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Genau so, er hatte recht, der Gedanke quälte sie. Einfach nicht mehr daran denken. Ja, ja, ja - die Gedanken würden sich leise aus ihrer Seele zurückziehen. Und vielleicht, ganz vielleicht, war dies für sie das Beste. Sie zwang sich zur Selbstbeherrschung, rief sich innerlich zur Ordnung, als ob das eine schützende Barriere um sie herum errichten würde. Der Gedanke war längst nicht mehr da. Sie fokussierte sich auf das Einatmen, das Ausatmen. Der Gedanke war nicht mehr da.
Ella griff nach der vergessenen Tüte, die Corbyn zurückgelassen hatte. Ihre zitternden Hände öffneten sie und offenbarten den Schatz an Erinnerungen. In der Tüte verborgen, zwei Schuhkartons, ein Kamm mit silbernen Zähnen, seidige Wäsche und eine Make-Up Tasche, die nach verführerischer Veränderung roch.
Im ersten der beiden Schuhkartons ruhten beigefarbene Lackballerinas mit einem zierlichen Absatz, die sich anfühlten, als wären sie dazu geschaffen, mit ihrem Teint zu verschmelzen. Der andere Karton barg ein Paar schwarzer Lederschuhe, die sich schnürten und nach einer betörender Geschäftigkeit dufteten. Ella hatte schon immer eine Schwäche für Schuhe gehabt, doch das nötige Kleingeld hatte ihr stets gefehlt, um sich wahre Schönheiten zu leisten. Und doch schienen diese beiden Paare, die nun in ihren Händen ruhten, direkt aus ihren lang gehegten Wünschen entsprungen zu sein. Schwarze Schnürschuhe und elegante Mary Janes für die besonderen Nächte. Es war fast so, als hätte Corbyn ihre verborgenen Sehnsüchte auf magische Weise erkannt.
Die beigefarbenen Ballerinas schmiegten sich an ihre Füße, als wären sie gemacht füreinander. Ella bewegte sich leichtfüßig durch das Zimmer, bewunderte ihr Spiegelbild und begann behutsam, durch den Raum zu tanzen. Der Rüschenpetticoat ihres Engelskleids wirbelte bei jeder Drehung in die Luft, und ein Lachen brach aus ihr heraus. So fühlte sich Freiheit an. Das war es. Mit jedem klackernden Schritt, den die Absätze ihrer Schuhe auf dem Boden hinterließen, tanzte sie weiter.
"1, 2, 3 - 1, 2, 3", zählte sie, als sie sich im Kreis bewegte. Doch es war nicht nur der Klang ihrer eigenen Schritte, der in diesem Raum widerhallte. Es war, als würde das Gebäude selbst antworten, als würde es die Klänge verstärken. Das Geräusch, das nicht zu bändigende Klappern, Schläge, ja, sogar das Schreien. Ihre Schuhe schienen lebendig zu werden, als ob sie ihre Erlebnisse und ihre eigene Geschichte aufnehmen und verkörpern würden. Ihre Schuhe schrien nach Befreiung. Egal, sie ist frei.
1, 2, 3 - 1, 2, 3 und immer weiter im Kreis.
Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett sinken, nachdem sie tief Luft geholt hatte. Sie zog ihre neuen Schuhe und das Engelsgewand behutsam aus, als ob sie diese zarten Erinnerungsstücke vor der Welt beschützen wollte. Dann griff sie in die Tasche und zog die zarte Wäsche hervor, um sich für die Nacht passend einzukleiden.
Aber bevor sie alle ihre Kleidungsstücke zusammengelegt hatte, begannen ihre Schuhe erneut zu schreien. Wie war das möglich? Sie hatte doch aufgehört zu tanzen. Wieso schrien ihre Schuhe? Einer der Schuhe landete an ihrem Ohr, doch die Schreie blieben unverändert. Nein, es kam nicht von ihnen. Es kam von unten, ein unheimliches Geräusch, das an ihren Nerven zerrte und sie weiter in ihren inneren Konflikt trieb. Sie sank erneut auf den Boden und fühlte die eisige Kälte des Marmors gegen ihre nackten Arme und Beine. Ihr Ohr presste sich an die Oberfläche, und sie wartete, bis der nächste Schrei, so quälend und verzweifelt, ertönte. Der Klang drang unmissverständlich von unten herauf. Genau wie am Morgen. Sie klopfte erneut auf den Boden, doch diesmal antwortete ihr nicht der morgendliche Rhythmus, nur einen mächtigen Schlag, der die Wände erzittern ließ und Putz von der Decke rieseln ließ. Ihr Herz zuckte vor Schreck auf, sie konnte nicht anders, als sich unter ihre Bettdecke zu flüchten. Diese Halluzinationen und Erinnerungen verschlangen ihren Verstand, und sie fühlte sich gefangen in ihrer eigenen schrecklichen Geschichte. Sie hatte es nicht anders verdient. Sie war sich klein und hilflos. Eine Mörderin, ein kleines...
Doch dann riss sie sich mit einem Ruck aus ihren düsteren Gedanken. Ablenkung, das war es, was sie brauchte. Mit Entschlossenheit schlug sie die Decke zurück und griff nach der bereitgelegten Wäsche. Als Nächstes fiel ihr die Make-Up-Tasche in die Hände, und sie empfand sie fast wie eine göttliche Offenbarung. Vielleicht konnte sie die Vergangenheit übertünchen und sie würde wieder verschwinden.
Ihre zitternden Hände griffen nach dem Concealer, als sie behutsam jeden Makel und jede Unvollkommenheit in ihrem Gesicht sorgfältig verdeckte. Die Vergangenheit schien in jeder Narbe und jeder Linie auf ihrer Haut eingeschrieben zu sein, und sie sehnte sich danach, diese Spuren zu verwischen. Mit jedem Pinselstrich des Concealers legte sie ein weiteres Kapitel ihres Schicksals zur Ruhe. Eine großzügige Schicht Foundation folgte, die jede kleine Unregelmäßigkeit gnadenlos ausradierte, als würde sie die Geschichte ihres Leidens verblassen lassen. Ella wollte sicherstellen, dass niemand mehr einen Blick auf ihre inneren Dämonen werfen konnte.
Doch in diesem strengen Prozess des Verbergens und Auslöschens bemerkte sie plötzlich winzige Hautschüppchen. Ihre Haut, die so oft als ihre Rüstung gedient hatte, enthüllte nun zarte, zerbrechliche Stellen. Ohne zu zögern entfernte sie diese Schüppchen, eines nach dem anderen, bis keine mehr übrig war. Sie war entschlossen, keine Spur von Makelhaftigkeit zu hinterlassen. Kein Makel sollte ihre Illusion der Perfektion durchbrechen.
Als nächstes war der blutrote Lippenstift an der Reihe. Trotz ihrer zitternden Hände gelang es ihr, ihre Lippen präzise zu umranden, sodass sie so lieblich wirkten. Mit einem Hauch auf ihren Wangen versuchte sie, sich selbst vorzutäuschen, dass in dieser kühlen Hülle ihrer Erscheinung noch ein Funke Leben loderte. Ihre Wangen nahmen eine gesunde Röte an, als sie beharrlich auftrug.
Schließlich nahm sie den Kajal in die Hand, um ihre Augen, die als Fenster zu ihrer verlorenen Seele dienten, mit einer präzisen Kontur zu umranden. Ein schwarzer Rahmen für den endlosen Abgrund ihrer Gedanken.
Ella griff nach einem Handspiegel und betrachtete sich aus verschiedenen Blickwinkeln. Von oben, von unten, von links, von rechts. Sie sah noch zu viel von sich selbst, zu viele Unvollkommenheiten, die sich in ihren Augen spiegelten. Doch anstatt Zufriedenheit fand sie nur den unermüdlichen Drang, noch weiter zu gehen, noch mehr Makel zu verstecken, noch tiefer in die Erschöpfung zu versinken. Ihre inneren Dämonen hatten noch längst nicht genug bekommen, und sie würde kämpfen, um sie endgültig zum Schweigen zu bringen. In diesem Kampf, der so viel mehr war als nur eine äußere Verwandlung, suchte sie verzweifelt nach einem Hauch von Erlösung.
Sie war gefangen in ihrem eigenen Albtraum, der sie unaufhörlich verschlang.
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Ich glaube, ich habe mir diese Szene etwas anders vorgestellt, aber glaubt mir, die wird bald noch relevanter werden.
Jetzt sind wir am Ende des dritten Kapitels meines Manuskripts angelangt.
Wie bereits erwähnt, wird es nach dem vierten etwas... anders sein?
Aber ich liebe es, diese Charakterentwicklung zu schreiben; es macht wirklich Spaß.
Über ein Vote oder einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.
Danke, dass du so lange schon dabei bist. :D
~ Manon
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