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Als Ella langsam ihre Augen öffnete, erwartete sie, in einer Art düsterem Folterkeller gefangen zu sein, gefesselt und ausgeliefert. Doch die Realität, die sich ihr offenbarte, übertraf all ihre Vorstellungen.
Vor ihr erstreckte sich ein Raum von atemberaubender Eleganz. Die Perfektion einer weißen Decke mit verschnörkelten Zierleisten, die ihre Ränder kunstvoll schmückte, schien in einem Kontrast zur Dunkelheit ihrer Welt. Um sie herum befand sich ein Interieur von unermüdlicher Pracht, alles in einem blendenden Weiß gehalten - von den Wänden über den makellosen Marmorboden bis hin zum riesigen Bett, auf dem sie lag. Sogar die frisch duftende Bettwäsche, die ihre Haut berührte, war aus sanftem, weißem Samt gefertigt. Ein Gefühl der Leichtigkeit durchströmte sie, als würde sie auf einer Wolke schweben.
Trotz der atemberaubenden Schönheit des Raumes lag eine unerklärliche Schwere in der Luft, die ihre Sinne einhüllte. Die Stille war so tief, dass sie fast spürbar wurde und die kleinsten Geräusche zu einem Flüstern machte. Die klinische Reinheit des Raumes schien sich in jeder Ecke zu verstecken, und die weißen Wände reflektierten das Licht so stark, dass es fast schmerzhaft war, die Augen offen zu halten. Sie lag dort, ihre Augen immer noch auf das Bett gerichtet, und ihre Gedanken wanderten durch die Wirren ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Die Atmosphäre des Zimmers war erdrückend und gleichzeitig faszinierend, und sie konnte nicht anders, als sich in diesem Kontrast zwischen Schönheit und Stille zu verlieren. War sie etwa tot und im Himmel gelandet? Eine schöne Vorstellung, doch sie wusste genau, dass das nicht sein konnte, nicht nach ihrem schrecklichen Vergehen. Verwirrung und Unsicherheit wuchsen in ihr, während sie ihren Blick senkte und auf sich selbst hinab schaute. Ein weißes Nachthemd bedeckte ihren Oberkörper und Bandagen umschlossen ihre Beine. Echte Bandagen, kein improvisierter Verband aus Toilettenpapier wie zuvor. Hier und da durchbrach der dreckige Anblick ihres blutigen eitrigen Körpers das makellose Weiß. Der stechende Schmerz ihrer Verletzungen bewies, dass sie noch leben musste. Die Erinnerungen kehrten allmählich zurück. Erinnerungen an den unheimlichen Mann, der versuchte, sie zu entführen - den Mann, den sie letztlich erstach. Fand man sie? Brachte man sie etwa in ein Krankenhaus?
Ihr Blick glitt wieder durch das Zimmer. Es war zu riesig und völlig frei von den üblichen medizinischen Geräte. Auch einen Notknopf suchte sie vergebens.
Hier stimmte etwas nicht.
Sie musste weg.
Mit letzter Kraft kämpfte sie sich auf und humpelte Richtung Tür. An der Wand hing etwas höher ein Spiegel, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Als sie ihre Reflektion erblickte, erstarrte sie. Es war ein Anblick, der mehr Tod als Leben ausstrahlte. Ihre Haut war so weiß wie die Umgebung, doch im Gegensatz zur makellosen Eleganz des Raumes wirkte ihr Teint eher kränklich und fahl. Selbst ihre Lippen hoben sich kaum von ihrem Gesicht ab - bis auf die blutigen Mundwinkel, die wie Narben ihres Leidens wirkten. Jeder ihrer Schritte Richtung Tür wurde von ihrem pochenden Herzen begleitet, während sich ihr Hals mehr und mehr zu schnürte. Der Kopf schmerzte, ihre Augenlider fühlten sich schwer an, und ihre Finger waren wie fremd.
Konzentrier dich...
Sie durfte nicht aufgeben.
Sie musste kämpfen.
Sie musste fliehen.
Die Tür sprang auf und offenbarte ihr die schreckliche Wahrheit. Der Mann, der eigentlich tot sein sollte. Bitte, lass das alles nur ein Alptraum sein. Doch sie konnte nicht erwachen, egal, wie sehr sie es versuchte. Vor Schock und Schwäche drohte sie zu kollabieren, aber der Mann war schneller und fing sie rechtzeitig auf. Als er seine Hände behutsam um sie legte, spürte Ella eine unbekannte Wärme, nicht nur auf der Haut, sondern auch ganz tief in ihr. Am liebsten hätte sie ihr Leben kurz pausiert. Warum wusste sie selbst nicht so genau, doch irgendetwas an dieser kleinen Geste zauberte ihr für den Bruchteil einer Sekunde, zum ersten Mal seit langer Zeit und vermutlich auch zum letzten Mal, ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Wie ein Held trug er sie zurück in das himmlische Bett, die weiche Wolke, die er für sie erschuf.
"Ich bitte um Verzeihung, ich habe mich gar nicht richtig vorgestellte, mein Name lautet Corbyn", sprach der Mann, nachdem er sichergestellt hatte, dass Ella in einer sicheren Position liegt: "Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschrocken."
"Lass mich gehen!"
Doch sie wusste selbst nur zu gut, dass sie sich zugegebener Weise kräftemäßig nicht in der Lage befand, zu gehen. Besonders die Entzündungen an ihren Beinen, aber nicht zuletzt ihre erdrückende Schwäche und die damit einhergehende Fatigue verbauten ihr den Weg in die Freiheit.
"Das kann ich nicht zulassen, schau, du bist viel zu schwach. Du würdest vermutlich sterben."
Ja, verdammt, das weiß sie selbst. Wieso muss er sie daran erinnern? Sie drehte ihren Kopf so weit es ging weg von Corbyn und starrte gegen eine der weißen Wände. Sterben war aber keine Option.
"Dann bring mich ins Krankenhaus."
Er nickte und erklärte: "Schau, genau das hatte ich vor, aber zuerst werde ich mit dir zur Polizei gehen, da kannst du Anzeige gegen den, der dir das angetan hat, erstatten."
Der Gedanke löste mächtig Übelkeit in ihr aus, zur Polizei zu gehen bedeutete schließlich ihre sichere Festnahme. Der Grund, weshalb sie an erster Stelle gerade in dieser Situation ist, ist die Flucht vor dieser. Also entschloss sie sich widerwillig, ihm die Wahrheit zu verraten:
"Ich habe mir die Wunden selbst zugefügt."
Ihr Blick verließ die Wand nicht.
"Nein Mädchen, ich rede doch nicht von den Schnitten auf deinen Beinen, sondern den Hieben und blauen Flecken auf deinem Rücken."Näher kommend, glitt seine Hand langsam durch ihre Haare. Er fuhr fort:
"Es tut mir leid, aber als ich dich umgezogen hatte, weil dein Kleidung nicht nur mies roch, sondern auch mit Körperflüssigkeiten bedeckt war, von denen ich fürchtete, sie könnten deine Infektion verschlimmern, sah ich sie..."
Ella spürte ein Kribbeln in ihrem Hinterkopf, als er sie berührte. Elektrisierend zog es sich ihre Wirbelsäule entlang durch den gesamten Körper und versprühte dort dieses merkwürdige Gefühl von Geborgenheit.
"Ich kann nicht zur Polizei, bitte, bring mich einfach ins Krankenhaus."
"Was denkst du, was die Ärzte machen werden, wenn sie diese Wunden sehen? Sie werden sofort bei den Behörden anrufen und dich befragen. Ist es wirklich so wichtig, dass du nicht mit den Behörden sprechen willst?", fragte er sie.
Wortlos nickend begannen die Tränen ihre Wangen hinunterzuströmen. So recht wusste sie nicht, warum sie weinen musste. Es lag nicht an ihren Schmerzen, ihrer Verzweiflung oder ihrer Angst. Viel mehr die Überforderung durch die plötzlichen Funken positiver Emotionen, die sie überraschend erfüllten.
Kurze Stille.
"Nun gut, ich arbeitete lange Zeit selbst als Arzt und denke, dass ich deine Wunden von hier behandeln kann. Es ist eine Ausnahme und verstößt eigentlich gegen meine Verpflichtung, aber ich sehe deine Verzweiflung, also werde ich dir helfen", versprach er ihr: "Aktuell leidest du unter einer akuten lokalen Entzündung, ausgelöst durch falsche Behandlung und Verschmutzung deiner selbst zugefügten Wunden. Weiterhin zeigst du deutliche Anzeichen einer beginnenden Anämie. Ich werde deine Wunden regelmäßig säubern und mit einer Zinkoxidsalbe und Iodpflastern bedecken. Außerdem werde ich dir Aspirin als Entzündungshemmer und gegen deine Schmerzen verabreichen. Deine Anämie sollte sich nach der Aufnahme von eisenhaltiger und Vitamin-B12-haltiger Ernährung schnell verbessern. In ein paar Tagen sollte es dir bereits deutlich besser gehen, sofern du dir etwas Ruhe gönnst."
Er klopfte ihr doppelt auf die Schulter, als würde ihr diese Geste helfen und verließ den Raum. Erschöpft griff sie nach dem Stuhl, auf dem ihre Sachen lagen. Als ihre Hand den Stuhl erreichte, durchfuhr sie ein Schreck: Das Messer fehlte. Ihr Herz pochte schneller, Zweifel krochen in ihren Verstand. War es wirklich nur Einbildung gewesen? Was zur Hölle war gestern Nacht geschehen
Urplötzlich schwand ihre Kraft, sodass sie, anstatt nachzudenken, einfach einschlief.
"Komm mein Mädchen, hab dich nicht so", lallte das besoffene Schwein.
"Fass mich nicht an", schrie sie, den Blick stets auf die braune Bierflasche gerichtet.
~~~
Ist dieser Typ, hingegen aller Erwartungen vielleicht doch gut, ihr langersehnter Retter? Nun, das müsste ihr im Verlauf dieses Buches für euch selbst entscheiden. Dieses Kapitel ist ein wenig länger als die vorherigen. Es könnte sein, dass ich demnächst mehrere von diesen längeren Kapiteln schreiben. Ich hoffe, das Update hat euch gefallen, wenn dem so ist, lasst mir doch gerne ein Sternchen da.
Vielen Dank für's Lesen.
Manon <3
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