8 - Aufgeflogen
East Harlem, Februar 2017
Am Morgen hatte mir Cooper Jennings einen Brief von Pablo mitgebracht:
Hey Amigo
Ich finde es super cool, dass Mister Jennings dein neuer Briefkasten ist. So kommt die Post bestimmt bei dir an – außer, du steckst irgendwo, wo man dich nicht erreichen kann. Ich hoffe sehr, du bist okay. Bald hab ich Geburtstag und ich hoffe sehr, dass du kommen wirst.
Wir sehen uns dann am 20. Februar. Und wehe, du bringst mir ein Geschenk mit, Amigo. Das möchte ich nicht. Ich möchte nur einen schönen Tag mit meinem besten Kumpel verbringen. Viele neue Kumpel hab ich noch nicht, sodass ich meinen Geburtstag mit dir und meiner Familia feiern werde. Bis bald, Amigo. Ich freue mich auf dich.
Pablo
Ich hatte mich also in saubere Klamotten gepackt, meine gewaschenen Haare zum Zopf gebunden und war in den Bus gestiegen. Nun war ich unterwegs nach Brighton Beach, Brooklyn und freute mich wie ein wirklich kleines Kind. Die Freude konnte mir zunächst auch der Typ nicht nehmen, der auf der anderen Straßenseite der Bushaltestelle stand und mich mit bösem, finsterem Blick beobachtete. Dabei schwang er ein Klappmesser zwischen seinen Fingern und spukte immer wieder auf den Gehsteig.
Er kam mir bekannt vor – aus dem Dunstkreis meines Stiefvaters.
Als der Bus vor mir anhielt, stieg ich sofort ein und nahm einen Platz auf der langen Bank am Ende der Sitzreihen. Unauffällig schaute ich mich im Bus um, als er losgefahren war. Schon beim Einsteigen hatte ich mir die Gesichter eingeprägt, aber niemand kam mir verdächtig vor. Der Typ stand noch immer auf der anderen Straßenseite, wandte sich jetzt ab und ging die Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang. Er hatte mich also beobachtet. Ganz sicher. Sofort war ich wieder im Sicherheitsmodus..
Die ersten Minuten vergingen, in denen ich konzentriert die hinter uns fahrenden Autos beobachtete. Aber keins blieb lange genug hinter dem Bus, als dass es mich verfolgen könnte. Langsam kam ich wieder zur Ruhe, ließ allerdings die Straße hinter uns nicht aus den Augen. Nach gefühlt anderthalb Stunden hielt der Bus in Brighton Beach. Bevor ich ausstieg, suchte mein Blick noch einmal die Straße ab und das Gleiche tat ich, als ich ausgestiegen war.
Brighton Beach liegt im Süden von Brooklyn auf Coney Island. Ich musste ungefähr zehn Minuten bis zur 18th Street laufen und stand schließlich vor Hausnummer 2669. Ich war noch nicht die vier Stufen zur Haustür hochgelaufen, als sie schon von innen aufgerissen wurde. Pablo kam mir entgegen gestürmt und fiel mir um den Hals. Lucia stand in der Tür und wischte sich eine Träne aus den Augen. Ihre Schwester und ihr Schwager - Familie Garcia – stand hinter ihr und hielten uns die Tür auf. Lucia zog mich in die Arme und führte mich hinein.
„Pequenino, mein Kleiner.. Wie geht es dir? Wir haben so viele Fragen." Ich drückte Lucia an mich und lächelte. „Die hab ich auch, Lucia. Aber mir geht es gut und ich möchte auch gerne, dass es so bleibt." Ich nahm meinen Amigo in den Arm und schwenkte ihn leicht hin und her. Dann begrüßte ich Familia Garcia mit einem ordentlichen Handschütteln und bedankte mich für die Einladung.
„Oh, sehr gerne, Mason", sagte Mister Garcia und führte mich an den Esstisch, auf dem eine große Schokoladentorte stand, auf der die neun Kerzen schon ausgeblasen waren.
„Die ist erst für heute Nachmittag. Du kommst gerade richtig zum Mittagessen, Mason", sagte Mrs. Garcia und drückte mich auf einen Stuhl. Pablo setzte sich sofort neben mich und zeigte mir sein Geburtstagsgeschenk. Lucia hatte ihm ein Paar neue Sportschuhe geschenkt und die Garcias hatten einen Sportanzug draufgelegt. „Ich hab leider wirklich kein Geschenk für dich, Pablo", sagte ich und schaute traurig auf die Tischplatte. „Hey.. das hätte ich auch wirklich nicht angenommen, MJ. Nach dem Essen habe ich aber eine Überraschung für dich", lächelte er geheimnisvoll und meine Neugierde war geweckt. Gott sei Dank war ich noch Kind genug, dass mich gute Freunde damit locken konnten.
Es gab Kartoffelbrei, grüne Bohnen mit Speck und gebratenes Huhn. Ein toller Nachtisch mit Kirschen und einer leckeren Creme gabs obendrauf und anschließend hätte man mich rollen können. Ich war so viel Essen gar nicht gewohnt.
„Erzähl mal, Mason. Wie ist es dir ergangen?", fragte Lucia und ich begann ganz locker zu plaudern, als wäre doch alles ganz easy und cool. Ich wollte nicht, dass irgendwer dachte, dass es mir schlecht ging. Niemand, der mich nicht erreichen konnte, sollte sich Sorgen machen.
Also erzählte ich von Weihnachten und Neujahr bei den Jennings, meinem eigenen Metallschrank und den Nächten im Heizungskeller der Schule. „Ich bin einer Community – so nennt man das, glaube ich – beigetreten. Die haben ihren Hauptsitz unter der 145th Street Bridge. Ich schlafe öfters dort, wenn es etwas milder ist, und möchte das Angebot Heizungskeller nicht ausnutzen. Die Menschen dort passen aufeinander auf, obwohl das keiner dort offen zeigt. Aber niemand ist wirklich allein."
Mrs. Garcia hatte die Hände vor den Mund geschlagen und sah mich mit betroffenem Blick an.
„Mein Gott, Mason. Wie stehst du das durch?", fragte sie und ich beruhigte sie sofort. „Mrs. Garcia. Ich habe viele Menschen, die auf mich aufpassen. Detective Williams fängt mich oft an der Schule ab, wenn sie zu lange nichts von mir hört. Seit Neuestem ist sie mit Cooper Jennings in Kontakt, sodass sie immer informiert sind, was ich mache und wo ich bin. Señora Montoya hat immer noch ihren Laden, sodass ich mir jeden Tag mein Essen dort verdienen kann. Alles ist besser als das, was ich haben würde, wäre mein Stiefvater noch auf freiem Fuß. Lucia hat ihnen sicher meine Geschichte erzählt?" fragte ich mit einem Lächeln in Lucias Richtung. „Das ist in Ordnung. Alles ist gut."
Nachdem ich mich für das leckere Essen bedankt hatte, ging ich zur Toilette und wusch mir die Hände. Nichts war in Ordnung.. Nichts war gut. Aber ich war es gewohnt und deshalb vermisste ich nichts. Aber trotzdem wusste ich ganz genau, wie es war, wenn alles in Ordnung und gut sein würde. Das hatten mir das Zusammensein mit den Cristobals und den Jennings gezeigt – und heute auch die Garcias. Dahin wollte ich.. Nichts anderes wollte ich erreichen.
Pablo zog mich an der Hand ins Wohnzimmer. Dort stand ein großer Fernseher, der eindeutig nicht mit Ruckeln und Klopfen ermutigt werden musste, zu funktionieren. „Meine Überraschung, Amigo." Damit schnappte er sich die Fernbedienung und schaltete das Gerät ein. Im nächsten Moment sah ich einen kleinen Jungen, der weinend und mit Kopfhörern auf dem Kopf auf einem Krankenhausstuhl saß. Ich wusste zunächst nicht, worum es ging und als dort eine Frau im Bett verstarb – die Mom des kleinen Jungen – schaute ich weg. Man konnte also friedlich sterben, wenn es zugelassen wurde.
Als dann später ein Mann mit einer Maske, Tonbandgerät und Kopfhörern über Felsen sprang, irgendwelche Ratten wegkickte und schließlich anfing zu tanzen, war ich angefixt. „Das ist der Star Lord", rief ich laut. Ich sah meinen ersten Film auf einem großen Fernseher und war total aufgeregt. Mit großen Augen verfolgte ich Rocket, Groot, Gamora, Drax und den Star Lord bei ihren Abenteuern und lachte mich zwischendurch schlapp. „Das ist ja, als hätte ich heute Geburtstag, Pablo", rief ich freudig und zog meinen Freund in eine Umarmung. Mister Garcia saß bei uns und hatte seinen Spaß an meiner Freude. „Warte mal ab, wenn sie im Knast sind, Mason. Da läuft dann die beste Musik." Aber ich hatte nur Augen für die rote Dusche, die der Star Lord verpasst kriegte, und die gewalttätigen Typen dort. Wie in einem Raum alle Häftlinge in einem dichten Knäuel lagen, um zu schlafen. Ich hoffte, dass es Dam genauso schlecht gehen würde.
Nach dem Film fielen wir über die Schokoladentorte her. Zwar gab es keine Tortenschlacht, aber es war so lecker, dass ich ganze zwei Stücke verputzte. Lucia erzählte von ihrer Wohnungssuche und von einem Drei-Stunden-Job, den sie angenommen hatte, bis sich etwas Besseres finden würde. Pablo erzählte aus der Schule und dass es dort genau solche Sicherheitsvorschriften gab, wie bei uns in Harlem. Die Lehrer waren anscheinend gut, aber keiner würde an Mister Jennings heranreichen, war Pablos feste Überzeugung.
Später am Abend brachte mich Mister Garcia mit dem Auto nach Harlem zurück. „Du kannst jederzeit gerne wieder zu Besuch kommen, Mason. Mit dem Bus funktioniert es ja ganz gut. Aber jetzt ist es dunkel und da ist es mir lieber, dich zu fahren", sagte er. Pablo begleitete uns und so konnten wir auf dem Rücksitz des Autos noch ein bisschen herumalbern. Ich ließ mich an der 145th Street Bridge absetzen, ohne dass ich das Auto zu nah an das Obdachlosencamp heranließ. Pablo versprach ich, ganz bald zu schreiben. Wir machten einen festen Rhythmus aus, sodass er immer sicher sein konnte, dass es mir gut ging.
„Wenn du nicht schreibst, informiere ich Claudia Williams und die Nationalgarde. Ich schwöre!"
Ich verabschiedete mich von den beiden und stieg aus dem Auto. Nachdem ich die Pappe und die Plane bei meinem Zeltnachbarn Pete abgeholt hatte, machte ich es mir so bequem, wie es eben ging, und gab Pete zum Dank ein Stück Schokoladentorte. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass man sich auf einen obdachlosen Nachbarn verlassen konnte und ihm sein Schlafzeug anvertraute – und es auch wieder zurückbekam. Bei Pete war es sicher und ich konnte auf ihn zählen.
Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, stand dort der Typ von der Bushaltestelle.
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