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Die Worte 'Die Fahrkarten bitte' drangen in Ellas Ohr und übertönten für einen Moment das lauten Rattern des Zuges, der unaufhörlich über die Gleise raste, erbarmungslos Richtung Ungewissheit. Die Enge der Zugtoilette fühlte sich mit jede Sekunde erdrückender an, seit sie sich darin verbarrikadiert hatte. Schon zum hundertsten Mal heute vernahm sie diese Worte, und genau wie zuvor durchfuhr sie dieses unangenehme Kribbeln, begleitet von einem barbarischen Stechen in ihrem Herz.
Die Panik, die sie seit Stunden ertragen musste, verursachte das Gefühl, jemand würde sie würgen. Die Luft nahm ab und sie fühlte sich zunehmend so, als könnte sie jeder Zeit ohnmächtig werden.
Schwarzfahren, und dann noch auf diese Art und Weise – das war nicht Ella. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Gedanken verjagen. Gedanken an die schrecklichen Szenen der Vergangenheit, Gedanken an die lähmende Angst und Gedanken an ihre hoffnungslose Zukunft. Vielleicht war letzteres der Grund, warum sie sich nun seit fast einem Tag auf den den unterschiedlichsten Zugtoiletten versteckte, nur damit das permanente Rattern des Zuges ihre Sinne vernebelte. Aussteigen bedeutet, einen Plan nach der Toilette zu haben, aber egal, wie lange sie grübelnd verzweifelte, ihr fiel nichts ein und Tränen benetzten wieder ihr Gesicht. Übelkeit stieg in ihr auf, begleitet von den lauten Geräuschen des Bremsens und Beschleunigens, die das Innere der Kabine durchdrangen.
Der beißende Geruch von Urin hatte sich bereits in ihrer Kleidung festgesetzt, und wäre sie nicht klüger, könnte man annehmen, sie habe seit Monaten nicht mehr gebadet. Sie wusste, es wird nicht besser werden, vielleicht sollte sie einfach an der nächsten Haltestelle aussteigen. Der Gedanke an die letzte Nacht, die gierigen Blicke und das, was geschehen war – sie verdrängte ihn so gut sie konnte. Doch sein Schatten schwebte permanent in ihrem Bewusstsein, und die Erinnerungen an die Tat drohten sie zu überwältigen. Doch es musste weitergehen.
Die Nase rümpfend überlegte sie, wie es so weit kommen konnte. Doch der Gedanke an ihre verzweifelte Lage ließ ihr Herz schneller schlagen. Das Geld zu Hause fehlte, und Stehlen von Fremden kam nicht infrage – das wusste sie. Auch wenn sie sich scheute, ohne Ticket zu fahren, fühlte sie, wie ihre moralischen Prinzipien gegen sie rebellierten. Sicherlich würde die Bahn den Verlust verkraften, dachte sie sich, aber der Konflikt blieb bestehen, es schien wie das geringere Übel. Viele Leute, die nicht in solch einer präkeren Situation stecken, fahren auch schwarz. Doch all das schien ihr bedeutungslos.
Sie schnappte nach Luft, als die lauten Geräusche des Zuges einen weiteren Gipfel erreichten. Das Klappern und Quietschen schien die Unruhe in ihrer Brust widerzuspiegeln. Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür ein Stück und kontrollierte, ob das von ihr aufgehangene Stück Papier mit dem Wort 'Defekt' noch an der Außenseite klebte. Dann schloss sie sich wieder ein. Die Welt außerhalb der engen Kabine, ihrer Kabine, schien in diesem Moment unwirklich und der Gedanke an ihre Gefahren, denen sie sich bald stellen müsste, ließen sie nicht los.
Ella blickte hinunter auf ihre von Schnitten durchzogenen Beine, die sie lediglich mit einigen Pflastern notdürftig bedeckt hatte. Rot und gelb schimmerte es durch das Verbandsmaterial und die heraussiffende Flüssigkeit zwang sie, ihre kreisenden Gedanken kurz zu ignorieren und auf sich selbst zu achten. Trotz all den schrecklichen Dingen trug sie die Entschlossenheit, bis zum Ende für ein Leben in Freiheit und Würde zu kämpfen, in sich. Es wirkte wie ein Schutzschild gegen die aufsteigenden Erinnerungen an die Vergangenheit, die sie mit sich trug.
Mit einer Mischung aus Willenskraft und Eile angesichts der sich nahenden Endstation griff sie nach einigen Blättern des billigen, einlagigen Toilettenpapiers und wickelte es vorsichtig um ihre Beine. Ihre Finger arbeiteten mit flinken Bewegungen, und sie spürte den Hauch von Feuchtigkeit auf ihrer Haut, der jedoch kaum mehr Beachtung fand. Sie wusste, sie sollte möglichst wenig Spuren zu hinterlassen, während sie unbeirrt ihren Weg fortsetzte.
Bald schon würde sie in Frankreich ankommen, ein Land, das ihr eine vermeintliche Zuflucht versprach. Die Aussicht darauf, neue Wege zu beschreiten und unentdeckt zu bleiben, sorgte für einen Hauch von Aufbruchstimmung in ihrem Inneren. Doch was genau sie erwartete, vermochte sie nicht zu sagen. Sie trug eine Strandmuschel, ein paar Flaschen Sekt, ein Messer und die sauberste Decke, die sie fand, bei sich – eine zugegeben minimalistische Ausrüstung für den Neuanfang.
Sogar Essen war zur Mangelware geworden, und der erbarmungslose Hunger, der an ihr zehrte, wirkte wie eine Mahnung, die sie antrieb. Seit ihrer Flucht hatte sie lediglich das "Kein Trinkwasser"-Wasser der Bahntoiletten zu sich genommen – eine dürftige Beschwichtigung für ihren Magen. Das Bedürfnis nach Nahrung war präsent, doch wie sie dieses vermeintlich einfache Bedürfnis stillen sollte, war unklar.
Ein Gedankenspiel setzte ein: Flaschen sammeln. Doch die Erkenntnis, dass in Frankreich kein Flaschenpfand existierte, vereitelte diese Idee schnell. Sie ließ ihren Blick umherwandern, während sie in ihre Überlegungen vertieft war, und entdeckte eine andere Möglichkeit. Babynahrung stehlen, eine Handlung, die weniger Aufmerksamkeit erregen würde, vermutete sie. Doch die Angst, jemand würde doch die Behörden aktivieren, schreckte sie letztlich ab.
Ihre Gedanken tobten wie der Zug, der unaufhaltsam seinen Weg durch die Ungewissheit bahnte. Sie hatte es geschafft, die Angst für einen kurzen Moment beiseite zu schieben, um sich auf die praktischen Aspekte ihres Daseins zu konzentrieren. Ihr war klar, dass sie nur so überleben könnte. Ihr war klar, dass sie weitermachen wollte. Genau wie der Zug, unaufhaltsam auf ihrem Weg.
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Das war's, das erste Kapitel. Aber keine Sorge, der Nachschub ist schon verfasst und kommt definitiv. Wie gefällt euch bisher die Atmosphäre? Ich habe mir echt Mühe gegeben, das Mittelmaß von zu viel und zu wenig Beschreibung zu finden, wenn es euch also gefallen hat, würde ich mich sehr über ein Vote freuen. Vielen Dank für's Lesen.
Manon <3
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