Aquareen
„Niklas? Niklas, wo willst du hin?" Die Stimme wirkte weit entfernt, obwohl sie direkt neben ihm stand. Niklas' dunkle Augen starrten wie gebannt auf die Haustür, als würde jeden Moment jemand hindurch brechen. Vielleicht war das sogar die bessere Option. Sein Herzschlag steigerte sich, als sie wieder durch die Lüfte hallte. „Niklas, komm! Wir müssen weitersuchen, sie kann nicht weit sein." Die hohe Stimme der blonden Frau klang hysterisch und passte so gar nicht zu ihrer sonst so feinen Art. In angesichts ihrer Situation war es auch nicht verdenklich. Niklas öffnete die Tür, als wäre er in Trance, als sie wieder ertönte. Die teuflische Melodie, so schön und lockend wie in seiner Erinnerung. Zitternd lief er über den Dorfplatz. Ein dumpfes Gefühl der Angst machte sich in ihm breit und er begann zu rennen. Das durfte nicht wahr sein, das konnte nicht... „Rose!"
Rose... der Name hallte in seinem Kopf wieder. Kobolds Beine schmerzten. Der Boden unter ihm fühlte sich an wie Stein, obwohl da Gras weich war. Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder das Grün unter seinen Füßen zu spüren. Kein splitterndes Holz mehr, keine Gitterstäbe. Der Himmel über ihm war zwar grau, doch für ihn strahlte er wie noch nie. Für einen Moment blieb er stehen um Luft zu holen. Er stützte sich auf die Knie und spürte die feinen Krallen der Schlange an seinem linken Oberarm. Der Haken hing immer noch an seinem Hemd und kratzte an seiner Brust. Kobold betrachtete den kleinen, grünen Körper des merkwürdigen Wesens. Die Augen waren geschlossen, während sich die Brust langsam hob und senkte. Im Nachhinein war er froh, dass er ihr geholfen hatte. Zumal flogen immer noch ihre Worte durch seine Gedanken. War es ein Gedicht? Ein Lied? Seine Augen glitten zurück. Eine schwarze Wolke zog gen Himmel vom Marktplatz aus. Ob der Brand gelöscht werden würde? ‚Hoffentlich konnten alle entkommen.' Er erinnerte sich an die vielen Kreaturen die kamen und gingen, in den sieben Jahren seines unfreiwilligen Aufenthalts des Marktes. Oder war es ein Zirkus? Diese Frage hatte er sich öfters gestellt, doch drüber nachgedacht nicht länger als einige Sekunden. Schreie waren in der Ferne zu hören und er rannte den Hügel hinunter, auf dem er stehen geblieben war. Einige Schritte entfernt plätscherte ein Bach zwischen einigen Schilfsträuchern und führte in ein kleines Wäldchen. Kobold schlüpfte in das schützende Schilf und atmete aus. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Die Schlange an seinem Unterarm regte sich noch immer nicht. ‚Ob sie überleben wird?' Er runzelte die Stirn und strich sanft über die grünen Schuppen. Er spürte ihre gleichmäßige Atmung, als würde sie tief und fest schlafen. Kobold betrachte den kleinen Bach zu seinen Füßen. Als er gerade mit der Hand ins Wasser greifen wollte, ertönten schnelle Schritte. „Komm zurück du Mistvie!", brüllte eine Stimme. Kobold erstarrte und lugte vorsichtig hinter seiner Deckung hervor. Eines der Wesen mit menschlichem Oberkörper und Ziegenbeinen sprang an ihm vorbei, verfolgt von zwei groß gebauten Männern. Ihre Kleidung hatte Brandflecken, was dafür sprach, dass sie vom Markt kommen mussten. Das Wesen blutete am Oberkörper und eines seiner Hörner war abgebrochen. Angst flammte in seinen Augen, doch als einer der Männer zu nahe kam verpasste er ihm einen saftigen Tritt mit dem Huf. Brüllend vor Schmerz und Wut torkelte dieser zurück, sich das Gesicht haltend, während sein Kumpan dem Übeltätet hinterher hetzte. Doch Ziegenbeine schienen denen von Menschen in Geschwindigkeit weit überlegen zu sein, so musste Kobold ein Lachen unterdrücken, als das Wesen über das Gras auf und davon sauste. Die Männer versuchten es noch einzuholen – vergebens. Kobold duckte sich weiter ins Schilf als beide niedergeschlagen zurückkehrten. Wenn sie ihn entdecken würden... ‚Allein komme ich gegen die nicht an.' Vorsichtshalber griff er nach dem Haken an seinem Hemd. „Das is alles deine Schuld!", fauchte der eine den anderen an. Komischerweise erwiderte dieser nichts, sondern schnaubte nur. „Du hast dieses blöde Fass ins Feuer rollen lassen!" „Kann ich doch nicht wissen, dass diese verdammten Pulver so gut brennen! Als Sprengstoff könnte man die eher verwenden." Kobold blinzelte überrascht. ‚Das hat also das Feuer ausgelöst!' „Das kannste dem Direktor erzählen, falls er noch lebt." Die Stimme des einen, der den Huf abgekriegt hatte, war merkwürdig spöttisch, als würde er sich über den Tod seines Arbeitgebers freuen. Der andere grinste schelmisch. „Ne, ich glaub, den hat diese Monster–Schlange gefressen! Wo die wohl is..." Dabei huschte sein Blick zu dem Versteck. Kobold erstarrte und hoffte, sie würden weiterziehen. „Bestimmt auch ausgebüxt oder verbrannt. Also mir wär beides Recht, die hätte man sowieso nicht lange halten können." Langsam wurden die Stimmen leiser. Als auch die Schritte verhalten, atmete Kobold erleichtert auf. „Ich dachte schon, das geht schief..." Er warf noch einen Rundumblick, dann lief er am Wasserrand entlang in Richtung Wäldchen. Es dauerte länger als erwartet und bei jedem Knacken hatte er das Gefühl, einer der Wärter würde sich auf ihn stürzen. Oder der Direktor stieg aus der Unterwelt empor und griff mit seiner Peitsche nach ihm. „Sei nicht albern!", ermahnte er sich selbst. Doch als er vor den Bäumen stand, durchfuhr ihn plötzlich kalte Angst. Er torkelte zurück und bedachte mit tiefer Abscheu die dunklen Zweige, die raschelnden Blätter und die Baumkronen, welche wie Klauen auf ihn wirkten. In seinen Träumen war er immer durch Wälder gestreift, der lockenden Melodie folgend. Immer war es ein anderer Teil gewesen, immer waren die Blätter anders, oder die Bäume waren kahl. Mal schneite es, mal fiel das Laub herab. Tief Luft holend senkte Kobold den Blick auf seinen linken Arm, dort wo eigentlich seine Hand sein sollte. Die Schlange rekelte sich unruhig an seinem Unterarm, als würde sie frieren. Diese kleine, hilflose Bewegung ließ Kobold einen Schritt in den Wald machen. Die Angst hielt sich an ihm fest, fraß sich in ihn hinein, doch er schluckte sie hinunter. ‚Hier sind wir erst mal geschützt.' Er lief weiter am Wasser entlang, bis der Bach größer und tiefer wurde. Zwischen den Wurzeln eines Baumes ließ er sich nieder und löste vorsichtig die Klauen der Schlange um seinen Arm. Der Haken landete neben ihm im Laub und spiegelte das Bisschen Sonnenlicht wieder, welches durch das Blätterdach drang. Kobold setzte das Wesen am Ufer ab und tröpfelte ihm etwas Wasser ins Maul. Augenblicklich begannen die Schuppen zu leuchten. Die Schlange hob den Kopf, die vier Augen blinzelten ihn an. „Danke, kleiner Mensch..." Ihre Stimme klang erleichtert. Kobold lächelte. „Nichts zu danken, kleine Schlange." Er konnte sich einen Funken Spott nicht verkneifen, über die Tatsache, dass sie ihn klein nannte und selbst die Größe eines Wurms hatte. Die Schlange jedoch krabbelte weiter ans Ufer und schlüpfte schnell wie ein Fisch ins Wasser. Kobold runzelte die Stirn. ‚Kann sie jetzt schon schwimmen, nachdem sie die ganze Zeit geschlafen hat?' Der kleine Körper bewegte sich wie ein Aal durchs Wasser, nur das er nicht mehr klein war. Luftbläschen schienen sich an den Schuppen zu bilden und ließen sie wachsen. Kobold rückte etwas vom Ufer weg als die Schlange wieder auftauchte, fast so groß wie er selbst. Die vier Augen funkelten freundlich und ihre Lippen bewegten sich. „Viel besser... Danke, kleiner Mensch", seufzte sie. Er erwiderte das Lächeln zögerlich. „Eigentlich ist mein Name Kobold, und Ähm, deiner? Hast du einen?" „Aber natürlich. Ich heiße Aquareen und komme aus den Silberflüssen, jenseits des tiefen Waldes." Kobold zuckte bei diesen Worten zusammen und erinnerte sich, wie Aquareen den Kopf gedreht hatte, als würde sie die Melodie ebenfalls hören. „Der tiefe Wald... Ist das der Verbotene Wald?" Der Schlangenkopf wiegte etwas umher, was an ein Nicken erinnerte. „So nennen ihn die Menschen. Und das ist auch gut so, sie haben dort nämlich nichts verloren. Aber wo kommst du her? Wie bist du in so einem Käfig gelandet?" Kobold kratzte sich am Kopf, wobei er den Knubbel seiner Linken wieder hinter dem Rücken versteckte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich weiß auch nicht ob Kobold mein richtiger Name ist... Und du? Wurdest du aus den Silberflüssen entführt?" Die Schlange senkte betroffen den Kopf. „Nein, ich... Ich habe mich zu weit von meinem Schwarm entfernt. Ich wollte sehen was jenseits des Waldes ist, jetzt habe ich es heraus gefunden." Mitleid regte sich in Kobold. „Vermisst du deinen Schwarm?" Aquareen nickte und senkte den Kopf. Plötzlich blitzte etwas in ihren Augen auf. „Bevor du diesem Mann mit der Peitsche–" „Der Direktor." „Ja, der. Du hast etwas von einer Melodie gesagt..." Kobold nickte heftig. „Ja, die Melodie des Flötenspielers! Hast du sie nicht auch gehört, bevor das Feuer ausbrach?" Er rechnete mit einer Zustimmung und – hoffentlich – einer Erklärung, doch Aquareens Blick verfinsterte sich. Langsam senkte sich ihr Körper ins Wasser, bis nur noch ihr Kopf zu sehen war. Und für einen Moment hatte Kobold Angst, sie würde einfach verschwinden und ihn unter den Bäumen zurück lassen, in der Unwissenheit die ihn quälte. Doch die Schlange sagte nur: „Wir sollten uns ausruhen. Hast du einen Ort wo du hingehen kannst? Ich verabscheue Menschen, aber du hast mich zweimal gerettet und ich dich nur ein Mal. Ich schulde dir was, also wo gehst du hin?" Kobold blinzelte verwirrt. „Was ist mit diesem Flötenspieler? Was hat er damals getan?", fragte er hartnäckig. „Es ist unwichtig! Das alles ist vorbei, also beantworte meine Frage." „Erst wenn du meine beantwortest!" Kurz schienen ihre Blicke gegeneinander zu kämpfen. Kobold war nicht gewillt klein bei zu geben. ‚Ausnahmsweise will ich die Wahrheit hören, und zwar die Ganze!' Aquareen schien die Spannung in der Luft nicht zu gefallen, drum erklärte sie gezwungen: „Du, Kobold, warst eines der Kinder die von dem ‚Flötenspieler', wie ihr ihn nennt, von Zuhause fort gelockt wurden. Du bist ihm in den Wald gefolgt und ihm entkommen, was ich nicht glauben kann. Niemand entkam jemals." Bei diesen Worten durchfuhr ihn ein Schauer. ‚Eine Gestalt die mich in den Wald führt und Flöte spielt.' Seine Träume waren wieder klar vor seinem geistigen Auge. „Aber, du sagtest Kinder. Ich bin ein erwachsener Mann und erst seit sieben Jahren auf diesem Irrenmarkt! Da muss noch was anderes zwischen gewesen sein..." „Ich weiß auch nicht mehr. Aber am Fuße des Waldes gibt es ein hübsches Menschendorf , vielleicht findest du da deine Antwort. Ich muss dann aber zu meinem Schwarm zurück." Damit tauchte sie unter und rollte sich am Grund des Baches zusammen. Kobold legte sich ans Ufer, den Kopf auf die Hand gelegt. Kurz bevor er einschlief fiel sein Blick noch einmal auf den Haken, welcher im seichten Licht funkelte.
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