23 - Annäherung
R U N E
Die Tage vergehen im Schneckentempo. Einer gleicht dem vorherigen.
Mittags scheint die Sonne so stark herab, dass sich die Lihai in ihre Häuschen oder in den Schatten der Bäume verziehen und gleichzeitig ist das Wetter unberechenbar geworden. Unerwartete Regenschauer prasseln auf uns hinunter und überraschen mich mitten auf der Jagd. Ich musste schon das Training mit David ausfallen lassen, weil das Trainingsgelände zu einer reinen Schlammgrube wurde. Doch der heutige Tag ist schön. Noch verdunkelt keine einzige Wolke den blauen Himmel. Ein perfekter Tag, um den See aufzusuchen.
„Rune? Bist du endlich fertig?" Liz steht ungeduldig im Türrahmen meines Raumes. Unter ihrem Arm hält sie eine kleine Ledertasche. Seit Tagen schon freut sie sich darauf, im See schwimmen zu gehen. Zwar ist das Wasser noch kühl, aber erträglich. Vor allem wenn man nicht nur fröhlich herumplantscht, sondern konzentrierte Runden zieht.
„Ich habe es gleich, ich brauche nur noch meine Sachen", rufe ich ihr zu und krame in meiner Truhe nach einem schmutzigen Shirt, das ich zum Schwimmen anziehen kann. Eines gefunden stopfe ich es in meine Tasche. Ich packe noch einen Wasserbeutel, ein wenig Obst und ein kleines Leinentuch dazu. Ein Stück grobkörniger Seife wandert auch noch hinein. Ich nicke Liz zu und schnalle meinen Messergürtel um die Hüfte. „Ich bin bereit. Du auch?"
Das junge Mädchen strahlt mich übermütig an, ganz wie ihre ältere Schwester. „Natürlich!", überschlägt sich beinahe ihre Stimme und schon huscht sie aus meiner Hütte hinaus. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Haupttor. Da wir später sowieso viel schwimmen würden, schlendern wir gemütlich den Waldweg entlang, der uns zum kleinen See führt.
Trotz des frühen Sommers brennt die Sonne nur so auf uns herunter. Schon bald bildet sich der erste Schweißtropfen auf meiner Stirn. Da begrüße ich es erneut, dass wir Jäger in den frühen Morgenstunden zur Jagd ausrücken.
Nach einiger Zeit des Wanderns kommen wir endlich am See an – es ist ein anderer als der, den ich während der Jagd gerne aufsuche. Dieser hier ist wesentlich kleiner und näher am Dorf. Außerdem erwärmt sich im Frühsommer das Wasser schneller. Deswegen ist dieser Ort ein beliebter Platz, um heiße Tage zu verbringen. Auch heute hatten wohl schon einige andere Lihai diese Idee, denn am Ufer erkenne ich mehrere Personen und im Wasser ein paar Köpfe.
Ich suche uns eine ruhige Stelle, ein wenig abseits der anderen. Liz ist kaum zu bremsen und rascher im Wasser, als ich meinen Messergürtel abgelegt habe. Schmunzelnd drehe ich den Lihai in der Entfernung den Rücken zu und wechsle mein Oberteil. Das neue reicht mir bis zur Mitte des Oberschenkels, weswegen ich meine enge Lederhose abstreife.
„Rune! Komm endlich!", ruft mir Liz zu. Sie steht schon bis zur Hüfte im Wasser. Ich schiebe noch schnell unsere Sachen auf einen gemeinsamen Haufen zusammen, dann folge ich ihr. Das Wasser reicht ihr nun bis zu den Schultern, doch ich mache mir keine Sorgen. Liz kann schwimmen, sehr gut sogar. „Es ist kalt!", dringt ihre Stimme zu mir und ich lache über ihren Tonfall. Sie taucht unter, schüttelt sich als sie wieder hochkommt. „Wirklich!", beteuert sie.
Ich selbst bin knietief im Wasser und wate auf sie zu. Liz hat recht. Es ist frisch, aber auszuhalten. „Dann schwimm los!", fordere ich sie auf. „Ich hole dich gleich ein!"
Liz kichert und Wasser spritzt auf. Ich hole Luft und wappne mich gegen die Kälte, bevor auch ich ganz eintauche. Dann folge ich dem jungen Mädchen mit berechneten, kräftigen Bewegungen. Wir durchqueren gemeinsam zweimal den ganzen See, Seite an Seite und darauf bedacht, unser Tempo stetig beizubehalten. Liz scheint mit dem Schwimmen vollkommen zufrieden zu sein, sie beschwert sich nicht.
Als wir uns wieder Richtung Ufer wenden sehe ich, wie ihre Augen freudig aufblitzen und sie plötzlich ungeduldig wird. Liz' Blick huscht zu mir und ich glaube sie will etwas sagen, traut sich aber nicht.
„Was ist denn?", frage ich sie belustigt und folge ihrer Aufmerksamkeit zum Ufer. Sein unserer Ankunft haben sich noch mehr Lihai eingefunden und ich erahne, worauf Liz hofft. Am Ufer erkenne ich Liz' beste Freundin Paula mit ihrer Mutter. Ich seufze. „In Ordnung. Es war besser als nichts, denke ich." Liz sieht mich mit großen Augen an. „Geh schon. Aber du kehrst mit Paulas Mutter nachhause, verstanden?", fordere ich Liz schmunzelnd auf.
Das Mädchen kichert, strahlt mich freudig an und nickt. Sie macht mehrere kräftige Schwimmzüge und steuert ihre beste Freundin an, welche Liz schon begeistert zuwinkt.
Ich lasse mich im Wasser treiben und halte ganz still. Liz ist am Ufer angekommen und umarmt stürmisch ihre Freundin. Neben ihnen registriere ich mehrere Personen. Da sind Vic und Thomas, welcher Sonja an der Hand hält. Sie lassen sich am Ufer nieder, blicken über den See. Langsam schwimme ich in ihre Richtung, bis ich Stimmen vernehmen. Vic ist der erste, dessen Füße im Wasser sind.
„Wo bleibt ihr denn? Nicht so langsam!", feuert er lachend seine Freunde an. Vic hechtet ungeduldig in den See. „Das Wasser ist herrlich!"
Der riesige Junge will nach Sonjas Arm fassen, die nun auch hüfttief im See steht, doch sie taucht flink darunter weg und springt selbst ins kühle Nass. Das Wasser schlägt über ihr zusammen. Thomas ist mit wenigen Schritten bei Sonja, die beiden rangeln im seichten Wasser. Ihr fröhliches Lachen dringt an meine Ohren sowie der empörte Aufschrei, als Thomas das Mädchen untertaucht.
Da erregen zwei neue Gestalten meine Aufmerksamkeit. Zwischen den Bäumen treten sie heraus und werfen ihre Sachen auf den Haufen der anderen. Elaine. Und ... David.
Plötzlich ist mir das Wasser doch zu kalt. Ich drehe mich auf den Rücken und schwimme rückwärts, ohne den Blick von den beiden zu lösen. Elaine sagt irgendetwas, Davids Haltung verrät daraufhin Verlegenheit. Das blonde Mädchen lacht glockenhell und zieht sich ihr Hemd über den Kopf. Darunter trägt sie nur ein dünnes Unterhemd mit schmalen Trägern. Sie streckt den Rücken durch und ich sehe, wie Davids Blick an ihr hängenbleibt, bevor er sich wieder löst. Kurz sieht er über die Wasseroberfläche. Beinahe meine ich, er würde mich ansehen. In meinem Hals bildet sich augenblicklich ein ärgerlicher Kloß, mein Herz jagt davon. Elaine hält ihm eine Hand hin und die beiden steigen über die Steine ins Wasser.
Ich wende den Blick ab und schwimme weiter mit kräftigen Schwimmzügen zur Mitte des Sees, wo ich mich treiben lasse. Mein Kopf ist voller dummer Gedanken. Ich versuche, alles um mich herum auszublenden. Ich lasse mich tief ins Wasser sinken. Meine Ohren lauschen den stillen Geräuschen des Sees. Eine Weile bleibe ich unter Wasser, ganz für mich. Dann tauche ich wieder auf und hole Luft. Meine Gedanken haben sich ein wenig beruhigt. Ich sehe mehrere Köpfe in der Nähe des Ufers, darunter auch Elaines blonden Schopf. Doch den Kopf, nach dem ich unbewusst Ausschau halte, finde ich nicht.
Da überholt mich eine Person. Von links krault sie neben mich und zieht an mir vorbei. Ein paar Meter vor mir hält sie inne und blickt zurück. Große, blaue Augen starren mich an und seine bloßen Schlüsselbeine nehmen mich für einen Moment gefangen. David.
„Du bist wohl im Wasser nicht so schnell wie am Land, oder?", grinst er mich frech an. Seine Bemerkung wirft mich völlig aus der Bahn. Seine Augen leuchten mit dem Wasser um die Wette. Ich versuche die Empörung aus meinem Gesicht zu verbannen, scheitere jedoch. Davids Grinsen vertieft sich.
Mit zwei Zügen bin ich an ihm vorbei. Mein Körper streckt sich im Wasser, meine Arme werden länger und meine Beine bewegen sich synchron mit dem Rest. Wie ein Fisch schnelle ich durchs Wasser, lasse ihn hinter mir zurück. Doch wenige Momente später ist er wieder an meiner Seite und überholt mich.
Keuchend zwinge ich meine brennenden Arme, schneller zu schlagen, meine Beine kräftiger zu treten und eins mit dem Wasser zu werden. Ich schwimme gleichauf mit David. Vor mir erkenne ich schon das gegenüberliegende Ufer. Ich strenge mich an und werde auf den letzten Metern noch schneller. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.
Doch auf einmal ich nicht mehr das Ufer vor mir. Um mich herum ist nur noch Wasser. Ich halte die Luft an, ein Reflex meines Körpers. Blubberbläschen steigen aus meiner Nase und mein Haar verdeckt mir die Sicht. Fahrig streiche ich es weg und versuche mich zu orientieren. Unter mir ist es schwarz, oben wird es heller. Instinktiv schwimme ich nach oben, der Luft entgegen. Keuchend komme ich an der Oberfläche an, huste und spucke ein wenig Wasser aus. Zwischen den herunterhängenden Ästen am Ufer steht David im seichten Wasser, die Hand auf einen Stein gelegt.
„Wie es aussieht habe diesmal ich gewonnen", schmunzelt der braunhaarige Junge und ich ziehe verärgert die Augenbrauen zusammen.
„Du hast betrogen. Du hast mich einfach untergetaucht", entgegne ich und bemühe mich, meine Stimme regungslos zu halten.
„Ich erinnere dich nur an deine Worte: Um einen Kampf zu gewinnen muss man zu allen Mitteln greifen, die nötig sind." Davids Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen. Kleine Wassertropfen rinnen aus seinen Haaren, seine Haut hinunter zu seiner nackten Brust. Mein Gesicht wird auf einmal verlegen. Ich fahre mir durch die Haare und wringe sie aus, überspiele meine Reaktion. Mein Blick ist kühl, obwohl mir am ganzen Körper heiß ist.
„Das war kein Kampf."
„In gewisser Weise schon", entgegnet David und ich frage mich, wann seine Worte so mutig geworden sind.
Ich ziehe die Augenbrauen in die Höhe. „Soll ich dir zeigen, was ein richtiger Kampf ist?"
„Du weißt wie sehr ich dein Training liebe!", grinst David sarkastisch und ich mache zwei Schritte auf ihn zu. Mein Blick bohrt sich in seinen, unnachgiebig. Langsam sehe ich wie die Belustigung aus seinen Augen verschwindet und er meinem Blick ausweicht. David räuspert sich und macht einen Schritt zurück. Erst jetzt fällt mir auf, wie nah beieinander wir stehen.
„Ist schon gut, ich sage nichts mehr", murmelt er und lässt sich auf einem Stein am Ufer nieder. David fährt sich mit der Hand durch die Haare. Sie stehen wild in alle Richtungen ab. Meine Finger zittern und ich will mit ihnen durch seine Haare streichen. Ich verbanne diesen Gedanken so schnell ich kann. Das kann ich mir nicht leisten.
Dennoch lasse ich mich schräg neben ihm nieder. Die tiefen Äste der Bäume, welche auf dieser Uferseite bis ins Wasser hängen, verbergen uns vor den anderen Lihai, die entspannt im See schwimmen. Ich ziehe die Knie an meinen Körper und schlinge meine Arme um sie.
„Es ist alles so ... so einzigartig hier", beginnt David leise. „Das Leben."
Ich nicke. „Das stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben."
David sieht mich an. Ich spüre es auf meiner Haut. „Ich auch nicht mehr", sagt er. Mir ist kalt und heiß zu gleich. Ich presse meine Beine enger an den Körper, kleine Wasserbäche fließen an mir hinab. Meine Zehen berühren die Wasseroberfläche.
„Wie ... wie war es denn in deiner alten Heimat?", frage ich, ganz vorsichtig. Wenn David die Frage unangenehm ist, zeigt er es mir nicht.
„Anders." In seiner Stimme schwingt etwas mit, eine seltsame Note. „Alles war anders. Ich ... ich lebte wie eingesperrt. Es gab kein Miteinander, wie es das hier gibt. Es gab ... ich hatte nicht diese Freiheit, die ich hier habe. Diese Freiheit, ich selbst zu sein."
David ist ernst geworden. Er schürzt die Lippen und runzelt die Stirn. Er sieht mich an, seine blauen Augen schwer und ehrlich.
Ich muss schlucken, halte seinen Augen jedoch stand. Die nächsten Worte kommen mir nur zögerlich über die Lippen. Sie sind wichtig und ich weiß nicht, wie er darauf reagieren wird. „Ist ... ist David überhaupt dein richtiger Name?"
Überraschung macht sich in seinem Gesicht breit, eine süße, unerwartete Überraschung.
„Ja. David Christopher." Auf den Lippen des Jungens findet sich ein kleines Lächeln ein. Davids Augen blitzen so neugierig, wie sie es oft tun. „Wieso fragst du?"
Ich hasse mich für das Gefühl, das seine Augen in mir auslösen. Meine Haut knistert und wispert, unverständliche Worte. Worte, die sie nicht flüstern sollte. Ich atme tief durch. Rüste mich für das Durcheinander in meinem Inneren. Das Durcheinander, das nicht existieren darf. Das Durcheinander, das ich mir nicht erlaube.
Nicht solange hinter seinen Augen ein Geheimnis herrscht.
David wünscht sich, ich wäre ehrlich zu ihm. Ich wünsche mir, er wäre ehrlich zu mir. Ehrlichkeit siegt über Ehrlichkeit und Offenheit verleitet zu Offenheit.
Seine blauen Augen wollen mich davon abhalten, seine Schutzlosigkeit auszunutzen. Doch ich muss Davids Geschichte herausfinden. Es ist längste Zeit, dass sie ans Licht kommt. Für den Stamm. Und ... für mich.
Denn aus welchen Grund auch immer macht mein Herz einen verräterischen Sprung, wenn seine Augen vor Emotionen übergehen zu scheinen.
Meine Stimme ist ein Windhauch, der über das Wasser getragen wird und in den sanften Wellen untergeht.
„Weil ... weil ich meinen richtigen Namen nicht einmal kenne."
Ach Rune ... ❤
Wenn es euch gefällt, lasst mir doch gerne ein Sternchen oder einen Kommentar da!
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