Als sie endlich aus diesem erbarmungslosen Alptraum erwachte, waren ihre Schnitte an den Beinen spurlos verheilt. Wie lange hat sie bitte geschlafen, dass sie einfach weg sind? Und nicht nur das, die unheimliche Fatigue, die sie wie eine schwarze Wolke umgab, verblasste mit ihnen. Sie richtete sich problemlos auf und sah, dass Corbyn ihr wirklich ein Buch gebracht hat. Sie schlug es auf.
"Das folgende Werk habe ich selbstständig aus dem Französischen übersetzt. Es ist mein Lieblingsbuch, aber nichts für schwache Nerven. Ich hatte das Gefühl, du könntest den Schmerz darin, ähnlich wie ich, nachvollziehen.
Corbyn"
Sie blätterte weiter.
Justine
Vom Missgeschick der Tugend
Marquis de Sade
Zugegeben, sie hatte noch nie zuvor davon gehört, obwohl sie ein großer Bücherwurm war. Tatsächlich bestand ihr gesamter Alltag darin, sich vor ihrem Pflegevater in der Bibliothek zu verstecken und zu lesen. So kannte sie alles, von Faust bis Twilight. Doch weder der Titel noch der Autor kamen ihr bekannt vor. Corbyn musste noch viel vernarrter beim Lesen sein, als sie, wenn er solche Geheimtipps kannte. Es schien ihr fast so, als trug er eine große Last mit sich, genau wie sie, der er entfliehen wollte. Vielleicht war er deshalb so gnädig zu ihr, weil er sie auf tieferer Ebene verstand.
Bevor sie jedoch das Buch beginnen konnte, öffnete Corbyn die Tür.
"Scheinbar haben die Blumen geholfen, du scheinst viel lebhafter zu sein, wie fühlst du dich?", fragte er, sichtlich begeistert von ihrer Genesung.
"Einwandfrei", antwortete sie mit einem großen Lächeln auf den Lippen, voller Freude, ihn wiederzusehen.
Doch die Freude sollte nicht von Dauer sein. Langsam dämmerte ihr, dass nun, da sie sich erholt hatte, kein zwingender Grund mehr bestand, hier zu verweilen. Die Annahme, dass sie in diesem Haus eine Selbstverständlichkeit wäre, erwies sich als trügerisch. Schließlich konnte sie nicht einfach davon ausgehen, dass sie nun automatisch Anspruch auf Obdach in diesem Ort hätte. Sie kam zu dem Schluss, dass es unangebracht wäre, ihm diese Last aufzubürden. Sie fühlte sich bereits wie eine erdrückende Bürde und wollte ihn keinesfalls in die Wirren ihrer eigenen Probleme hineinziehen. Die Vorstellung, dass er in irgendeiner Weise als Komplize angeklagt werden könnte, war für sie unerträglich. Nach allem, was er für sie getan hatte, wäre es mehr als unfair, ihn in so eine gefährliche Lage zu bringen.
Dennoch, die Tatsache blieb: Sie stand vor der Wahl, hier zu bleiben oder dem Schicksal ungeschützt ausgeliefert zu sein. Diese Gelegenheit würde sich vermutlich kein zweites Mal bieten. Trotz der schmerzhaften Scham und des moralischen Widerstreits war die Entscheidung klar: Sie musste flehen, obwohl sie dabei ihren Stolz zutiefst verletzte und ihren ethischen Kompass herausforderte.
"Darf ich trotzdem hier bleiben, ich weiß, es steht mir nicht zu, dich das zu fragen, nur...", begann sie verzweifelt, doch wurde sofort von Corbyn unterbrochen.
"Natürlich darfst du bleiben. Ich habe hier mehr als genug Platz, also mach dir keine Sorgen.
"Wie bitte? Er hatte nicht einmal nach den Gründen gefragt, warum sie nicht zurückkehren wollte. Ohne Vorbehalt schenkte er ihr sein Vertrauen, bedingungslos. Wie konnte ein Mensch nur von solcher Güte sein? Und das alles für sie – für sie, die es am wenigsten verdient hatte. Er war wahrhaftig die Reinkarnation eines Engels.
Obwohl sie eigentlich Erleichterung verspüren sollte, da ihre größte Sorge endlich gelöst schien, spürte sie dennoch, wie sich der Stacheldraht um ihren Hals weiter zuzog. Diese Lüge konnte sie nicht aufrechterhalten. Es war unmöglich für sie, ihm das anzutun, besonders nicht jemandem mit einer so reinen Seele. Sie musste es ihm gestehen.
"Ich habe meinen Pflegevater umgebracht", sagte sie, kurz und präzise, bevor sie in Tränen verfiel und kein Wort mehr herausbrachte: "Es tut mir leid, dass ich es nicht früher gesagt habe. Wenn ich hier bleibe, dann wirst du sicherlich auch dafür bestraft. Ich kann dir das nicht antun."
Nun schien alles zu Ende zu sein. Er würde die Polizei informieren, sie übergeben und ihrer gerechten Strafe, lebenslanger Haft, überlassen. Vielleicht war es sogar besser so, besser als in einer Lüge zu leben, besser als zu sterben. Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Es war vorbei, sie musste nicht länger kämpfen.
"In erster Linie, und ich betone das, hör mir also gut zu, musst du anfangen, an dich selbst denken. Du hast immer nur an andere gedacht und was hat es dir gebracht? Wenn du damit nicht aufhörst, wirst du an deiner verzerrten Vorstellung von Gerechtigkeit und Moral zu Grunde gehen. Wir werden niemals dafür bestraft werden, dank meines Geldes, meiner Macht, meinem Prestige und meiner Verbindungen. Wenn du all das besitzt, kannst du praktisch alles tun. Du stehst über dem Gesetz. Du hast Glück gehabt, mich zu treffen. Ich kann dich durch meine Mittel schützen. Ich habe es dir doch gesagt und ich halte meine Versprechen: Bei mir bist du sicher", sagte er mit einem überlegenen Lächeln, das seine Worte unterstrich. Hätte er ihr nicht zuvor erneut bewiesen, dass er ihr Komplize war, hätte sie vor Angst wohl das Bewusstsein verloren.
Doch im Wissen, dass dieser Mann an ihrer Seite stand, fühlte sie eine unerklärliche Verehrung für ihn aufkeimen.
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Jetzt wieder ein leichteres Kapitel, nach dem letzten, das muss auch manchmal sein. Naja, leicht ist ja immer relativ, im Anbetracht der tollen Buchempfehlung kann man sicherlich darüber streiten...
In meinem Manuskript endet hier das zweite Kapitel. Vielleicht habt ihr dieses Buch ja wegen seiner Tags gewählt und fragt euch mittlerweile: Hey, wann kommt das ganze Zeug endlich vor? Keine Sorge, genau wie Corbyn, halte ich meine Versprechen. So richtig relevant wird das höchstwahrscheinlich ab dem vierten Kapitel (im Manuskript). Geduldet euch also noch ein bisschen und genießt die Atmosphäre und Charakterentwicklung bis dahin, ich verspreche euch, ihr werdet eure Geduld nicht bereuen.
Wie immer freue ich mich über Lob und Anmerkungen.
Manon <3
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