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Ella fand sich einige Stunden später still in ihrem abgedunkelten Zimmer wieder. Ihre Haare waren endlich komplett getrocknet, als sie gerade das dritte Kapitel von "Justine" von Marquis de Sade beendet hatte. Dieses düstere Buch, das Corbyn ihr zum Zeitvertreib gab, zog sie immer tiefer in ihren Bann. Es erzählte die Geschichte von Justine und ihrer verlorenen Schwester Juliette, zwei Frauen, die aufgrund von äußeren Umständen und der Grausamkeit der Welt in immer tiefere Abgründe der Verzweiflung und des Leidens gezogen wurden.
Justine fand sich ständig zwischen Tugend und Verführung, zwischen dem Streben nach einer moralisch einwandfreien Existenz und den unerbittlichen Versuchungen und Grausamkeiten, die ihr widerfuhren. Ihre Schwester Juliette hingegen verkörperte das genaue Gegenteil, sie folgte ihren eigenen Begierden und trieb die dekadentesten und unmoralischsten Handlungen voran.
Das Buch war gefüllt mit expliziten Szenen von Gewalt, Perversion und Verderbtheit, und doch war es mehr als nur ein skandalöses Werk. Es stellte grundlegende Fragen über die menschliche Natur, die Natur des Bösen und die moralischen Grenzen, die Menschen bereit waren zu überschreiten. In keinem Werk zuvor laß sie von solchen Schrecken und es begeisterte sie, wie Sade kein Blatt vor den Mund nahm. Er zeichnete die Welt, so, wie sie sich ihr tagtäglich offenbarte.
Die Hauptfiguren Justine und Juliette verkörperten die Idee der Tugend und der Verführung, und das Buch zwang Ella, über die Moral und die menschliche Natur nachzudenken. Die Worte auf den vergilbten Seiten schienen ein Eigenleben zu entwickeln und fesselten ihre Gedanken. Es war nicht nur die aufreizende Erotik, die sie in den Zeilen entdeckte, sondern vor allem die unerbittliche Frage nach der Natur des Menschen und den moralischen Grenzen, die sie zu überschreiten bereit waren.
Das Buch eröffnete ein Fenster zu einer Welt, die weit jenseits der gesellschaftlichen Konventionen lag. Ella konnte nicht anders, als sich in Justines und Juliettes Lage zu versetzen, sich zu fragen, wie sie selbst in solch verführerischen Versuchungen handeln würde. Die moralischen Fragen, die das Buch aufwarf, brachten sie dazu, ihr eigenes Leben und ihre eigene Moral zu hinterfragen. War sie wirklich so unschuldig und tugendhaft, wie sie immer gedacht hatte?
Und viel wichtiger, selbst wenn sie voller Tugend war, was hat ihre Moral ihr denn gebracht?
Das Infragestellen ihrer Prinzipien verlangte ihr einiges ab. Die Anspannung in ihrem Körper wuchs zu einer kaum mehr kontrollierbaren Größe an und zwang sie schließlich, eine kurze Atempause einzulegen. Ihr Blick fiel auf Corbyns Kamm, den sie sich aus dem Badezimmer entwendet hatte, und sie nutzte die Gelegenheit, um ihre neue Frisur zurechtzurücken. Selbst im trockenen Zustand wirkten ihre Haare ordentlich. Ihre Finger glitten sanft durch die Strähnen, und ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. In diesem Moment fühlte sie sich wie ein wahrer Mensch. Was auch immer das bedeutet.
Ihr Blick fiel zurück auf das Buchcover, auf das verblasste Bild von Marquis de Sade selbst. Die Worte von de Sade drangen tief in ihre Gedanken ein, und sie konnte nicht aufhören, über die moralischen Dilemmata nachzudenken, die das Buch aufwarf. Waren die Menschen von Natur aus böse, wie es de Sade zu suggerieren schien? Oder gab es Hoffnung auf Tugend und Erlösung? Das Buch hatte keine klaren Antworten, und Ella fand sich in einem endlosen Labyrinth von Fragen gefangen. Welche Art von Mensch wird sie wohl sein? Wofür würde sie sich entscheiden? Hatte sie überhaupt eine Wahl?
Sie reflektierte über ihre eigenen Entscheidungen und Handlungen und begann zu erkennen, dass auch sie in ihrem Leben moralische Entscheidungen getroffen hatte, die nicht immer eindeutig waren. Sie konnte nicht leugnen, dass sie selbst in Versuchungen gefallen war und Grenzen überschritten hatte.
Vielleicht war es bloß eine Illusion, dass der Mord ihrer Vergangenheit nichts mehr mit dem würdevollen Menschen "Ella" zu tun hatte... Vielleicht klebt das Blut für immer an ihrer weißen Welt.
Sades Werk weckte erneut die Unruhe in ihr, die sie nicht mehr ignorieren konnte. Es war, als ob es einen dunklen Spiegel vor sie hielt, der ihr eigenes Wesen enthüllte. Ella konnte nicht länger die Gewissheit haben, ob die Seite der Tugend die Richtige war. Sie musste sich ihren eigenen moralischen Herausforderungen stellen und sich fragen, ob sie wirklich Justine sein wollte, die in den Seiten des Buches um ihr Seelenheil rang. Vielleicht wäre die Rolle der Juliette die einfachere.
War sie nicht schon längst verloren?
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Ok, ich glaube, das ist der Punkt, an dem ich erwähnen sollte, dass ich so einen kleinen Faible für alte Bücher und Staatstheorie habe... Und so bin ich irgendwann über Marquis de Sade gestolpet.
Ich habe eine Art morbide Faszination für seine komplett kranken Werke entwickelt. Ich wollte nämlich unbedingt verstehen, wie ein so abartiger Mensch seine Taten moralisch rechtfertigt.
Deswegen werdet ihr dem Sadismus in diesem Buch vielleicht ein paar Mal begegnen.
~ Manon
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