10 - Überleben
R U N E
In der wohligen Wärme des Kochhauses angekommen, werden wir jubelnd empfangen. Leon und ich lachen, verneigen uns gespielt und die Euphorie des Kampfes schießt wieder in meine Glieder. Mein Blut fließt schneller, ich bin freudig aufgeregt.
Am hinteren Ende des Raumes winkt uns jemand zu sich. Ich erkenne an diesem Tisch Toris, die Leon anstrahlt, neben ihr Pat und gegenüber sitzen Cayla und ... der Neuling. Wenn Cayla seinen Babysitter spielt, ist nur logisch, dass er bei ihr ist. Meine Stimmung verschlechtert sich schlagartig. Doch eine Aufforderung der Stammesführerin persönlich können wir nicht ausschlagen und Leon steuert geradewegs auf seine gute Freundin zu. Ich folge ihm ein wenig widerstrebend. Die Vier rutschen zusammen, als wir uns hinsetzen und irgendwie landen sofort Becher mit Wasser und zwei Schüsseln mit einem deftigen Eintopf aus Fleisch, Kartoffeln, Brot und Gemüse vor unserer Nase. Dankbar greife ich danach. Der Hunger nagt inzwischen tatsächlich an mir.
„Also, leider habe ich es ja nicht mitbekommen, aber anscheinend hattet ihr einen guten Kampf?", beginnt Toris, sobald wir sitzen.
„Einen sehr guten", bestätigt Leon. „Auch wenn ich meine Hüfte wahrscheinlich noch eine Weile spüren werde."
„Und ich mein Bein", ergänze ich. Leon hat mir mittendrin unerwartet das Bein weggezogen und mich so zu Boden gerissen, was fast noch schmerzhafter als sein Schlag war.
„Hauptsache keine schweren Verletzungen. Ihr wisst, dass das ..."
„Das Wohl des Stammes immer über der Freizeit der Einzelnen steht. Und wir uns deswegen nicht absichtlich – zum Beispiel durch einen ausgearteten Übungskampf – arbeits- oder kampfuntauglich machen dürfen, wir wissen es. Und ich glaube, Rune und Leon am allerbesten", fällt ihr Cayla ins Wort.
Der Stamm braucht jede Hand zum Arbeiten und jedes Messer zum Kämpfen, sollte es notwendig sein. Nach diesem Grundsatz leben wir. Und nur wer seinen Teil zum Überleben des Stammes beiträgt, darf mit uns leben. Die Winter sind still und friedlich – doch die Sommer können brutal und blutig sein.
„Die beiden kennen sich aus", stimmt Pat ihr zu.
Ich trinke einen Schluck Wasser. „Jetzt im Frühling müssen wir sowieso alle auf Vordermann bringen. Jeder muss trainieren. Ebenso Leon und ich."
„Rune hat das Kämpfen über den Winter dennoch nicht verlernt. Hätte ich gewusst, dass sie irgendwann so gut sein wird, hätte ich aufgehört sie zu trainieren." Er tut so, als würde er mich mit seinem Löffel schlagen wollen. Ich kontere, indem ich blitzschnell ein Fleischstück aus seiner Schüssel stehle. „Hee!", entfährt es ihm lächelnd.
Ich grinse und blicke mich in der Runde um. Pat schmunzelt in seinen Eintopf hinein, Cayla bemüht sich, unter Lachen einen Schluck Wasser zu trinken, Toris grinst und der Neue - David - sitzt nur stumm daneben. Er spielt mit seiner Gabel herum und fühlt sich sichtlich unwohl. Kein Wunder, wenn er kein Wort versteht.
Cayla ist meinem Blick gefolgt. „Ich denke, wir sollten lieber die Sprache wechseln", meint sie vorsichtig, während ihr Blick auf dem Jungen liegt. „Schmeckt es dir?", fragt sie David direkt .
Erschrocken, plötzlich angesprochen zu werden, sieht er auf. „Ja, danke. Es ist gut." Schüchtern richtet er seine Augen auf seine Schüssel. Es erinnert mich an damals, als ich die Fremde war. Ungewollt steigt Mitgefühl in mir hoch, welches ich schlagartig untergrabe.
„Wie geht es deinem Knöchel?", beteiligt sich auch Toris. „Fühlt er sich schon besser an?"
„Er tut beim Gehen noch immer weh, doch ich denke, dass die Schwellung bereits weg ist. Er wird schon."
„Sehr gut. Du musst wissen, bei uns im Stamm ist niemand lange ohne Arbeit. Wenn du bleiben willst, musst du dich schnell einfügen. Und deinen Teil zur Gemeinschaft beitragen." David nickt. „Nach diesem Grundsatz leben wir. Und nur so überleben wir in der Wildnis." Toris hat ihre strenge Miene aufgesetzt und ist ernst geworden. „In den nächsten Tagen hast du noch eine Schonfrist. Du wirst nach und nach unser Stammesleben kennenlernen – und ein Teil davon werden. Cayla wird dir beiseite stehen."
„Eigentlich ...", wirft Cayla ein, „wurde ich zum Kundschaftstrupp für morgen eingeteilt. Auf Anweisung von Olivia. Am Westtor wurden die Wachen abgezogen und Andersson hat sich wieder gemeldet. Freies Licht."
Leon sowie Toris ziehen freudig überrascht die Augenbrauen in die Höhe. In Leons Gesicht kann ich dennoch eine gewisse Skepsis erkennen. „Bist du sicher? War es wirklich Andersson?"
„Ja", bestätigt das schwarzhaarige Mädchen und nickt. „Deswegen ist das ganze so spontan. Olivia hat uns organisiert. Wir brauchen dringend einige Vorräte."
„Da hast du recht. Gut, ich werde mit ihr reden, bevor ihr aufbrecht." Toris lächelt. „Dann ist es wohl ein Glücksfall. Wir können wieder in die Stadt. Und wir dachten, Andersson wäre tot." Bei dem Wort Stadt hört David auf. Dieses Gespräch hat Cayla schon in unserer Alltagssprache begonnen.
„Was ist passiert? Um was geht es?" Neugierig, vielleicht auch ein wenig erschrocken, sieht David zu Cayla, dann zu mir.
„Cayla kann dich die nächsten Tage nicht begleiten. Sie muss etwas erledigen", helfe ich beim Übersetzen aus.
„Was denn?"
Ich werfe Toris einen schnellen Blick zu. Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich verraten kann. Die Existenz der Stämme hat sich längst ala Gerücht in der Stadt und insbesondere den Slums herumgesprochen, das ist uns allen bewusst. Dennoch achten wir darauf, keine ungewollten Beweise in die Stadt zu bringen, um unser Überleben nicht zu gefährden. Sollte die Gesellschaft jemals beschließen diesen Gerüchten nachzugehen, könnte uns die kleinste Information zu viel das Leben kosten. Schon jetzt halten wir den Kontakt mit der Stadt auf das absolute Minimum beschränkt.
Toris schlägt die Augen nieder und nickt knapp. Ich erwidere ihren Blick ernst. Doch die Stammesführerin sieht mich ungerührt an. Sie hat den Jungen also schon ausführlich befragt und unter die Lupe genommen. Wahrscheinlich gleich heute am Vormittag, bevor er mit Cayla losgezogen ist. Und sie ist zu dem Schluss gekommen, dass David keine Gefahr für unserem Stamm darstellt. Dass sie ihn als Mitglied gutheißt. Ihm in seinem Wunsch nach einem neuen Leben entgegen kommt. Toris ist bereit, ihn bei den Lihai aufzunehmen.
Ich akzeptiere ihre Entscheidung, ohne sie infrage zu stellen. Mit der Bestätigung der Stammesführerin kann ich fortfahren.
„David, wie glaubst du, dass wir hier in der Wildnis überleben?"
„Ähm ... ihr versorgt euch selbst? Ich habe ein paar Felder gesehen, ich denke es werden Produkte angebaut? Und ... ihr jagt?"
Ich lächle mild. „Zum Teil hast du recht. Wir können uns beinahe selbst versorgen. Durch Anbau, Viehzucht, Jagd und Fischerei. Ebenso stellen wir viele Gegenstände selbst her – wir haben Handwerker, Näher und Gerber, sogar einen Schmied. Dennoch gibt es einiges, wofür unsere Eigenproduktion nicht ausreicht. Medikamente, vor allem. Marlee, unsere Heilerin, kennt sich mit den Pflanzen des Waldes und deren Wirkungen aus, doch gegen einen industriell hergestellten Impfstoff kommt sie nicht an. Auch bei der Metallverarbeitung brauchen wir Unterstützung. Du glaubst nicht, wie wertvoll stabiles Werkzeug ist. Oder Waffen." Davids leicht erschrockener Blick bei meinem letzten Wort entgeht mir nicht. „Und diese Sachen bekommen wir aus der Stadt. Direkt aus der Gesellschaft." Ich muss grinsen und sehe, wie es in seinem Kopf rattert.
„Aus der Gesellschaft? Aber ... wie?", fragt er verwirrt. „Es gibt keinen Weg in die Gesellschaft. Ihr Teil der Stadt ist zu abgeriegelt."
„Gut, vielleicht nicht direkt aus der Gesellschaft, doch aus der Arbeiterklasse. Wir haben dort Verbündete. Am Stadtrand liegen die Fabriken und Lagerhallen. Sie sind bewacht, aber nicht so gut, dass man sich während eines Zwischenfalls nicht ungesehen einschleichen könnte."
„Zwischenfall?" Seine Stimme ist dünn. Ich verdrehe die Augen. „Ja, ein kleiner Zwischenfall, ein Feuer, eine Unachtsamkeit der Wachmänner. Oder vorgetäuschte Probleme in der Fabrik nebenan, ganz egal. Hauptsache eine Ablenkung."
„Und ihr ... ihr bestehlt dann die Gesellschaft?" Ich nicke zur Bestätigung, wiege den Kopf nachdenklich. „Bestehlen ... nun ja, wir entwenden ungesehen ein paar der produzierten, noch nicht kategorisierten Artikel. Die Gesellschaft hat sowieso genug davon. Es fällt kaum auf." Ich zucke mit den Schultern. „Zahlendreher in den Aufzeichnungen, Maschinenausfall, Produktionsfehler. So was halt."
„Also ... ich ..." Er bricht ab, anscheinend nicht sicher, wie er den Satz formulieren sollte. „Ich habe mitbekommen, wie Arbeiter ... unschuldige Arbeiter ... verhaftet wurden. Sie wurden aus ihren Häusern gezerrt und weggebracht." Seine Stimme ist leise, kaum hörbar. Seine Augen richten sich in meine. Erneut kann ich jede seiner Emotionen darin lesen. Er schluckt. „Kann es sein, dass ... dass ihr daran Schuld seid?"
Stille machte sich auf unserem Tisch breit. Pat, Leon und Cayla schweigen unangenehm, sie haben nicht alles mitbekommen, dafür sind Davids Worte zu leise und ihre Sprachkenntnis nicht ausreichend. Nur Toris, die bei mir sitzt, hat alles gehört. Ich hole Luft, tausche mit ihr einen Blick.
„Das kann sein", erwidere ich ehrlich. „Wir haben Mittelsmänner in der Stadt, welche uns die benötigten Informationen über unsere Möglichkeiten liefern. Es ist nie so leicht wie es klingt. Oft warten wir monatelang, bis sich eine brauchbare Option bietet. Und wenn wir dafür einen Wachmann oder Arbeiter der Stadt die Schuld zuweisen müssen. Wir können uns nicht leisten, dass einer der Lihai dabei erwischt wird, verstehst du?"
Langsam nickt David. „Denn wenn sie euch erwischen, haben sie tatsächliche Beweise für die Stämme in der Wildnis." Er bricht ab, setzt dann wieder an. „Dann würden sie euch sofort aufspüren." Ich hebe die Augenbrauen. Sein Tonfall ist schwer. „Die Gesellschaft mag niemanden, den sie nicht kontrollieren kann. Sie würden euch auslöschen, sobald sie wissen wo ihr lebt."
Misstrauisch mustere ich ihn. Er versucht, seine Mimik unter Kontrolle zu halten, nichts zu offenbaren, doch ganz gelingt ihm das nicht. Ihm entgeht mein schneidender Blick nicht, er schluckt unruhig, ist nervös.
„Woher weißt du das?"
„Ich beobachte ... habe sie gerne beobachtet. Also die Gesellschaft." Seine Antwort ist mir einen Tick zu schnell. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Doch nun hat er sich gefangen und erwidert meinen Blick ungeniert. „Vergiss nicht, du willst zu uns gehören, David", erinnere ich ihn kühl. „Zu den Lihai. Und wir sorgen dafür, dass unsere Geheimnisse nicht in die Stadt geraten, dessen kannst du dir sicher sein." In seinen Augen, eben noch stark und selbstsicher, kann ich die aufsteigende Unsicherheit ablesen. „Denn es geht nur um eines in der Wildnis. Das gemeinsame Überleben. Und wir tun alles, um das zu gewährleisten." Mein Blick lässt ihn nicht los, während die Worte meinen Mund verlassen. Sie sind nachdrücklich, einschüchternd, ernsthaft.
Nach diesem Gespräch ist die Stimmung an unserem Tisch dahin. Wir plaudern nur noch oberflächlich mit David, bis Cayla etwas einwirft.
„Toris, wenn ich aber in die Stadt ziehe ... wer kümmert sich dann um David?" Bei der Erwähnung seines Namens sieht der Junge auf. Wir haben unsere Gespräche in verschiedenen Sprachen geführt, je nachdem, wer gerade mit dem wem redete. David blickt fragend zu Cayla. Sie übersetzt rasch. „Es ist nur so, heute hatte schon niemand Zeit für ihn, ich wäre eigentlich auch für die Felder eingeteilt gewesen, aber ..." In ihrem Mundwinkel hängt ein schelmisches Lächeln, dessen Bedeutung nur ich verstehen kann.
„Gute Frage." Toris runzelt die Stirn. Cayla hat recht. David kann als Neuling nicht alleine im Stamm herumirren, das ist klar. Auch wenn er von Toris akzeptiert wurde, muss er in den ersten Tagen von einem Lihai betreut werden, und sei es auch nur um ihm unsere Gewohnheiten zu zeigen.
„Wie wäre es denn mit dir, Rune?" Entsetzt starre ich Pat an. Wie aus dem Nichts kommt sein Vorschlag an meine Ohren. Nachdenklich streicht sich Toris mit der Hand über den Mund. „Das ist eine gute Idee, Pat", stimmt sie ihm zu.
„Vergiss es. Ich habe schon genug Aufgaben. Ich bin den ganzen Tag im Wald, Toris. Und in meiner Freizeit kümmere ich mich um die Ausbildung des Stammes", erwidere ich bissig.
„Das ist es ja eben! Du bist jeden verdammten Tag von Sonnenaufgang bis zur Dunkelheit auf den Beinen! Wenn du so weitermachst, bist du bis zum nächsten Mond so ausgezehrt, dass du dem Stamm nicht behilflich sein kannst."
Scharf fixiere ich Toris mit meinem Blick. Jeder andere wäre meinen Augen schon ausgewichen, doch unsere Stammesführerin hält ihn mit kühlem Ausdruck stand. „Ich bin kein Kindermädchen, Toris, verdammt nochmal! Und Davids schon gar nicht!", halte ich ihr entgegen.
Der ganze Tisch um uns schweigt unterdrückt. Auseinandersetzungen zwischen Toris und mir sind meist voller Spannung, unterdrückter Wut. Wir sind beide stur, zu bestimmend, uns zu ähnlich. Und in letzter Zeit geraten wir immer häufiger, immer heftiger aneinander. Wir starren uns unerbittlich an.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro