten Augenblick bei dem funkelnden Gegenstand. Es ist ein mit Steinchen besetztes Armband.
„Madame? Warten Sie, Sie haben etwas verloren!" Meine Stimme dringt zu ihr und abrupt bleibt sie stehen. Wahrscheinlich wegen meiner höflichen, ungewohnten Formulierung, denke ich. Nicht viele benutzen freundliche Wörter, wenn sie mit jungen Mädchen reden. Mit wenigen Schritten bin ich bei ihr, das Armband in meiner Hand. Finn seufzt laut hinter mir und ich bin mir sicher, dass er mich am liebsten sofort zurück in die Villa meines Vaters bringen würde.
Aus der Nähe erkenne ich, wie ungewohnt groß das Mädchen vor mir ist. Ich mustere den Saum ihres Kleides, doch ich kann nicht feststellen, ob sie hohe Schuhe trägt, um ein wenig zu schummeln. Ein schwerer Parfumduft umgibt sie und ich sehe ihr streng hochgestecktes Haar. Ihr Schmuck ist einfach gehalten und auch das Kleid ist schlicht schwarz. Bedächtig dreht sie sich zu mir um, beinahe ängstlich.
Wie schon so oft verfluche ich die Gesellschaft, die aus jungen Mädchen furchterfüllte, unsichere Geschöpfe macht.
Strähnen ihres glatten Haares fallen ihr vor das Gesicht. In der Beleuchtung des Flures meine ich, einen vertrauten rötlichen Schimmer zu erkennen. Sofort spüre ich einen Stich in mir und stoße das Gefühl von mir. Das ist die Gesellschaft. Hier gibt es keine Mädchen mit roten Locken, die mit Messern um sich werfen.
Behutsam strecke ich die Hand mit dem Armband aus. „Hier. Ich glaube, das ist Ihres."
Zögerlich hebt sich ihr Arm. Der weite Ärmel ihres Kleides verdeckt ihre Finger, doch ich spüre ihre Haut an meiner, als sie vorsichtig das Schmuckstück aus meiner offenen Hand nimmt. Das Mädchen bewegt den Kopf zur Seite. Und dann, überraschend, hebt sie plötzlich den Kopf, nur für einen Augenblick.
Die dunkelrote Haarsträhne verdeckt eines ihrer Augen, doch das andere starrt mich direkt an. Nur einen Sekundenbruchteil lange trifft mich ein efeugrüner Blick.
Ein Blick, den ich nie vergessen könnte.
Im nächsten Moment ist ihr Kopf wieder gesenkt und sie macht einen Schritt zurück. Mein Herz rast und stolpert und fängt sich wieder, als ich ihre Stimme höre.
„Vielen Dank", sagt sie leise, bedacht. Aber es ist unverkennbar Runes Stimme, sanft und zurückhaltend und wunderschön.
Ich bringe kein Wort über die Lippen und kann sie nur anstarren. Rune, das Mädchen aus der Wildnis. Genau hier. Vor mir. Mitten in der Gesellschaft. In einem schwarzen Kleid und mit einer Körperhaltung, die ich nicht an ihr kenne.
Ich glaube, meine Lunge hat zu atmen vergessen und mein Kopf ist leer und mein Gesicht ein einziger Ausdruck meines Unglaubens. Denn sie ist hier. Rune ist hier. Auf einer Veranstaltung der Gesellschaft und eben noch haben ihre Fingerspitzen meine Haut berührt und eben noch bohrten sich ihre efeugrünen Augen in meine.
Und mit einem Schlag ist diese Blase des Schocks geplatzt. Stattdessen wird die Blase zu einem Gefängnis aus Eisenstangen. Denn da ist eine schreckliche Stimme, die mich aus dem Moment reißt.
„David!" Mein Vater. „Was soll das hier?"
Mein Herz setzt erneut aus, aber nicht wegen des Mädchens vor mir. Oder vielleicht auch gerade wegen ihr. Noch immer steht Rune in meiner Nähe
Sie hat sich nur wenige Schritte entfernt. „Du glaubst, du kannst einfach aus dem Gespräch abhauen und dich dann hier ... herumtreiben?"
Ich atme hörbar ein, Finn ist wieder an meiner Seite. „Sir, David war auf dem Weg zur Toilette und ..."
„Schweig. Mein Sohn kann für sich selbst reden." Sein harter Blick trifft mich und ich mache mich unwillkürlich kleiner. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wiesich Rune wegdrehen möchte, da packt mein Vater sie grob an der Schulter.
„Du bleibst auch hier, Mädel", faucht er sie an und ich erstarre, als ich die Anspannung in ihrem Körper sehe, die Alarmbereitschaft.
Ich bete, dass sie ruhig bleibt, dass sie mitspielt. Sie darf nicht auffallen. Nicht hier, nicht vor meinem Vater. Es kostet sie jegliche Beherrschung, die sie besitzt, doch Rune hält erschrocken den Kopf gesenkt und fügt sich den lauten Worten meines Vaters. Fest schiebt er sie in Richtung der Wand. Erleichterung überkommt mich, denn Rune wehrt sich nicht gegen seinen Griff.
„Du bleibst hier und rührst dich nicht, verstanden?" Ich erahne ein flüchtiges Nicken, dann wendet sich Kyle zu mir. „Was war los David?"
Ich konzentriere mich nur auf ihn und versuche meinen panischen Gedanken an Rune keinen Raum zu geben. „Es tut mir leid, Vater", entschuldige ich mich und meine Stimme klingt so aufrichtig, wie es nur geht. „Es wurde mir zu viel. Ich glaube, ich bin noch nicht bereit."
„Du hast bereit zu sein, wenn ich es dir befehle, David", lautet Kyles Antwort und ich meine, Rune bei seinen Worten zusammenzucken zu sehen. Glücklicherweise sind seine Augen nur auf mich gerichtet.
„Das ist mir bewusst", gebe ich klein bei. „Es tut mir leid, Vater", wiederhole ich. „Es wird nicht mehr vorkommen."
„Das erwarte ich von dir. Und jetzt erzähle mir, was mit diesem Mädchen ist."
Ich schlucke und ringe um eine nüchterne Antwort, um Worte, die mich nicht verraten. „Ich wollte nur zur Toilette", erkläre ich sachlich. „Da sah ich, wie die junge Dame ihr Armband verlor. Ich wollte es ihr wiedergeben."
Zum ersten Mal blickt Kyle Rune richtig an. „Und wer ist sie? Ich habe sie noch nie gesehen." Er macht einen Schritt näher zu ihr. Rune steht an die Wand gedrückt da. Seine Aufmerksamkeit verlässt mich, wodurch ich aufatmen kann, doch gleichzeitig wendet er sich Rune zu und meine Kehle wird eng.
„Ich weiß nicht, wer sie ist", sage ich, meine Stimme fest. Kyles kalter Blick mustert Rune eindringlich. Auf einmal denke ich daran, wie kalt auch Runes Blicke sein können. Doch anders als bei meinem Vater steckt hinter der emotionslosen Maske des Mädchens eine ehrliche, mitreißende Persönlichkeit und kein lebloser Mensch.
„Wie ist dein Name, Mädel?", fragt Kyle und hebt mit einem Finger bestimmt ihr Kinn, damit sie ihm in die Augen sieht. Ich halte die Luft an, als er Rune so anfasst. Einen Moment glaube ich, das war es. Sich Rune so unmittelbar zu nähern, kann nicht gut ausgehen. Da sind ihre Instinkte, die sie immer zurückweichen lassen, ihre Kraft und ihr Stolz, mit welchem sie sich aus jeder erniedrigenden Situation befreien kann.
Aber das rothaarige Mädchen überrascht mich. Ihre Stimme ist zittrig und ich bin mir nicht sicher, ob das Zittern echt ist.
„Ich heiße Caroline Zwin, Herr", murmelt sie unterwürfig und weicht dem Blick meines Vaters aus, wie es jede Frau der Gesellschaft tun würde. Ihre Worte jagen einen Schauer über meinen ganzen Körper. Es ist der Nachname, der meine Haare zu Berge stehen lässt. Zwin. Ich schlucke schwer und kann meine Augen nicht von ihr lösen.
Zwin. Wie Jana Zwin, meine Zellennachbarin.
„Ich kenne keine Caroline Zwin. Lüg mich nicht an, Mädchen." Der Griff um Runes Kinn verstärkt sich und ich bemerke, wie ihre Hände beben. Es muss sie ihre gesamte Selbstbeherrschung kosten, seine Finger nicht aus ihrem Gesicht zu schlagen.
„Ich sage die Wahrheit, Herr. Ich bin die Tochter der Zwins", gibt Rune von sich. Ihr Tonfall ist voller Scham. „Die nicht existieren dürfte."
Ich freue mich immer über eure Meinungen oder Sternchen!
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