31 - Verloren
R U N E
Ich fühle mich taub.
Fühle nichts außer der gähnenden Leere, die David in meinem Herz hinterlassen hat.
Niemals hätte ich gedacht, dass ein einzelner Mensch so starke Gefühle in mir auslösen kann.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich mich je wieder in fremden Augen verlieren werde.
Wenn ich David nie im Wald gefunden hätte – dann wäre alles anders gewesen.
Wenn er damals nicht mit seinen blauen Augen im Wald gewesen wäre, die langen Wimpern in seinem makellosen Gesicht und dieser suchende, hoffnungsvolle Ausdruck in den Augen.
Wenn ich nicht seinen Neuanfang gesehen hätte, wie er mit der Zeit aufblühte, nie aufgab, sich jeder Herausforderung stellte. Wenn er nicht so intensiv und offen und voller Emotionen gewesen wäre, Emotionen, die mich noch immer nicht loslassen.
Wenn ich ihn nie kennengelernt hätte.
Wenn er mir in dem Moment als er mir in die Augen sah, seine Gefühle gestanden hätte, mit seinen Augen, die ihn immer verraten haben.
Wenn ich nicht an seiner Ehrlichkeit und Offenheit zerbrochen wäre, wenn ich mir nicht eingestanden hätte, dass ich nicht anders kann. Dass da dieser starke Sog ist, der mich zu ihm hinzieht und dass seine Nähe mich zum Lächeln bringt.
Wenn ich ihn nicht geküsst hätte.
Denn ich war es, die den Bann zwischen uns gebrochen hat. Die das Chaos im Inneren an die Oberfläche dringen ließ, die kopflos und unbedacht handelte.
Dann würde mein Herz jetzt bei dem Gedanken an ihn nicht bluten und schmerzen.
Ich habe nachgegeben und ich wollte nie wieder nachgeben, nie wieder Gefühle zulassen. Ich wollte mir nie wieder solche Gefühle erlauben. Sie haben für mich keinen Sinn. Weil ich glaube, in den Gefühlen unterzugehen.
Wie damals.
Wie damals als ich erlebte, wie mich die Liebe beflügelte, mich in die Höhe trieb und wenn die Luft dünner wurde, mir keinen Platz zum Atmen ließ. Denn an meiner Seite war ein anderer, welcher den Sauerstoff für sich beanspruchte.
Und er ließ mich fallen, tief, tief, tief. Bis ich im Fallen mich selbst verlor und mit grausamer Brutalität am Boden zerschellte, in tausende kleine Stücken, die nie wieder zu einem Ganzen werden können. Dem Ganzen, das ich eigentlich war.
Jeder einzelne Gedanke gilt David, während ich Schritt für Schritt in die entgegengesetzte Richtung von ihm gehe. Denn in meinem Herzen, in meinem kalten, gefangenen Herzen gab es die Hoffnung. Die Hoffnung, dass seine Liebe mich nicht verändert. Die kleine Hoffnung, dass seine Liebe mich so akzeptiert, wie ich bin. Dass sie mich stärkt.
Mit jedem Schritt möchte ich mich umdrehen, zu ihm zurücklaufen, ihn einholen. Bei ihm sein.
Seine Lippen berühren.
Seinen Namen flüstern.
Seine Augen suchen.
David, David, David. Meine Füße scheinen im Takt seines Namens zu laufen. Ich muss mich grausam zwingen, nicht umzukehren. Stark zu bleiben. Zu begreifen, dass er fort ist.
Weg.
Für Immer.
Damit muss ich mich abfinden.
In dem Augenblick, in dem ich zerbrach und einen Schritt auf ihn zumachte, musste ich ihn auch wieder loslassen. Ihn ziehen lassen, um nach Hause zurückzukehren, zu seinem grausamen Vater, in das unmenschliche System der Gesellschaft. Wahrscheinlich ist er jetzt schon in Gewahrsam seines Vaters und ich bete dafür, dass er noch lebt. Ich zwinge meine Gedanken, an nichts zu denken.
14 Schritte.
37 Schritte.
63.
76.
99.
127.
165.
Bei 200 höre ich auf zu zählen.
Nur das Geräusch des leisen Raschelns meiner Tritte auf dem Waldboden erfüllt mich. Stunden vergehen. Inzwischen ist es stockdunkel und ich kann kaum etwas erkennen. Trotzdem renne ich weiter. Meine Lungen schmerzen und meine Beine sind taub. Immer weiter und weiter. Ich renne die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag, bevor ich vor Erschöpfung nicht mehr richtig sehen kann und am Fuße eines Baumes zusammenbreche. Die Müdigkeit und die Schmerzen in meinen Gliedern löschen jeden verzweifelten Gedanken aus, Gedanken an David, an mein Herz, an meine Schwäche. Sobald die Sonne mich weckt, renne ich weiter. Meine Schritte stampfen einen beunruhigend schnellen Rhythmus in den Erdboden und am späten Nachmittag sehe ich die vertraute Gegend um das Dorf der Lihai.
Niemand hält mich auf, als ich daran vorbeilaufe. Keiner wird auf mich aufmerksam, als ich wie ein Schatten vorbeihusche.
Meine Füße tragen mich zum See, meinem kleinen, geliebten See. Ich lasse mich auf einen Stein sinken und vergrabe das Gesicht in den Händen.
Ein See. Ein See ist die Verbindung zwischen uns.
Am See bin ich zum ersten Mal gebrochen, aufgebrochen worden von ihm und habe ihm meine tiefsten Gedanken offenbart.
Am See habe ich David von meiner Vergangenheit erzählt und er hätte mir beinahe von seiner erzählt.
Am See gab es diesen Moment, in dem wir uns so nah waren, in dem wir uns beinahe geküsst hätten.
Am See spielten meine Gefühle verrückt.
Meine Tränen tropfen zu Boden, wandern zum See und vermischen sich. Wasser und Wasser.
Die ganze Nacht sitze ich da, nur um zu sitzen, aufs Wasser hinaus zu starren und meine Gedanken schweifen zu lassen.
Die ganze Nacht sitze ich da, um an David zu denken. Um meinen Emotionen freien Lauf zu lassen, bevor ich sie wieder ganz tief in mir versperre.
Seine neugierigen Augen, die mir einen Stich versetzen. Wie er sich in mein Herz geschlichen hat, obwohl er schrecklich untalentiert im Kämpfen ist. Seine Art, nie aufzugeben, immer auf der Suche nach einem neuen Leben.
Wie er es geschafft hat, mein Innerstes zu berühren und mein Gefühlschaos aufzudecken.
Als der Morgen graut, öffne ich die Augen. Und treffe meine Entscheidung.
Ich bin Rune. Ich werde im Hier und Jetzt leben.
David ist nicht mehr bei den Lihai. David ist Vergangenheit.
Ich werde nur nach vorne sehen und mich auf den Stamm konzentrieren. Denn die Lihai sind alles, wofür ich noch lebe.
Sämtliche Gedanken an David dränge ich in den untersten Winkel meines Herzens.
Im ersten Sonnenlicht mache ich mich auf den Weg ins Lager. Die Luft ist kühl für einen Sommertag und Gewitterstimmung, passend zu dem Sturm in mir, liegt in der Luft. In der Ferne sehe ich den Eingang des Dorfes. Die großen Holztore sind geschlossen. Selbst für die Jäger ist es noch ein wenig früh, obwoh sie die ersten sind, die das Lager verlassen. Lautlos wandere ich an der Palisade entlang, die das Dorf umgibt.
Endlich erspähen meine Augen die gute Stelle zum Klettern. Ich schnalle meinen Bogen und Köcher fest auf den Rücken und beginne zu klettern. Oben angekommen weiche ich den spitzen Hölzern aus, die mir den Weg hinüber versperren sollten. Sollten. Einen Sprung später habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Die Pfeile auf meinem Rücken klappern ein wenig, sonst ist alles ruhig. Wie eine Schlafwandlerin wandere ich durch das Dorf.
Vor meiner Hütte bleibe ich stehen. Leise ziehe ich die Türe auf und schlüpfe rasch hinein, damit Jeya, welche im ersten Raum schläft, nicht vom kalten Luftzug geweckt wird. Behutsam lege ich meine Ausrüstung neben mein Bettlager und lasse mich vollständig angekleidet auf die Matratze fallen. Sekunden später bin ich eingeschlafen.
***
Ich höre sie, bevor ich sie sehe. Sie hat sich schon zuvor in meine Träume geschlichen.
Ruhig atme ich weiter, wie wenn ich noch schlafen würde. Alles ist still und die Sonne kitzelt mich in der Nase. Seufzend schlage ich schließlich doch die Augen auf. An meinem Bett sitzt Cayla.
„Hey", flüstert sie. In ihren türkisfarbenen Augen liegt ein Lächeln. Matt erwidere ich es und streiche mir eine Locke aus der Stirn. Denke nicht daran, wie David mein Haar berührt hat.
„Wieso bist du hier?", frage ich stattdessen. Durch das Fenster neben mir fällt ein Streifen Sonnenlicht herein. Dem Winkel nach ist es das letzte an diesem Tag.
Cayla blickt mich eingeschnappt an. „Was glaubst du denn?", fragt sie, schüttelt aber den Kopf. „Ganz offiziell wegen Toris' Anweisung. Du hast Spuren in der ganzen Hütte hinterlassen und Jeya fand dich halbtot schlafend." Ich sehe zu Boden. Da sind meine sandigen Stiefel, an denen der Schlamm des Seeufers klebt. „Und inoffiziell weil ich mir um dich Sorgen mache, Rune. Bist du ... die Nächte durchgewandert?"
„Mehr oder weniger", erwidere ich, auch wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin wie eine Irre gerannt, bis ich zusammenbrach. Und eine ganze Nacht am See gesessen, alleine mit meinen Gedanken.
„Du weißt ganz genau, wie weit der Weg zur Stadt ist, Rune! Toris hat dich frühestens in zwei Tagen erwartet!" Cayla schüttelt missbilligend den Kopf. „Sie war richtig geschockt, als Jeya ihr von deiner Ankunft erzählte."
Ich zucke mit den Schultern. Soll die Stammesführerin eben nicht gut auf mich zu sprechen sein, mir ist es in dem Moment egal. Mein wahnsinniger Heimweg war notwendig, um meine Schmerzen zu verdrängen und mit meinen Gedanken leben zu können.
„Rune!", ermahnt Cayla mich, ganz in ihrem typischen Tonfall. „Du musst dir auch einmal eine Pause gönnen. Und nimm mehr Rücksicht auf Toris. Du weißt wie schwer sie es hat."
Ich grummle über ihre Worte, nicke aber. Cayla rutscht vom Bett, damit ich aufstehen kann. Mein Körper ist ganz verspannt und meine Glieder schmerzen. Stöhnend strecke ich mich. Das schwarzhaarige Mädchen beobachtet mich.
„Du musst mit Toris reden. Sie wartet schon darauf, dass du aufwachst. Zuvor solltest du dich aber waschen", meint sie schmunzelnd und verabschiedet sich.
Meine Kleidung ist verdreckt und zerknittert, die Strohmatratze meines Bettlagers ebenso. Ich hätte wohl doch nicht damit schlafen gehen sollen. Ich folge Caylas Rat und beginne mich notdürftig in meinem Zimmer mit einem Lappen zu reinigen. Später würde ich den Fluss aufsuchen, um auch den letzten Rest Dreck von meiner Haut zu schrubben. Aus der Truhe hole ich mir eine hellbraune Hose, ein leichtes Shirt und eine Lederjacke. Gewohnheitsmäßig verstaue ich meine Messer im Gürtel, obwohl es zu spät ist, um noch trainieren oder jagen zu gehen. Dann begebe ich mich ins Freie. Noch immer scheint Toris Befehl aufrecht zu sein, dass sich die Lihai vorrangig im Inneren aufhalten sollen. Ich finde den Weg zur Hütte der Stammesführerin, wo sie auf mich zu warten scheint.
Ihre dunklen Augen mustern mich besorgt. Ich versuche, in ihrer Körperhaltung zu lesen. Toris hält sich aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre dunkelbraunen, kinnlangen Haare hat sie zu einem straffen Zopf gebunden. Die Stammesführerin der Lihai steht fest auf dem linken Bein, das rechte ist leicht abgewinkelt. Anspannung, Nervosität, Sorge aber auch Zorn meine ich in ihrer Miene zu lesen.
Vor ihr bleibe ich stehen. Minutenlang schauen wir uns unverwandt an. Jeder andere hätte nach wenigen Sekunden den Blick abgewendet – Toris' Blicke sind stechend, meine intensiv. Doch weder sie noch ich lösen die Augen vom Gegenüber. Toris ist sich ihrem Amt als Stammesführerin vollauf bewusst – bei mir ist es das Selbstvertrauen und das Vertrauen aller anderen in mich, das mich nicht wegschauen lässt. Außerdem habe ich schon zu oft Blickduelle mit ihr bestritten.
Während wir uns gegenseitig in die Augen schauen, merke ich wie sie versucht in mir zu lesen. Genau wie ich vorher bei ihr. Toris wendet den Blick nicht von meinen efeugrünen Augen ab, jedoch nimmt sie meinen ganzen Körper wahr. Sie ist eine Meisterin im lesen andere Menschen. Aber ich bin eine Meisterin im Verleugnen. Mein Gesicht ist eine ausdruckslose Maske, meine Haltung locker und betont natürlich. Irgendwann seufzt Toris und schließlich wendet sie den Blick ab.
„Was ist mit dir los, Rune?", fragt sie mich, jedes Wort sorgfältig betont.
„Was sollte mit mir los sein?", gebe ich zurück.
Toris verdreht ihre dunklen Augen. „Rune." Sie macht einen Schritt auf mich zu und mustert mich besorgt. „Ich kenne dich. Solche Sachen machst du nur, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt. Du vergräbst dich in Arbeit, bis du nicht mehr denken kannst." Ich bleibe stumm, will die Wahrheit in ihren Worten nicht wahrhaben. „Rune, bitte, rede mit mir", fleht sie mich an. „Ich mache mir Sorgen um dich."
Ich schlucke und in ihrer Stimme klingt leichte Verzweiflung mit. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen, Toris."
Sie lächelt wehmütig. „Ich weiß. Aber ... ich tue es trotzdem." Sie stockt. „Bitte, ich will dir nur helfen. Lass mich dir helfen."
Ich schüttle den Kopf, meine Augen sind traurig. „Du kannst mir nicht helfen, Toris", flüstere ich.
Toris kommt zu mir und plötzlich fühle ich ihre Arme um mich. Sie zieht mich an sich, presst ihren warmen Körper gegen meinen. Ihr Atem streicht mein Ohr. „Ich bin für dich da, Rune. Was auch immer du brauchst."
„Ich weiß", wispere ich. Ich schließe die Augen, lasse mich für eine Sekunde in ihren Armen versinken. Dann löse ich mich von ihr, gehe auf Abstand. Toris versteht meinen Rückzug und lässt mich ziehen. Ihre weiche Miene wird sachlich, sie hat verstanden, dass ich ihr nicht sagen kann, was mit mir los ist.
Toris sinkt auf eine Bank und überschlägt die Beine. „Was ist mit der Stadt? Hast du David gut zurückgebracht?", fragt sie, eine ganz normale Frage.
Doch auf einmal ist mein Kopf wieder ein Durcheinander. Ich atme durch. Erlange die Kontrolle. „In den Wäldern am Grenzzaun sind Patrouillen unterwegs. Sonst habe ich nichts gesehen." Luft verlässt meine Lunge. „Ich habe David so nah zum Zaun gebracht wie nur möglich. Mit ... mit ihm sollte alles in Ordnung sein", teile ich ihr mit.
Meine Stimme ist fest und meine Augen kühl und doch ist da die kleine Pause, welche die Wahrheit verrät. Und das Chaos in meinem Inneren, angefacht von den unklaren Worten, seiner unklaren Zukunft.
„Rune?", haucht Toris ungläubig und natürlich hat sie mein Zögern bemerkt, hat gemerkt, wie ich meine Gefühle einsperren muss.
Ich schließe geschlagen die Augen, schüttle den Kopf. „Lass mich bloß damit in Ruhe", kommt es mir hart über die Lippen. Mein Blickt trifft ihren und sie muss darin etwas sehen, dass sie verstummen lässt.
Toris lässt mich ohne weiteres Wort gehen.
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