4 - Flucht
D A V I D
Ich habe zehn Minuten.
Nicht einmal. Ich habe vermutlich weniger als zehn Minuten, bis mein Vater mich holen kommt. Die Zeit vergeht rasend schnell und scheint gleichzeitig still zu stehen.
„Willst du das wirklich durchziehen?", fragt mich Silvan. „Noch kannst du zurück. Du kannst dich mit Gemma verloben und Kyle wird sich milde zeigen." Er schluckt, während er mich beobachtet. „Sobald du dieses Zimmer verlässt, gibt es kein Zurück mehr."
„Ich weiß", sage ich überzeugt und beginne, aus meinem Kleiderschrank einige Kleidungsstücke herauszuholen. Fahrig ziehe ich mir mit eiligen Fingern meinen schicken Anzug aus. Stattdessen streife ich mir ein dünnes, dunkles Shirt über und schlüpfe in die unauffälligste Hose, die ich besitze.
„Ich kann nicht fassen, dass du das wirklich machen willst."
„Ich auch nicht." Unsere Blicke treffen sich. „Fällt das in den Slums auf?"
Silvan mustert mich genau, seine Miene skeptisch. Ich seufze und husche ins Badezimmer nebenan. Meine Kleidung ist natürlich viel zu fein und für jemanden aus den Slums oder aus der Arbeiterschicht viel zu hochwertig verarbeitet. Ich ziehe das Shirt wieder aus und versuche, an dessen Stoff zu ziehen. Mit einiger Anstrengung gelingt es mir, den Kragen und die versäumten Ränder einzureißen. Jetzt wirkt es ein wenig verschlissener, nicht mehr ganz neu. Als ich das Shirt über den Kopf ziehe, hängt es unförmig an meinem Oberkörper hinunter. Der Stoff der Hose ist jedoch zu fest, um ihn auszudehnen. Nach einem Versuch gebe ich auf. Hastig mache ich meine Haare nass und wasche das Gel heraus. Prüfend mustere ich mich im Spiegel. Das muss fürs erste reichen. Besser kriege ich es nicht hin.
Silvan nickt zustimmend, als er mich sieht. „Auf jeden Fall überzeugender. Hier, die habe ich in deinem Kasten gefunden."
Er drückt mir eine dunkle Ledertasche in die Hand. Ich habe keine Ahnung, woher sie ist oder warum ich diese Tasche besitze. Dennoch nehme ich sie an mich und packe alle Früchte aus der eigentlich nur zu Dekorationszwecken hergerichteten Obstschüssel ein.
Die Zeit wird knapp. Das wissen wir beide. Ich meine scho, Schritte auf dem Flur zu hören, meine Ohren spielen mir einen Streich.
„Wenn du bereit bist, gehe ich durch die Türe, zurück zum Salon. Ich bringe Marius dazu, mir zu folgen. Das ist deine Chance, David. Deine einzige Chance", raunt Silvan mir zu. „Du wirst nur einen Moment zur Flucht haben."
Ernst nicke ich. Er sieht mich an, dann legt er die Hand auf die Türklinke und tritt hinaus. Die Türe fällt zu, nicht ganz und ich vernehme zuerst Schritte, dann einen kleinen Aufschrei, Stimmen. Ich drücke die Holztür auf, spähe hinaus. Vage erkenne ich Silvan am anderen Ende des Flurs, gekrümmt liegt er am Boden. Mein Freund hält sich stöhnend den Knöchel. Sofort ist Kyles persönlicher Dienstbote bei ihm, das Gewehr achtlos in der einen Hand, den Rücken mir zugedreht.
Erschrocken beugt sich Marius über Silvan. Ich renne los. Direkt in die entgegengesetzte Richtung.
Richtung Ausgang. Richtung Freiheit.
Meine Füße stolpern über den Steinboden, meine Schritte hallen von den Wänden wider. Laut, viel zu laut. Es dauert nur einen Augenblick, bis Marius mich bemerkt.
Ich drehe mich zu ihm um. Ein Fehler, das merke ich zu spät, ich strauchle. Ich sehe, wie der Dienstbote meines Vaters sich erheben will, mir folgen will. Sein aufgebrachter Schrei bleibt ihm jedoch im Hals stecken, als Silvan aus dem Nichts das Gewehr packt, welches vor seinem Kopf schwebt. Mit einem Ruck entreißt Silvan ihm die Waffe. Er holt aus und schwingt das Gewehr gegen seinen Kopf.
Augenblicklich geht Marius zu Boden. Sein Aufprall dröhnt in meinen Ohren. Ich erstarre, kann mich nicht bewegen. Ich nehme Silvans entsetzten Blick über seine Tat wahr, sein ist Mund aufgerissen, das Gewehr noch mitten in der Luft. Ich haste zu ihm. So war das nicht geplant, so hatte ich das nicht gewollt.
Der Dienstbote liegt gekrümmt am Fußboden. Seine Augen sind zugefallen, er ist außer Gefecht.
Silvan legt eine Hand auf seinen Hals. „Er atmet, David, er atmet." Der Schock sitzt mir in den Knochen, tief, ich sehe nur schwarz und weiß auf einmal nicht mehr, was ich genau vorhatte. „David, du musst los", redet Silvan auf mich ein und holt mich damit in die Gegenwart zurück.
Obwohl seine Finger selbst zittern, fährt er eilig unter Marius' Sakko und zieht seine Dienstmarke hervor. „Nimm die mit. Und jetzt lauf!" Drängend schubst er mich in die Richtung, in die ich flüchten wollte. „Mach schon, lauf!"
Ich kann nichts mehr erwidern. Mein Kopf ist ein Durcheinander. Meine Beine folgen seiner Aufforderung und ich renne los.
Ich rase durch den Gang, durch den ersten kleinen Salon, biege ab, auf einen langen Flur. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tia aus einer der Türen tritt. Ein Laut entfährt ihr, sie schlägt die Hände vor den Mund. Ich beachte sie nicht, stürme weiter, immer weiter.
Geistesgegenwärtig bekomme ich vorm Ausgang bei der Garderobe eine dunkle Jacke zu fassen, ich fühle Leder unter meinen Fingern, dann bin ich draußen.
Es ist ein wärmerer Frühlingstag, ein wenig windig. Die Luft peitscht mir entgegen. Ich halte nicht an. Jetzt kann mich keiner mehr aufhalten. Ich haste die breite Einfahrt zu unserem Anwesen entlang, schlängle mich zwischen Sträuchern und geparkten Autos durch, versuche mich im Verborgenen zu halten.
Meine Füße trommeln auf dem Asphalt der Straße, mein Herz bebt, meine Lunge droht zu zerspringen, aber ich lasse es nicht zu. Ich renne, bis die riesigen Anwesen langsam kleiner werden, weniger prachtvoll. In der Ferne sehe ich die Mauer. Den Durchgang.
Nach Luft schnappend verberge ich mich im Schutz einer Hecke. Eine Sekunde gewähre ich mir, eine einzige Sekunde, um zu Atem zu kommen. Mehr Zeit bleibt mir nicht. Gleich würde mein Vater nach mir sehen kommen und seinen bewusstlosen Dienstboten entdecken. In wenigen Minuten ist auf den Straßen die Hölle los. Mein einziger Vorteil ist, dass die übrigen Häuser beinahe ausgestorben sind - fast alle Bewohner der Gesellschaft sind bei meiner Verlobung.
Ich schlüpfe in die dunkle Lederjacke - sie muss meinem Vater gehören - und hänge mir nach kurzer Betrachtung Marius' Ausweisschild auf die Brusttasche. Irgendetwas knistert im Inneren der Jacke, doch ich ignoriere es. Dann eile ich geduckt weiter. Je näher ich dem Durchgang in der Mauer komme, desto heftiger schlägt mein Herz. Ich versuche mich zu beruhigen und ziehe den Reißverschluss der Jacke hoch bis unters Kinn. Streife mir die Kapuze über.
Der Durchgang zur Außenwelt, zur Arbeiterschicht und den Slums ist nicht breiter als ein Gartentor. Davor steht ein gelangweilter Wachmann.
Ich sehe den Eingang, an dem das Personal ein- und ausgehen kann. Da ist ein Drehgitter. Der Strichcode muss von rechts eingescannt und anschließend mit einem Passwort bestätigt werden. Marius ist schon seit ein paar Jahren im Dienst meines Vaters - und damit wächst meine Chance, das richtige Passwort zu erraten. In Gedanken spule ich alle Gespräche ab, die ich je zwischen ihm und meinem Vater mitgehört habe. Anders als bei den üblichen Dienstboten ist ihr Verhältnis weicher, beinahe freundschaftlich. Ich setze alles auf eine Karte. Mein gesamtes zukünftiges Leben hängt von diesem Augenblick ab.
Der Wachmann schenkt mir kaum einen Blick, dafür gehen zu viele Dienstboten täglich ein und aus. Sollte ich jedoch das falsche Passwort eintippen, würde ich dadurch bestimmt seine Aufmerksamkeit erregen. Ich nähere mich festen Schrittes dem Durchgang. Als würde ich es tagtäglich machen, scanne ich den Strichcode des Ausweises ein. Augenblicklich erscheint die Anzeige und meine Finger wandern zu der kleinen Tastatur direkt unterhalb. Ich bemühe mich, sie ruhig zu halten und beginne einen Namen einzutippen.
Mein Herz rast und ich weiß nicht, was ich in diesem Moment fühle. Bevor ich den letzten Buchstaben eingebe, schließe ich die Augen. Bitte, flehe ich in Gedanken, zu wem auch immer. Ich atme aus, drücke die letzte Taste. Ein zustimmendes Geräusch ertönt. Das Drehgitter setzt sich in Bewegung.
Erleichterung macht sich in mir breit und beruhigt meinen verkrampften Körper. Mit kleinen Schritten drücke ich mich durch das Drehgitter, bis ich auf der anderen Seite bin.
Ich habe es geschafft. Ich bin aus der Gesellschaft entkommen. Ich bin meinem Vater entflohen. Jetzt beginnt das Versteckspiel.
Nach wenigen Schritten lasse ich den Ausweis in die Sträucher am Rand der Mauer fallen. Ich ziehe den Kopf ein und beeile mich, so rasch wie möglich von der Mauer wegzukommen. Mein Ziel sind die Slums, welche sich meilenweit bis zum Waldrand erstrecken.
Mit jedem Schritt beruhigt sich mein Atem. Mein Vater wird vorerst vermuten, ich würde mich innerhalb der Mauern befinden. Zuerst werden sie die gesamte Gesellschaft nach mir absuchen und wenn sie bemerken, dass Marius' Ausweis fehlt, werden sie die Login-Daten überprüfen. Bis das passiert, bin ich längst in den Tiefen der Slums verschwunden.
Trotz meines überstürzten Versuches, mich äußerlich den Bewohnern der Gegenden jenseits der Mauer anzupassen, bin ich viel zu auffällig. Das merke ich schon ganz früh.
Beinahe sofort ziehe ich die dunkle Lederjacke aus und stopfe sie in die Tasche. Zwischen den Häusern der Arbeiter falle ich dadurch nicht mehr so stark auf, doch ich nähere mich den Slums. Ich kann sie schon in der Ferne sehen. Nach und nach werden die Steinbauten kümmerlicher, bis der Stein Holz und Wellblech weicht, durch Tuch und Planen ersetzt wird.
Weiterhin achte ich darauf, mich in den Schatten zu halten und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Mit der Zeit beginnen meine Füße zu schmerzen. In meinem ganzen Körper fühle ich die Anstrengung des Tages, erst die Flucht und jetzt der andauernde Marsch zwischen den Bauten, um irgendwo in den Slums unterzukommen. Ich weiß nicht wie lange ich schon unterwegs bin, doch der Stand der Sonne hat sich verändert und die Personen, die mir begegnen, auch. Die robuste, oft verwendete Arbeitskleidung verschwindet. Die Leute, die ich jetzt sehe, haben zerschlissene und vor Unrat starrende Kleidung, oft keine Schuhe an den Füßen. Leblose Augen blicken mir entgegen, die Haut ist bleich und eingefallen. Ich mache mich noch kleiner. Selbst ihr Gang unterscheidet sich von meinem. Leicht gebückt, die Schultern gebeugt, als würden alle Sorgen der Welt auf ihnen lasten. Und das tun sie wahrscheinlich auch. Die nackten Füße heben sich kaum von steinigen, sandigen Boden ab. Hervorstechende Rippen und Schlüsselbeine springen mir in den Blick, sowie lange, ungepflegte Haare. Außerdem starren sie mich an, misstrauisch, jeder einzelne, an dem ich vorbeikomme. Nach und nach registriere ich die ganzen Unterschiede zwischen ihnen und mir und versuche, mich anzupassen.
Ich verändere meinen Gang, lasse den Kopf hängen. Meine Beine, die sich sowieso schon schwer anfühlen, ergeben sich der Schwerkraft und schleifen über den Untergrund. Ich komme an einem Brunnen vorbei, an dem zwei Kinder Wasser in einen Kanister füllen. Ihre Augen sind groß, ihre Haut dreckig. Ich warte hinter einer Ecke bis sie verschwunden sind. Dann nähere ich mich dem Brunnen. Beim Blick hinein graust es mir. Ich glaube mehr Bakterien und Sand im Wasser schwimmen zu sehen als Wassermoleküle an sich. Mit viel Überwindung lange ich hinein und schaufle mit beiden Händen das unreine Wasser auf meine Kleidung. Der Geruch verschlägt mir den Atem und treibt die Übelkeit in meinen Magen. Augenblicklich spüre ich, wie der aufkommende Wind durch mein nasses Shirt fährt. Er beschert mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Widerwillig tränke ich auch meine Haare in dem Nass und spritze mir sogar ein wenig davon ins Gesicht. Von da an steigt ein ekelhafter Geruch von mir auf. Der Geruch der Slums.
Ohne Ziel wandere ich weiter, während der Wind meine Kleidung trocknet und das Wasser krustige Schlieren hinterlässt. Langsam falle ich nicht mehr auf, die Blicke der anderen gleiten über mich hinweg.
Und ich bekomme einen ganz neuen Eindruck vom Leben in den Slums.
Schon als Kind bekam ich die Bilder der Slums zu sehen, abschreckende, brutale Bilder. Mein Vater erzählte mir Geschichten über das Leben dort. Doch mit eigenen Augen habe ich die Slums noch nie erlebt. Nicht mit allen Sinnen, wie jetzt, beim Gang durch die gravierende Realität. Es ist schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich weiß nicht, wie ein Leben hier überhaupt möglich sein soll.
Überall sind eingestürzte, notdürftige Behausungen. Wohin mein Auge auch blickt, sehe ich die eingesunken Wangen, die glanzlosen Augen und die mageren Körper. In der Luft hängt ein Geruch von Verwesung, von Exkrementen, von Leid. Die Armut ist überpräsent, das Elend an jeder Ecke und in jedem Gesicht abzulesen. Wann immer ich anderen Menschen begegne, weichen sie meinem Blick aus und flüchten sich in ihre Behausungen. Sie bleiben unter sich, nur mit den engsten ihrer Familien beisammen. Ich spüre die Furcht voreinander und vorm Leben in jeder Begegnung.
Schleichend bricht die Dunkelheit herein und sie erwischt mich ärger als erwartet. Denn auf einmal kommt sie, die Dämmerung. Und hier gibt es keine Straßenlaternen, welche den Weg erleuchten. Hie und da sehe ich Feuerschein durch die Düsternis flackern. Irgendwann finde ich einen Unterschlupf etwas abseits der übrigen gelegen.
Zwei Wellblechplatten bilden einen Sichtschutz, zwischen dem ich mich durchzwänge. Dahinter erkenne ich eine Art Verschlag, aus Holz und mit einer Plastikplane als Dach. Ich bücke mich und schiebe die Holzpalette zur Seite, welche die Tür ersetzt. Der Innenraum ist klein. Ich kann nicht aufrecht stehen, daher sinke ich auf den Boden. Ein Windstoß lässt eine Plane in einer Ecke flattern. Kalt zieht es hinein und der Wind bringt einen vermodernden Geruch zu mir. In der gegenüberliegenden Ecke erkenne ich eine Decke, doch niemand ist hier. Ich lehne mich gegen die Holzwand, reibe die Hände wärmend gegeneinander und atme durch. Hier würde ich über Nacht bleiben.
Ich lege meine Tasche ab und ziehe die Jacke heraus. Auf einmal höre ich ein Bellen von draußen. Pfoten kratzen über Metall und Plastik raschelt. Holprig wende ich den Kopf. Zwischen den Spalten der Holzpalette streckt ein Hund den Kopf durch. Seine Zähne sind aggressiv gefletscht.
Unwillkürlich weiche ich zurück. Das Tier kratzt am Holz, im Versuch zu mir zu kommen. Es ist ein hässlicher Köter, zerzaustes schwarzes Fell, klein und mager. Ein Ohr ist zerfetzt und irgendetwas verklebt das Fell an seiner Brust. Wahrscheinlich ist das Tier so voller Krankheiten, dass sich die Gesellschaft bei der Razzia keine Mühe macht, ihn einzukassieren.
Plötzlich ertönt ein Pfiff von draußen. Der Köter spitzt die Ohren, fixiert mich aber immer noch wie gebannt mit seinen dunklen Augen.
„Cadela! Was ist denn da?", ruft eine weibliche Stimme. „Komm her! Cadela!"
Jetzt klingt sie wütender. Schritte nähern sich mir. Dann steckt ein Mädchen den Kopf in den dürftigen Verschlag. Sie erstarrt, als sie mich entdeckt. Ein langer dunkler Zopf hängt ihr über die Schulter, halb unter einer löchrigen Mütze verborgen. Sie sieht jung aus, sicher einige Jahre jünger als ich. Ihr Blick trifft mich.
„Hier ist schon besetzt. Verschwinde", grollt sie, fasst nach der Holzpalette und schiebt sie zur Seite. Im nächsten Moment rast der Köter auf mich zu.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro