18. Weit, weit weg
Als die Welt außerhalb dieses Autos aufhört an mir vorbeizuziehen, weiß ich, dass wir angekommen sind. Träge richte ich mich auf.
Ich will aussteigen, aber ich kann einfach nicht.
Ich fühle mich schwer wie ein Stein.
»Hallo? Endstation«, kommt es von Fox. Endstation.
Ich spüre die unterdrückten Emotionen in mir hochkochen wie Lava, aber ich dränge sie energisch zurück. Er seufzt leise. »Komm, ich begleite dich hoch.« Ich nicke abwesend.
Dann steige ich irgendwie aus diesem Wagen und krame mechanisch meine Wohnungsschlüssel heraus. Es fühlt sich an, als hätte ich meinen Körper verlassen und würde mir selbst dabei zusehen, wie ich die untere Eingangstür aufschließe, die Treppen hochlaufe, meine Wohnungstür aufschließe und dann reingehe.
Ich will mich umdrehen und die Tür hinter mir schließen, da laufe ich fast in Fox hinein.
Ich habe komplett vergessen, dass er auch da ist. Mit einem trägen Kopfwink bitte ich ihn hinein.
Ganz entfernt spüre ich ein Gefühl der Verwunderung, als er nickt und tatsächlich reinkommt. Wie ein Roboter ziehe ich meine komplett durchweichten Schuhe aus, erst den linken, dann den rechten. Die Socken streife ich ebenfalls ab, klatschnass wie sie sind.
Fox aber, hat Glück: Seine robusten, schwarzen Schnürstiefel haben das Wasser davon abgehalten, seine Socken zu durchtränken, also zieht er bloß die dreckigen Stiefel aus.
Wir stehen nun im Flur, ich barfuß, er in Socken.
»Ist es normal, dass ich mich so fühle?«
Es ist meine Stimme, aber sie hört sich an, als käme sie von weit, weit weg. Müde blicke ich zu Fox.
Er sieht mich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. Schließlich schaut er wieder weg und sagt: »Ja, das ist normal. Es wird schlimmer, wenn du wieder zu dir kommst, danach wird es besser.«
Ich höre seine Worte, kann ihnen aber keinen Sinn entnehmen. Es ist ganz merkwürdig, wie, als würde ich jemandem, der eine fremde Sprache spricht, zuhören.
Ich bin wie ein Vulkan. Ich spüre es in mir brodeln, aber ich will das nicht. Also stöpsle ich ihn zu, diesen Vulkan, damit kein Unglück geschieht.
»Ich kann einfach nicht...«
»Ich weiß«, sagt er leise.
Mein Blick fällt auf ein Bild von Jack, welches in einem silbernen Rahmen auf meiner Kommode steht. Ich trete näher heran.
Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich das Bild gemacht habe: Jack hat über einen von meinen schlechten Witzen gelacht, ich glaube es ging um eine Avocado und eine Stripperin. Es ist leicht verwischt, weil ich ihn mitten in der Bewegung fotografiert habe...
Ohne zu wissen warum, nehme ich den Rahmen in die Hand.
Das Brodeln in meinen Lungen kocht hoch zu meinen Stimmbändern und ein rauer Schrei explodiert in meinem Hals, während ich das Bild an die Wand schleudere, wo es zerschellt, als wäre es aus Zucker.
Ich kann es jetzt nicht mehr stoppen.
Wie von Sinnen schreie ich irgendwelche Worte, an die ich mich eine Sekunde später schon längst nicht mehr erinnern kann, bis sie immer rauer und leiser werden und in ein Schluchzen übergehen.
Fox lässt mich gewähren. Alles was er tut, ist, dass er sich mal duckt wenn etwas in seine Richtung fliegt, oder mich zur Seite zieht, wenn ich kurz davor bin in eine Glasscherbe zu treten.
Tränen fließen über mein Gesicht, meinen Hals hinunter und hören einfach nicht auf. Der Kragen meines Kapuzenpullis ist schon komplett durchnässt und meine Augen fühlen sich wund an. Erschöpft sinke ich zu Boden wie ein nasser Sack.
Fox verschwindet kurz und kommt dann mit einer Küchenrolle zurück. Er geht neben mir in die Hocke, reißt ein Papier ab und gibt es mir. Ich wische mir langsam das Gesicht und putze meine Nase. Wahrscheinlich muss ich sehr merkwürdig aussehen, mit den schwarzen
Mascara-Tränenspuren auf meinem Gesicht.
Mein Kopf fühlt sich leicht an, wie ein Heißluftballon, der gleich abhebt.
Ich erhebe mich, an der Kommode entlang schlurfend, und tapse ins Bad. Gründlich wische ich mir das Gesicht mit Make-up-Entferner ab und trotte dann in den Raum, der gleichzeitig mein Schlaf- und Wohnzimmer ist.
Fox sitzt auf der Klapp-Couch und schaut Fernsehen, ich glaube, die Nachrichten laufen.
Er sieht kurz zu mir, dann widmet er die Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher.
Ich schaue auf die Zeitanzeige am Bildschirm:
elf Uhr zweiundfünfzig. Ich lege mich am anderen Ende auf die Couch und ziehe die Beine ein, sodass ich wie ein Embryo daliege.
Sobald ich meine Augen schließe, schlafe ich ein.
...
Spiegeleier.
Ich schnuppere in der Luft.
Ja, das sind definitiv Spiegeleier. Träume ich?
Mein Magen beginnt zu knurren und mir wird klar, dass ich schon seit längerem nichts Richtiges gegessen habe. Die Mahlzeiten der letzten Tage bestanden für mich im Grunde genommen bloß aus Müsliriegeln zwischendurch und ein paar salzigen Keksen am Abend – nicht gerade etwas, das man eine ›ausgewogene Ernährung‹ nennt.
Blinzelnd öffne ich die Augen und gähne.
Mir schwirrt der Kopf während ich mich aufsetze. Ich schaue auf die Uhr: Es ist fast vier am Nachmittag! Dieser Mittagsschlaf war sehr lang, aber nicht besonders erholsam.
Statt dass ich mich besser fühle, geht es mir jetzt nur noch beschissener. Mir ist übel, ich habe einen widerlichen Geschmack im Mund und zu allem Überfluss bin ich ironischerweise hundemüde.
Erneut schnuppere ich in der Luft. Woher kann dieser Eiergeruch bloß kommen?
Und dann fällt es mir wieder ein. Fox ist hier!
Ich sprinte in die Küche, aus der dieser Geruch strömt, und bleibe schlitternd im Türrahmen stehen. Ich traue meinen Augen kaum.
Da steht er tatsächlich und wendet Eier in der Pfanne! Er sieht kurz zu mir, dann widmet er seine Aufmerksamkeit wieder dem Herd.
Fox steht in meiner Küche und brät Spiegeleier... Das ist absurd!
»Was machst du da?«, nuschle ich.
»Wonach sieht es denn aus?«Ich antworte nicht, doch das scheint er auch nicht erwartet zu haben.
Er nimmt die Pfanne vom Herd und schaltet ihn aus. »Setz dich«, sagt er, während er die Eier mit einem Pfannenwender auf einen Teller legt. Ich komme seiner Aufforderung nach.
Er kramt in meinen Küchenschränken herum, ich frage ihn, was er sucht. »Kleinere Teller.«
Ich deute auf den zweiten Schrank von links.
Fox schnalzt genervt mit der Zunge.
»Wieso zum Geier hast du deine Teller nicht alle an einem Platz?«
Zugegeben, ich bin in der Hinsicht wohl nicht allzu ordentlich. Ich zucke die Schultern.
Er stellt zwei blaue Teller auf den Tisch zu dem größeren mit den Spiegeleiern.
»Viel mehr habe ich nicht gemacht, da ist fast nichts in deinem Kühlschrank.« Er schüttelt den Kopf. »Regelmäßig einkaufen ist wohl nicht so dein Ding, was?«, brummt er.
Wieder zucke ich mit den Schultern.
Er hat noch eine Schüssel mit Salat und eine mit Brot daneben gestellt. »Ich war kurz beim Bäcker und hab das geholt.« Er deutet auf den Brotkorb.
Meine Augenbrauen wandern zum Haaransatz.
»Wer bist du und was hast du mit Fox gemacht«, kommt es kratzig aus meinem Mund. Ich räuspere mich.
»Halbtot nutzt du mir nichts, also iss etwas«, sagt er bestimmt. Klar, dass er es nicht aus Nettigkeit gemacht hat.
Die Eier sind besser gelungen, als ich sie jemals hinbekommen würde. Als ich von ihnen probiere, reiße ich überrascht Augen auf. »Wow, was hast du da reingetan? Das schmeckt richtig gut!« Fox errötet leicht und kratzt sich im Nacken. »Paar Kräuter, Gewürze, dies und das eben.«
So was habe ich noch nie gegessen. Der Salat schmeckt übrigens genauso unglaublich, eine wahre Geschmacksexplosion.
»Das ist wirklich gut! Du hast richtig Talent!«, rufe ich begeistert. »Hör auf zu schleimen«, sagt Fox die Augen verdrehend. Mittlerweile ist er nicht mehr nur leicht errötet, sondern tiefrot wie eine Tomate. Ich frage mich wie ich es möglich ist, dass ein so knallharter Typ wie Fox Erröten kann.
Als ich fertig gegessen habe, seufze ich zufrieden. »Das war sehr gut, danke.« Er nickt bloß. Ich helfe ihm beim Abräumen und gehe danach in Richtung Badezimmer. Ich merke förmlich, wie mir das Essen wieder die Lebensgeister eingehaucht hat. Naja, nicht alle von ihnen... aber doch einige.
Als ich im Flur ankomme, halte ich inne.
Irgendwas wundert mich gerade an dem Anblick, der sich mir bietet, aber ich weiß nicht so recht was. Dann wird es mir plötzlich klar...
Der Flur ist ordentlich. Nirgends liegt auch nur eine einzige Glasscherbe herum, geschweige denn ein zertrümmerter Bilderrahmen.
Ein wilder Gefühlscocktail überschwemmt mich und ich muss heftig blinzeln. Warum mir diesmal fast wieder die Tränen kommen, ist schwer zu sagen.
Als ich aus dem Bad zurückkomme, sehe ich Fox wieder vor dem Fernseher sitzen. Er sieht mich im Türrahmen stehen und macht den Fernseher aus, dann winkt er mich zu sich.
Ich lasse mich neben ihn aufs Sofa fallen.
Er lässt sich in die Lehne zurücksinken und schaut zur Decke hoch. »Pass auf, ich lass dir noch bisschen Zeit, dann besprechen wir, wie's weitergeht –«
»Nein«, unterbreche ich ihn entschieden.
Verwundert dreht er den Kopf in meine Richtung. »Ich möchte, dass wir das jetzt besprechen.«
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