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Nachdem Ella endlich Zuflucht bei Corbyn gefunden hatte, konnte sie endlich einen Grundstein für ein würdevolles Leben legen. Trotz vermeintlich unerschöpflicher Ressourcen war ihr der eigentliche Sinn ihres Lebens weiterhin ein Rätsel. Ihr bisheriges Dasein glich einem Trauerspiel, begonnen mit ihrer Mutter, die sie abgab, da sie selbst noch ein Kind war - gefolgt von einer verwirrenden Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien. Zwar musste man diesen zugestehen, dass eigentlich alle von ihnen ihr Bestes für sie gaben, bis auf das abscheuliche Schwein, dessen Leben sie so brutal beendete. Doch dieses ständige Hin und Her hinterließ in Ella einen wilden Sturm der Unruhe zurück. Sie verspürte eine schmerzhafte Sehnsucht nach einer festen, schützenden Familie und einer eigenen Identität, die sie eigenständig und unabhängig wählte. Ihre Vergangenheit und die Leute, die über sie entschieden, sollten keine Spur mehr in ihrem Weg zur Selbstfindung hinterlassen. Entschlossenheit ergriff sie, ihr früheres Ich zu Boden zu zwingen und zu erschlagen, bis es endgültig verstummte. Ein klarer Schlussstrich musste gezogen werden. Sie stand bereit, sich neu zu erschaffen und aus den Scherben ihres Traumas eine bessere Zukunft zu formen.
Doch wie?
"Ella" - der neue Name schien ihr erster Schritt auf diesem Weg zu sein. In einer der engen, stinkenden Zugtoiletten fasste sie diesen Entschluss, sich fortan so zu nennen. Kein Erwachsener sprach den Klang von "Ella" vor ihr aus. Es war ganz allein ihr Name. Ein Name, den sie völlig willkürlich wählte, ohne jegliche Verbindung zu ihrer düsteren Vergangenheit.
"Ella" war perfekt für die Geburt ihres neuen Selbst.
Leise flüsterte sie ihn vor sich hin: "Ella... Ella..." Die Silben glitten sanft über ihre Zunge und formten einen fremden Klang, der ihr mit jedem Mal mehr ein Gefühl von Sicherheit und Autonomie schenkte.
"Ella" rief ihr ins Gedächtnis, dass sie die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben zurückerobert hatte.
"Ella" erinnerte sie daran, dass sie ein Recht auf Unversehrtheit und ein stabiles Leben besaß.
"Ella" ehrte die Kämpferin in ihr, die ihr altes Leben überlebte.
Sie hatte es geschafft – sonst säße sie nicht hier in diesem riesigen Raum auf einem flauschigen, weißen Bett. Einmal im Leben stand das Glück auf ihrer Seite und führte sie in diesen gefühlten Himmel.
Das gesamte Zimmer um sie herum erstreckte sich wie am ersten Tag in einem strahlenden Weiß, als hätte es förmlich auf sie und ihren Neuanfang gewartet. Weiß gewaschen schien ihr Gewand, weiß schien eine friedliche Welt, weiß schienen ihre Erinnerungen.
Denn der neue Name und das blanke Zimmer vermittelten ihr stetig das Gefühl, als hätte man die Vergangenheit einfach aus ihrem Kopf gelöscht. Doch anstelle von neuen Gedanken herrschte viel mehr eine lähmende Leere, ein beklemmendes Vakuum.
Dagegen musste sie etwas unternehmen – sie war entschlossen, ihren Kopf schnellstmöglich mit bunten, neuen, positiven Erinnerungen zu füllen.
In Ellas Gedankenwelt malte sie sich mit lebhaften Farben eine Zukunft aus, die von kleinen, aber bedeutungsvollen Momenten durchdrungen war – Momente, die ihrem Leben nach all dem Trauma einen Hauch von Leichtigkeit und Freude bringen würden.
Ella stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie endlich ein bisschen Geld aus eigener Kraft verdiente. Es war mehr als nur die monetäre Belohnung; es war der Beweis für ihre Fähigkeiten, ein Zeichen ihrer inneren Stärke. Die Vorstellung, spontan eine Kugel Eis von der örtlichen Eisdiele zu kaufen, zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Und ach, das köstliche Gefühl, in ein Café zu schlendern und ein Frühstück zu genießen, ohne sich Sorgen um ihr Leben zu machen.
Sie träumte davon, sich eine Gesichtsmaske zu gönnen und sich ganz wie in einer Werbung mit zwei Gurkenscheiben auf den Augen auf die Couch zu legen. Ein kleiner, aber kostbarer Moment der Selbstpflege, der ihr das Gefühl gab, die eigene Würde und Gesundheit zurückzugewinnen.
Von dem verdienten Geld würde sie sich zum ersten Mal eigene Bücher kaufen, anstatt sie nur auszuleihen. Sie könnte in diese Bücher Anmerkungen kritzeln, ihre Gedanken und Träume festhalten, bevor sie sie stolz in ihr eigenes Bücherregal zurückstellte.
Sie sehnte sich nach einem tierischen Gefährten, egal ob ein fröhlicher Hund oder ein verschmitzter Hamster. Wie würde es sein, mit diesem treuen Freund das erste Weihnachten zu feiern? Ein eigener Weihnachtsbaum, mit roten Kugeln geschmückt, und das süße Durcheinander beim Plätzchenbacken.
Doch in all ihren Träumen sehnte sie sich am meisten nach einer Person, die sie bedingungslos liebte. Ein Lebenspartner, ein Seelenverwandter, der das Chaos in ihrem Inneren sortieren und mit ihr gemeinsam einen Neuanfang wagen würde. Ihre erste Tochter würde den Namen "Tessa" tragen, nach ihrer geliebten Puppe aus der Kindheit. Die anderen Namen würde sie ihrem zukünftigen Partner überlassen, denn das Wichtigste war die Liebe und Verbundenheit, die sie gemeinsam erleben würden.
Ella schloss die Augen und atmete tief ein, bis die positiven Gedanken ihren Körper mit Wärme erfüllten. Doch als sie diese wieder öffnete, fiel ihr Blick auf den Spiegel. Die silberne Oberfläche spiegelte nicht länger ein gebrochenes Mädchen, sondern eine Kämpferin, die bereit war, ihr Leben nach einem dunklen Kapitel wieder in strahlenden Farben auszumalen.
Und ja, Ella wusste, dass es Herausforderungen geben würde. Sie konnte nicht einfach einen Job annehmen, ohne ihre Identität preiszugeben. Aber sie war fest entschlossen, ihren Weg zu finden und ihren Traum zu verwirklichen. Selbst wenn es Jahre dauern sollte, würde sie darauf warten und sich weiterhin an kleinen Freuden erfreuen, bis sie eines Tages all ihre Träume wahr werden lassen konnte. Ella würde nicht nur überleben, sondern leben – mit all der Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie in ihrem Inneren trug.
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Yeay, endlich mal etwas Positivität. Ich würde mir aber nicht vertrauen, dass das noch lange so bleibt.
Haaa, vielleicht sollte man seine eigene Geschichte nicht im Kommentar spoilern...
Ich kann nur sagen, ich habe einige Szenen parat, auf die ich echt stolz bin. Es wird ein riesiges Durcheinander. Ich liebe es.
Und ich liebe dich, Leser, der es bis hier geschafft hat. Respekt.
~ Manon
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