12 - Misstrauen
R U N E
Der nächste Morgen verläuft ereignislos.
Ich gehe lustlos jagen, meine Gedanken sind irgendwo, nur nicht bei meinem Bogen. Daher sammle ich mit größerem Erfolg Frühlingsblüher, welche Marlee sicher verwerten kann. Immerhin laufen mir die Pflanzen nicht davon. Heute bei Sonnenaufgang ist der Kundschaftstrupp mitsamt Cayla aufgebrochen. Ich konnte ihnen noch schnell viel Erfolg wünschen, dann waren sie auch schon weg.
Die Kundschafter waren seit mehr als zwei Monden nicht mehr in der Stadt – unsere Verbindungsleute mussten untertauchen und waren lange Zeit unauffindbar. Erst nachdem sich einer gemeldet hatte, gab es grünes Licht für einen Einsatz. Da wir viele Sachen benötigen, werden die Kundschafter sicher mehrere Wochen wegbleiben. Der Gedanke, Cayla wahrscheinlich einen Mond lang nicht zu sehen, stimmt mich traurig.
Als ich mittags ins Dorf zurückkehre, passt mich sofort Miguel ab. Er will mit mir reden, doch ich blocke ab. Ich kann ihm sowieso nicht mehr sagen, als ich bereits getan habe. Von meiner Seite aus ist alles ausgesprochen.
Später, ich bin am Weg zum Trainingsplatz, fängt auch Toris mich ab. Sie fasst nach meinem Arm und raunt: „Ich muss unbedingt etwas mit dir besprechen", eindringlich in mein Ohr. Verwundert folge ich der Stammesführerin zu ihrer Hütte. Pat, ihr Partner, ist nicht anwesend. Sorgfältig sieht sich Toris um und schließt die Türe hinter uns.
„Setz dich." Sie deutet auf zwei Hocker, dazwischen steht eine Truhe als Tisch. Ich lasse mich nieder und verschränke die Arme vor der Brust.
„Um was geht es?"
„Eher um wen", berichtigt Toris mich. „Um den Neuen. David."
Erstaunt blicke ich sie an. Leichtes Misstrauen kriecht in meinen Körper. „Was ist mit ihm?"
Sie holt Luft und stützt den Kopf in ihre Hände. „Ich weiß nicht was es ist, aber irgendwie passen da einige Sachen nicht zusammen."
„Wie meinst du das?"
„Ich habe seine Anwesenheit bei uns vorerst erlaubt. Ich nehme immer gerne Neulinge auf, denn jeder hat die Chance auf ein gutes Leben verdient. Wir Lihai sind von den Stämmen der Wildnis der Stadt am nächsten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Flüchtende aus den Slums den Weg zu uns finden." Ihr Blick liegt bedeutungsschwer auf mir. Unwillkürlich berühre ich mein Handgelenk, muss schlucken. Es passiert selten, dass ich an meine Vergangenheit denke.
„Dennoch, sie könnten eine Gefahr darstellen, das weißt du. Wir wissen nicht, ob sich diese fremden Personen in unser Stammesleben einfügen können. Oder ob sie nicht eine Bedrohung für uns sind." Toris macht eine Pause. Ich nicke. „Ich habe David gleich gestern am Vormittag zu mir geholt. Er erzählte mir, er käme aus den Slums. Zwei Brüder, er ist der Jüngste. Diese arbeiten auf den Feldern, David war in einer der Fabriken beschäftigt. Irgendwas mit Elektroteilen, frag mich nicht, was genau er getan hat. Und dann ist er einfach so geflüchtet."
Aufmerksam lausche ich ihren Ausführungen. Doch bisher kann ich keine einzige Ungereimtheit heraushören. „Und was willst du mir damit sagen? Dass David sein mühsames Leben in den Slums leid war, seine Familie im Stich gelassen hat und wie ein kleiner Junge weggelaufen ist?" Ich schnaube. Das ist die Geschichte von beinahe jedem aus den Slums, der sich in den Wald traut. Auch wenn dabei die Familie zurückgelassen werden muss – Egoismus, das eigene Leben an erster Stelle.
Eine gute Einstellung, um sich alleine durchzuschlagen. Bei uns im Stamm könnte es ein Problem werden. Der Stamm muss an erster Stelle stehen, immer. An dieser Einstellung kann man jedoch arbeiten. Egoismus stellt meiner Ansicht nach kein ernsthaftes Risiko dar.
Toris schüttelt den Kopf. „Nein, gar nicht. Doch ... mich lässt das Gefühl nicht los, dass diese Geschichte nicht zu David passt." Toris verstummt kurz. Ich beobachte genau die Regungen in ihrem Gesicht. „Hast du seine Kleidung genauer angesehen? Der Stoff ist dick und fest vernäht. Seine Schuhe haben eine wahnsinnig gute Qualität." Ein Bild von David erscheint in meiner Erinnerung. Schmutzige Kleidung, große Augen. Ich glaube ich verstehe, worauf Toris hinaus will. „Er ist groß gewachsen und dünn, aber dennoch gut genährt. Und seine Hände – hast du seine Hände gesehen? Er hat ganz glatte, weiche Hände, ohne Schwielen und Narben. Makellose Haut, auch im Gesicht. Das passt nicht zu einem Jungen aus den Slums."
Vor mir sehe ich das Bild, wie ich ihn im Wald fand. Schöne Wimpern, feine Haut. Seine reine Haut fiel mir bereits dort auf. Unversehrt. Toris scheint recht zu haben. Meine Gedanken beginnen zu kreisen, zu rasen. „Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie wir damals Elaine fanden. Oder als wir dich ..." Toris beendet ihren Satz nicht. Er schwebt zwischen uns, unausgesprochen. Sie räuspert sich. „Elaine war körperlich am Ende, total unterernährt. Sie hat als Arbeiterin geschuftet. Doch David ..."
„David hat möglicherweise nie in den Slums gelebt", stimme ich ihr widerstrebend zu. Vor meine Augen drängen sich Bilder der Slumbewohner. Eingesunkene Augen, fahle Haut, unterernährte Körper. Ich erinnere mich an den Dreck und den harschen, groben Umgangston in den Slums. Dort überlebt man nur durch die eigene Stärke oder Glück. Und letzteres hat man selten.
„Aber ... wenn er nicht aus den Slums kommt, von wo stammt er dann?" Meine Frage ist leise, zögernd. Sogar in meinen Ohren klingt sie absurd.
Toris mir gegenüber zuckt ahnungslos mit den Schultern. Sie lehnt sich gegen die Wand hinter ihr. „Vielleicht ist er von einem anderen Stamm gekomm-"
„Nein", unterbreche ich sie. „Mit Sicherheit nicht. Er hat absolut keine Erfahrung in der Wildnis. Das verrät alleine sein Gang über ihn." David war zuvor noch nie im Wald. Im Unterholz bewegt er sich so unbeholfen wie ein Kleinkind bei seinen ersten Schritten. „Außerdem kann er nicht kämpfen. Er hat kein Gleichgewicht, keine Kraft und kein Wissen über die Wildnis. Denkst du ... er könnte von jenseits stammen?"
„Du meinst ... jenseits der Stadt?"
Ich nicke unbehaglich. Auch Toris schweigt. Wir haben keine Ahnung, was das bedeutet. Viele der Lihai waren in ihrem ganzen Leben noch nie in der Stadt oder in den Slums – und was sich dahinter befinden könnte, jenseits der Mauern der Stadt, wissen wir nicht. Wir kennen unser Territorium in alle Richtungen sehr gut – doch mehr als Märsche von ein paar Wochen in immer die gleiche Himmelsrichtung hat niemand unternommen.
Und jenseits der Stadt ist noch keiner gewesen. Jenseits, im flachen Ödland, das sich unendlich weit bis zum Horizont erstreckt.
„Wir sollten auf der Hut sein. Auch wenn die Vorstellung mehr als befremdlich ist ... gehe ich davon aus, dass er keine Gefahr für den Stamm darstellt."
Mit dem Finger zeichne ich die Holzmaserung der Truhe nach. „Ich glaube kaum. Er ist so unwissend. So naiv. Er hat keine Ahnung vom Leben in der Wildnis. Selbst die Jüngsten könnten ihn überwältigen, so schwach ist er", meine ich, ein leichter Spott in meiner Stimme. „Jetzt wird er sowieso nie alleine im Dorf sein. Ich werde sofort mit seiner Ausbildung beginnen und den Fokus vorerst auf die Wildnis legen, nicht auf das Kämpfen. So kann ich ein genaues Auge auf ihn haben. Ich werde herausfinden, was er verbirgt."
„Danke, Rune."
So sehr mich die Vorstellung verstört, dass David möglicherweise etwas verheimlicht, so sehr weiß ich auch, dass er keine Bedrohung für die Lihai darstellt. Er könnte keinen der Lihai auch nur ansatzweise gefährden. Aber möglicherweise verbirgt er ein Geheimnis. Und bietet uns damit vielleicht eine Möglichkeit, mehr über etwas zu erfahren, über das niemand Bescheid weiß.
Im Kopf voller Gedanken an das Gespräch mit Toris, setze ich meinen ursprünglichen Weg zum Trainingsgelände fort. Heute soll ich mit Liz' Training beginnen. Liz, eigentlich Elizabeth, ist Caylas kleine Schwester. Sie ist gerade sieben Jahre alt geworden, zwischen ihr und Cayla klafft eine Lücke von einigen Sommern. Die Kinder im Stamm müssen von klein auf lernen, um später einmal selbst ihren Beitrag leisten zu können. In der Wildnis kann die Fähigkeit und das Wissen, wie man ein Messer schwingt oder eine Nacht sicher zwischen den Bäumen verbringt, den Unterschied zwischen Leben oder Tod bedeuten.
Gemeinsam mit Leon habe ich vor ein paar Jahren ein Konzept entwickelt, um den Kindern von klein auf spielerisch den Umgang mit Waffen und der Wildnis beizubringen. Je jünger sie sind, desto vertrauter sind sie mit den Gegenständen und wissen instinktiv, wie man sich in der rauen Natur verhält. Sollten sie jemals in eine Gefahrensituation gelangen, können sie sich selbst verteidigen.
Unsere Schulungen beinhalten Ausdauertraining, Koordination, Selbstverteidigung sowie natürlich den richtigen Umgang mit Waffen jeglicher Art. Ebenso unterweisen wir die Kinder im Überleben in der Wildnis – angefangen vom einfachen Spurenlesen, über eine Pflanzenkenntnis und die Grundlagen der Jagd bis zum Erkennen geeigneter Lagerplätze - nützliches Wissen, sollte man in irgendeiner Situation keine Möglichkeit mehr haben, ins sichere Dorf zurückzukehren. Wir versuchen, ihnen so viel es nur geht beizubringen.
Am Trainingsplatz angekommen werde ich von einigen Leuten mit einem kurzen Nicken begrüßt. Am Rand, ganz alleine, entdecke ich das junge Mädchen. Liz steht ein wenig schüchtern da, sie wirkt, als würde sie sich hier unwohl und fehl am Platz fühlen. Ich kann ihr Gefühl gut nachvollziehen – zwischen all den erwachsenen Lihai zu warten, welche Waffen in den Händen halten, ist bestimmt einschüchternd. Liz ist den Anblick der Waffen gewöhnt, immerhin ist sie damit aufgewachsen, aber das Wissen, selbst bald welche zu benutzen, ruft oft ein mulmiges Gefühl in den Kindern hervor. Meist verlieren sie aber innerhalb der ersten Stunden die Scheu. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch die Kinder, die es gar nicht erwarten können, den Umgang mit Messern oder Pfeil und Bogen zu lernen.
Während ich auf Liz zugehe, mustere ich ihre schmale Gestalt. Sie hat dieselben nachtschwarzen Haare wie ihre ältere Schwester Cayla, doch im Vergleich zu Caylas ist Liz' Haar leicht gelockt. Ihre Figur ist dünn und zart, ihr heller Teint ungewöhnlicherweise von ein paar Sommersprossen bedeckt. Aus aquamarinblauen Augen blickt sie mich ängstlich an.
„Hey", begrüße ich sie und gehe vor in die Knie, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein.
„Hallo Rune", flüstert sie zaghaft.
Ich lächle sie sanft an und lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Liz, heute beginnt deine Ausbildung. Du brauchst davor oder vor mir keine Angst zu haben. Wir fangen ganz klein an."
Ich bin gut im Unterrichten. Die Kinder des Stammes – welche die Zukunft der Lihai bilden – liegen mir ehrlich am Herzen. Anders als Eltern oder Geschwister schaffe ich es, einen ganz anderen Zugang zu ihnen zu finden. Ich lasse mich nicht von gelegentlichen Emotionen oder launischen Ausbrüchen aus der Ruhe bringen. Ich gebe nicht so schnell nach, wie es die eigenen Mütter vielleicht würden. Meine Ausbildungseinheiten sind streng. Ich bemühe mich, die individuellen Eigenheiten zu berücksichtigen, verfolge aber ganz klar mein Ziel. Sie müssen lernen, mit der Wildnis und mit Waffen umzugehen. Das ist eine Notwendigkeit. Liz nickt zustimmend, ihre schwarzen Haare wippen um ihr Kinn.
„Gut", meine ich. „Heute ..." Ich sehe, wie ihr Blick zu dem Messer in meinem Gürtel gleitet. Er ist ängstlich, scheu. Beruhigend verdecke ich mit der Hand die Klinge und lenke ihre Aufmerksamkeit zu mir. „Das werden wir so schnell noch nicht brauchen, keine Sorge. Wir beginnen im Wald. Erst wenn du bereit bist, fangen wir mit Waffen an."
Bei meinen Worten atmet das junge Mädchen sichtlich auf. Es wird wohl dauern, bis sie ihre Schüchternheit ablegt und ihren Mut findet. Doch ich werde sie dabei unterstützen und sie an den Punkt bringen, an dem ich sie haben will. Fähig, sich selbst zu verteidigen. Auch, wenn sie noch ein zartes Kind ist.
„Heute ... heute werden wir einen Spaziergang machen. Durch den Wald. Komm mit." Ich strecke Liz die Hand hin und das junge Mädchen ergreift sie. Bestimmend ziehe ich sie in meine Richtung, Liz folgt mir. Wir verlassen das Trainingsgelände und schlagen den Weg zum Haupttor ein. „Warst du schon oft draußen unterwegs?", frage ich sie, während wir am Kochhaus vorbeikommen.
„Naja, schon. Im Sommer bin ich ..." Eine Gestalt in der Ferne erregt plötzlich meine Aufmerksamkeit und ich unterbreche sie. „Warte kurz, Liz, ich glaube, wir können noch jemanden auf unseren Spaziergang mitnehmen." Neben dem Kochhaus lassen sich zwei Personen die Sonne ins Gesicht scheinen. Thomas. Und David. In einträchtigem Schweigen sitzen sie in der Wiese, träge.
„Hey Thomas!", rufe ich ihnen zu. Abrupt wenden sich die Köpfe in meine Richtung. Ich sehe, wie die Blicke der beiden über das kleine Mädchen an meiner Seite streifen. „Wie es aussieht seid ihr nicht besonders beschäftigt. David, bereit für deine erste Lektion?" Der Junge wirft Thomas neben ihm einen verwirrten Blick zu. Den Satz in der Sprache der Wildnis versteht er nicht, sehr wohl aber seinen eigenen Namen. Ich erkenne wie die beiden schnelle Worte wechseln, bis sich David erhebt und zu mir kommt.
„Was meint er mit ‚Ausbildung'?", sind Davids erste Worte.
„Du bist doch hoffentlich nicht davon ausgegangen, dass du einfach so wie du bist bei uns Lihai leben kannst, oder?", erwidere ich zynisch. Wie immer kann ich in seinem Gesicht ohne Probleme seine Gedanken lesen. Er überlegt, versucht aus meinen Worten schlau zu werden. Ich erlöse ihn. „Wenn du ein Lihai werden willst, musst du dich anpassen. Musst lernen. Viel lernen. Nur wer für uns brauchbar ist und seinen Teil beiträgt, der kann lange bleiben."
David schürzt die Lippen und sieht mich an. „Und das bedeutet ...?"
„Das bedeutet, ich werde dich ausbilden. Du wirst tun, was ich dir auftrage. Du wirst zuhören und mitmachen. Und du wirst schnell lernen müssen, wenn du auf Dauer hierbleiben möchtest." Der Junge nickt, ein wenig von meinem harschen Ton verunsichert. „Hast du das verstanden?"
„Ja", sagt er. Seine Augen wandern, genau wie Liz' vorhin, zu meinen Messern. Er schluckt. „Was ..."
„Komm mit. Du hast die Ehre, Liz und mich zu begleiten." Ich werfe ihm einen spöttischen Blick zu und setze mich in Bewegung. „Dein Wissensstand über die Wildnis ist wahrscheinlich noch geringer als ihrer, und sie ist gerade mal sieben Jahre alt."
Seine Reaktion sehe ich nicht, aber ich höre, wie er uns mit hastigen Schritten folgt.
Ein Sternchen dalassen kostet nichts :) ❤
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