34 - Gefangen
D A V I D
Die erste Nacht in der Gesellschaft ist genauso befremdlich wie meine erste Nacht bei den Lihai. Nur ist es nicht Thomas, der mich in meiner Hütte eingesperrt hält, sondern es sind die eisernen Gitterstäbe der feuchten Zelle.
Mein Vater gab mir nach meiner Ankunft ein großzügiges Mittagessen in unserem Salon. Beinahe wirkte es, als wäre meine Flucht nie geschehen. Da waren seine Dienstboten, Marius und ich erkannte Tia sowie ein paar der anderen. Keiner von ihnen traute sich, mich nur eine Sekunde zu lange anzusehen. Die Stimmung war angespannt, was wahrscheinlich an der Tatsache lag, dass neben und hinter mir Wachsoldaten mit Pistolen in den Händen standen. Nach dem Mahl führte mich Kyle zurück in den Wagen, wo er mich warten ließ. Erst Ewigkeiten später stieg er zu mir und wir wurden durch die Gesellschaft gefahren.
Ich konnte nicht erkennen, wohin ich gebracht wurde, denn die Scheiben des Wagens ermöglichten mir keinen Blick hinaus. Beim Ausstiegen drückte mir ein Soldat den Kopf an die Brust, sodass ich nur den Boden sehen konnte. Wir marschierten eine ganze Weile, betraten ein Gebäude, stiegen Treppen hinab. Und dann war ich in der Zelle, in der ich mich jetzt befinde.
Groß ist sie nicht. Drei Seiten Wand, eine Seite Gitterstäbe. In einer Ecke befindet sich ein Bett, das schmal, aber halbwegs weich ist. Die Wände sind kahl und das grelle Licht aus den Neonröhren an der Decke flackert immer wieder. Gestern Abend wurde das Licht abgedreht, sobald ich in der Zelle war. Doch ich hörte Schritte und Atemzüge und Husten und wusste, dass ich nicht alleine in diesem weiten Zellentrakt bin.
Jetzt liege ich auf dem Bett und starre an die Decke. Meine Gedanken kreisen und ich höre ein Klacken in der Ferne. Auf einmal springt eine der Neonröhren an. Das plötzliche Licht blendet mich so sehr, dass ich die Lider schließen muss. Ich presse mir die Hand über die Augen und blinzle hindurch, während ich mich aufrichte. Schritte nähern sich. Weitere, hastige Schritte huschen über den kalten Fliesenboden. Irgendjemand rüttelt an den Eisenstangen.
„Frühstück kommt gleich!", ertönt eine fremde Stimme. Sie hallt durch den Gang und ich erhebe mich. Mit wenigen Schritten bin ich bei den Eisenstäben und versuche etwas zu erkennen. Der Gang ist länglich. Links und rechts sehe ich die gleichen Zellen wie meine. Ich meine, zu meiner Linken eine Person zu sehen, die wie ich zwischen den Stäben hängt. Ein Mann tritt in mein Blickfeld. Er ist blond, jung. Ich kenne ihn. Es ist derjenige, der mich im Wald mehr oder weniger rettete. Koiss.
Ein Keuchen kommt von links. Die Person, eine Frau, wie ich jetzt an dem langen braunen Haar erkenne, drängt sich so weit nach vorne wie nur möglich. „Finn?", vernehme ich ihre erschrockene, leise Stimme. Ich sehe ein erstauntes Aufblitzen in der Miene des jungen Mannes. Er dreht sich jedoch nicht zu der Frau um. Breitbeinig stellt er sich in die Mitte des Ganges.
„Inzwischen sind bestimmt alle wach. Es gibt Neuigkeiten. Gestern habt ihr einen neuen Zellengenossen bekommen. David Brighton." Ich fahre bei der Erwähnung meines Namens zusammen und ziehe scharf die Luft ein. Koiss achtet nicht auf mich. „Mein Name ist Finn Koiss. Ich persönlich bin für David Brighton zuständig. Das bedeutet, ich werde die nächste Zeit hier ein- und ausgehen. Gewöhnt euch also besser an mich."
Die Frau zu meiner Linken ist zu Boden gerutscht. Ihre Stirn presst sie an die Stangen und ich glaube, ein heimliches Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. „Heißt euren Zellengenossen doch einmal willkommen." Zögerlich erklingt ein von Schweigen begleitetes Fußstampfen. Der Lärm hallt von den Wänden wider und jemand pfeift, rüttelt an den Stäben. Erschrocken über die unerwartete Lautstärke halte ich still. Abrupt verklingt das Trampeln, bevor ich genauer über dessen Bedeutung nachdenken kann. Die Frau neben mir streckt ihren Arm durch die Stäbe. Ihre Hand winkt in meine Richtung und ich erkenne ihre dunkelbraunen Augen, die mich mitleidig ansehen.
„Alle an die Wand! Sonst bekommt ihr nichts zu Essen!", tönt Koiss' Stimme durch die Zellen. Ich sehe, wie sich die Frau zurückzieht. Am Ende des Ganges wird die Türe geöffnet und weitere Personen kommen herein, mit einem Rollwagen, wie sie von Dienstboten zum Transport von Speisen benutzt werden. Dem Beispiel der Frau folgend weiche auch ich zurück.
„An die Wand, sagte ich!" Hastig folge ich seinem Befehl. Koiss ist vor meiner Zelle stehen geblieben. Im Gang hängt ein düsteres Schweigen. Es wird nur von den schweren Schritten und dem ratternden Geräusch des Rollwagens durchbrochen. Leise vernehme ich auch ein Piepsen, kurz. Als Koiss erneut die Stimme erhebt, schallt sie durch den ganzen Zellentrakt.
„David", spricht er mich direkt an. „Ich wurde von Kyle Brighton eingestellt, als Dank dafür, dass ich dich gefunden habe." Er kommt näher und ich erkenne seine dunkle Kleidung, die dicke Schutzplatte über der Brust. Über der linken Brusttasche ist sein Namen deutlich zu lesen. An seiner Hüfte hängt ein länglicher Schlagstock, dort, wo zuvor seine Pistole war.
„Was hat er mit mir vor?" Meine Stimme ist ängstlicher, als mir lieb ist. Sie dringt durch die Zelle und ich habe das Gefühl, als würden mir alle zuhören. Koiss umfasst die Gitterstäbe und sieht mich direkt an. „Vorerst wirst du hierbleiben. Mehr Information kann ich dir nicht geben." Ich lehne mich an die kalte Wand hinter mir. Wie lange wird mein Vater mich hier gefangen halten? Und wer sind meine Nachbarn in den anderen Zellen? Ungewissheit schleicht sich in mich, Unsicherheit. Metall klimpert, etwas prallt auf dem Boden auf. Jemand flucht unterdrückt. Ein schabendes Geräusch erfüllt die Luft.
„Wenn du hier rauskommen willst, David, dann musst du mitspielen", raunt Koiss so unvermittelt in das Schaben hinein, dass ich seine Worte kaum verstehe. Ich drücke mich von der Wand weg, um näher zu kommen, da hebt er mahnend die Hand. „Bleib wo du bist. Gleich gibt es das Frühstück. Ich komme nachher wieder", sagt der blonde Mann, laut.
Inzwischen haben die anderen Wachleute mit dem Rollwagen meine Zelle erreicht. Genau wie Koiss sind sie mit schweren Schlagstöcken ausgestattet, keine Pistolen.
„Wieso hat die Zelle noch keine Nummer?", fragt einer der Wachleute brummend. Mit zusammengekniffenen Augen sieht er mich gelangweilt an. Zwischen seinen Fingern ruht ein viereckiges Gerät, welches rot blinkt. Ich verstehe die Frage nicht und will etwas sagen, da kommt Koiss mir zuvor.
„Das ist Brighton. Der hat keine Nummer", meint er und der Mann, der die Frage stellte, mustert mich argwöhnisch. Dann greift er grummelnd unter die seitliche Abdeckung des Rollwagens und zieht ein Tablett hervor. Darauf liegt eine metallische Dose sowie eine kleine Flasche. Dumpf stellt er es unsanft am Boden ab. Ich erkenne die kleine Lücke ganz rechts unten bei den Gitterstäben. Sie ist vielleicht fünf Zentimeter hoch und gerade lang genug, dass der Wachmann das Tablett durchschieben kann.
„Toilettenausgang in einer Stunde", schnarrt er mechanisch und schiebt den Rollwagen zur nächsten Zelle. Misstrauisch betrachte ich das Tablett in der Entfernung. Am Ende des Ganges höre ich, wie die Türe zuschlägt. Die Wachleute mit dem Rollwagen sind verschwunden. Vorsichtig löse ich mich von der Wand und bewege mich auf das Tablett zu. Kurz davor lasse ich mich zu Boden sinken. Die Person gegenüber ist wieder zurück auf die Matratze gefallen.
„David?", wispert auf einmal eine Stimme links von mir. Vor Schreck zucke ich zusammen und befördere beinahe das Tablett durch den Spalt der Gitterstäbe aus meiner Reichweite. Gerade noch rechtzeitig bekomme ich es zu fassen, muss mich dazu aber halb auf den Boden werfen und meinen Arm durch die Aussparung schieben. Das Metalltablett scharrt über den Boden, während ich es wieder zu mir ziehen. Der Brei, der sich in der Dose befindet, ist übergeschwappt. Die Frau nebenan blickt mich an. Sie umfasst mit beiden Händen die Stäbe. Aus diesem Winkel kann ich nur ein paar Strähnen ihrer Haare und ein Auge erkennen. Sie legt den Kopf schief und dann sehe ich beide ihrer Augen.
„Ich bin Nummer 149. Jana Zwin", stellt sie sich flüsternd vor. „Willkommen in den Zellen." Ein trauriges Lächeln überzieht ihr Gesicht.
Ich nicke ihr zu. „Wo sind wir hier genau?", murmle ich zurück.
„Irgendwo in Untergrund. Wir sind Trakt 4. Die Aufständischen aus dem Inneren der Gesellschaft. Die Gefährlichsten." Sie lacht kurz auf und ihre Stirn berührt die Eisenstange. „Ich bin Jana Zwin." Ihre Augen, groß und dunkelbraun, sind mit Belustigung gefüllt.
„Zwin?", frage ich und mein Kopf jagt davon. Die Frau nickt ernst. Ich schlucke und starre zu ihr.
Zwin. Das ist eine der Familien aus der Gesellschaft, die sich ihr Ansehen vor langer Zeit verspielt haben. Ihr Name wird nur als Warnung für andere benutzt. Ich strenge mein Gehirn an und versuche mich an meine Lehrstunden über die Geschichte der Gesellschaft zu erinnern. Was damals genau passiert war. Da ist der Ehemann Zwin, der bis heute einsam lebt und seine Frau, die vor langer Zeit starb. Mehr weiß ich nicht mehr. Was auch immer vorfiel geschah vor meiner Zeit. Doch die braunhaarige Frau ist mittleren Alters. Und wenn sie sich als Zwin vorstellt ... ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Ich beiße mir auf die Lippe und taste nach der kleinen Flasche auf dem Tablett. Ist diese Frau ... die verstorbene Ehefrau? Wird sie ... wird sie von der Gesellschaft festgehalten? Kühles, leicht abgestanden schmeckendes Wasser benetzt meine plötzlich trockene Kehle.
„Wie lange bist du schon hier?"
„In dieser Zelle? Vielleicht ein paar Monate. In Gefangenschaft? Beinahe zwanzig Jahre." Bei ihren Worten dreht sich mein Magen um. Ich wende den Blick von ihr ab und fixiere die Wasserflasche. Im Hintergrund sehe ich den ausgeschütteten Brei auf dem Tablett. Ich schließe die Augen, kämpfe gegen die Übelkeit in mir. Jana Zwin. Angeblich längst verstorben, aber in Wahrheit seit Jahrzehnten weggesperrt.
„Was ... was hast du getan?", kommt es mir taktlos über die Lippen.
Jana verzieht den Mund. „Das kannst du dir wohl denken, oder?" Unverständlich sehe ich zu ihr. Ich weiß wirklich nicht, was sie meint. Die braunhaarige Frau seufzt. „Nummer 149. Jana Zwin. Beunruhigender Charakter. Widerstand gegen das System der Gesellschaft. Partizipation im Aufstand." Ein kurzes Lachen entfährt ihr, sie schüttelt den Kopf. „Das sagen zumindest ihre Aufzeichnungen über mich."
Jana beugt sich so nah zu mir wie nur möglich. „Ich bin eine Gefahr für das System. Wie wir alle hier. Nicht, dass wir einen neuen Aufstand anzetteln."
„Aufstand?" Meine Finger zittern und ich stelle die Metallflasche ab, bevor sie mir entgleitet. Die Übelkeit erreicht meinen Kopf. „Es gab einen Aufstand?"
Ihr Blick spiegelt mein Unglauben doppelt wider. „Du weißt nichts vom Aufstand? Isabelles Rebellion?"
Ich kann nur den Kopf schütteln. Auf einmal fröstelt es mich am ganzen Körper. Es gab eine Rebellion gegen die Gesellschaft? Jana weicht zurück. Ich sehe wie ihre Finger weiß werden, so krampfhaft umklammert sie die Stäbe.
„Du bist mitten aus dem Kreis der Ältesten und du weißt es nicht", haucht sie. „Also ... also weiß es niemand. Sie haben es wahrhaftig vertuscht. Alles. Jeden ihrer Morde." Janas Stimme ist ein fassungsloses Wispern, das mir Furcht einjagt. Ihr Blick trifft meinen. „Wir sind eingesperrt, weil wir uns ihrem System widersetzt haben, David. Wir sind die Aufständischen. Und vor ungefähr zwanzig Jahren gab es eine Rebellion. Angeführt von meiner besten Freundin. Isabelle Rutherford."
Mein Kopf weiß mit ihren Worten nichts anzufangen. Die Gesellschaft, die perfekte Gesellschaft, in der alles problemlos abläuft. Aufständische. Morde. Zellen. Meine Gedanken schwirren und die Verbindung der zwei Seiten scheint unmöglich.
Am Ende des Ganges fliegt abrupt die Türe auf. Augenblicklich verschwindet Janas blasses Gesicht aus meinem Sichtfeld. Schritte nähern sich.
„Brighton!"
Es ist Koiss, der vor meiner Zelle zum Stillstand kommt. Skeptisch mustert er das Tablett. Der Brei ist inzwischen eingetrocknet. „Wenn du nichts isst, ist das dein Problem", meint er trocken. „Steh auf! Dein Vater möchte dich sprechen."
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