Anders
Der nächste Tag begann wie jeder andere, und doch war etwas anders.
Kobold saß in seinem Käfig und fixierte die Holzwand ihm gegenüber.
Ob es wohl Buche oder Eiche war? 'Ja, ich werde definitive verrückt!'
Auch wenn es noch zu früh für Besucher war, lugte er hinter den Gitterstäben hervor und musterte das Umfeld.
Einige Handlanger fegten trockenes Laub vom Rasen, welches nachts von einigen Bäumen hinüber geweht wurde. "Hoffentlich wird's heute nicht so voll. Sonst können wir wieder den Tag durch arbeiten", knurrte einer, nicht ahnend das einer der Käfiginsassin zusah. Sein Kollega schnaubte zustimmend, meinte jedoch: "Von den Einnahmen werden wir bezahlt. Sei froh wenn das Geschäft gut läuft."
Kobold grinste vor sich hin, ohne zu wissen, was er so lustig fand. Vielleicht zu sehen, dass es den Mitarbeitern auch nicht blendend ging oder das auch sie mit dem ganzen nicht zufrieden waren. 'Dabei sind sie da draußen, frei und nicht hier drinnen hinter Gittern.'
Kobold beobachtete sie weiter wie sie das Laub weg fegten und sich langsam von deinem Käfig entfernten. Etwas weiter den Platz herunter konnte er die dröhnende Stimme des Direktors wahrnehmen und das Knallen seiner Peitsche. Wieder verzerrte sich Kobold vor Hass, während er das Gesicht an das kalte Metall der Gitter presste.
Manchmal glaubte er, hoffte er sich hindurch quetschen zu können, wie ein schleimiger Frosch oder ein Wurm und den Fängen der vier Wände zu entkommen. Auch wenn er wusste, dass es nicht möglich war, versuchte er es immer wieder. Und scheiterte logischerweise.
'Ich finde einen Weg! Irgendwann, und wenn es mich Jahrhunderte kostet, ich finde einen Weg.'
Beinahe gebannt lauschte er der Stimme des Direktors wie sie laut hallte und den ganzen Zirkus für einen Moment erschaudern ließ. Heulen, Fauchen, Krächzen und Schnauben waren die übliche Antwort. Laute die man den ganzen Tag hörte, doch heute war etwas neues hinzugekommen. Ein Zischen, hasserfüllt und voller Zorn kam von dem Käfig ihm gegenüber. Kobold hob den Kopf und sah den Neuzugang. Die Schlange schlug wieder gegen die Gitterstäbe, ihre vier Augen glühten vor Kraft und Ausdauer. 'Sollte die freikommen, zerlegt sie den ganzen Zirkus', dachte Kobold. Diese Vorstellung machte ihm nicht einmal Angst, es trieb ihm sogar ein kleines Schmunzeln aufs Gesicht.
'Nur zu, Schlängel, nur zu.' Plötzlich hielt die Schlange inne und fixierte ihn mit ihren eisigen Augen. Sie waren Rubinrot, während ihr ganzer Körper eine grünliche Farbe hatte. Als wenn sie seine Gedanken gehört hätte, starrte sie ihn an und er erwiderte es. Kobold rührte sich nicht, wollte nicht, dass ihr Blickkontakt brach. 'Hallo, Schlängel, sei gegrüßt.' Es war vollkommen absurd anzunehmen, dieses niedere Wesen könne seine Gedanken hören, doch es war ihm egal. Wie das meiste, war es ihm egal...
Die Schlange musterte ihn noch für einen Moment, dann riss sie das Maul auf und donnerte wieder gegen die Gitter. Kobold ließ sich zurückfallen, ein ammüsiertes Lachen auf den Lippen. Die Zeit verstrich so schnell, wie jeden Tag und in der Ferne ertönte Stimmengewirr. Gewohnheitsbedingt lauschte Kobold den Zuschauern der Ausstellung, begleitet von der gezwungen freundlichen Stimme des Direktors. Kobold rührte sich nicht, hörte einfach zu, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.
'Sie kommen näher. Gleich sind sie hier, gleich sind sie hier!' Kobold wusste nicht, warum er plötzlich so aufgeregt war. Jeden Tag musste er es über sich ergehen lassen, er bekam es kaum noch mit. Und nun... 'Was ist los? Was ist heute so anders?'
"Und hier...", ertönte die Stimme des Direktors. Er war der erste der in sein Blickfeld trat, den Zylinder auf dem Kopf thronend und die Peitsche gut sichtbar am Gürtel. Seine milchigen Augen glitzerten ihm entgegen, als erwartete er, Kobold würde versuchen durch die Gitter zu brechen. 'Ja, darauf wartest du nur! Darauf hast du immer gewartet.'
Ein Dutzend Leute folgten dem Direktor und starrten in den Käfig, als säße dort ein haariges Wesen mit Knopfaugen und Fledermausflügeln.
Ein Wesen, welches so unnatürlich und doch real wirkte.
Normalerweise ignorierte Kobold das Gesabbere der Zuschauer, doch heute erwiderte er jeden Blick. Seine Augen glühten von einem zum anderen. "...sehen Sie den Überlebenden!" 'Überlebender...' Er wusste nicht, wieso das sein Ausstellungsname war. So sie er nichts aus seiner Vergangenheit mehr wusste. 'Außer die Melodie der Flöte. Die werde ich nie vergessen!'
"Der einzige, der in den Dunklen Wald ging und zurückkehrte! Er verlor den Verstand, man fand ihn vollkommen verwirrt am Wegesrand mit nur noch einer Hand. Ich nahm ihn bei mir auf um der Welt zu zeigen, das nichts unmöglich ist!" Der Direktor sonnte sich in dem ehrfürchtigen Raunen der Besucher. Kobold schloss die Augen, versuchte sich wie jeden Tag, sich selbst am Waldrand vorzustellen, doch vergebens. Die Bilder waren verschwommen und trübe. "Auch den Fängen des mörderischen Waldes kann man entkommen und Er ist der lebende Beweis!" Kein Zuschauer sagte etwas. Sie starrten ihn nur an, als könnten sie in seinen dunklen Augen die Wahrheit finden. 'Wenn ihr sie findet, sagt Bescheid', dachte Kobold etwas genervt. Er atmete erleichtert aus als der Direktor die Truppe weiterführte. Die Schlange hatte das ganze beobachtet und zischte wütend. 'Na, die gute Schlängel wird wohl die Attraktion heute sein. Neuzugänge sind immer besonders beliebt...' Er sollte Recht behalten, denn als der Direktor seine Truppe zu jenem Käfig führte, waren die Überraschungsschreie laut. Kobold lachte leise vor sich hin.
Erst als die letzten Zuschauer das Käfiggebiet verlassen hatten, verteilten die Angestellten die Mahlzeit des Tages. Kobold fixierte einen schmächtigen Kerl, welcher sich mit einem Eimer ihm näherte und eine Hühnerkeule durch die Gitter warf. "Und schön brave aufessen!", lauteten seine höhnischen Worte. Kobold verdrehte die Augen und nahm sich das rohe Fleisch.
Auf der kahlen Oberfläche war wie immer ein blaues Pulver. Es verlieh dem Fleisch einen künstlichen Geruch nach Medizin und besonders schmackhaft machte es die Keule auch nicht.
Doch Kobold hatte seit Ewigkeiten nichts anderes gegessen, weshalb er es getrost ignorierte. Auch der leichte Schwindel als er den letzten Bissen hinunter geschluckt hatte, war normal. Nebel schien um ihn herum aufzuziehen und alle Geräusche wurden leiser. Wieder hallte die Melodie durch die Lüfte. Wie in einem Wahn erhob sich Kobold, obwohl er wusste, dass es die Wirkung des Pulvers war. Die Droge, welche ihm Tag für Tag verabreicht wurde, die ihn ruhig stellen sollte.
'Was soll ich auch tun? Die Wände mit meinem Schädel zertrümmern?'
Kobold hatte schon lange aufgehört Fragen zu stellen, doch einige Beschäftigten ihn auch unausgesprochen. Plötzlich, wie vergangene Nacht, drang etwas durch den Nebel. Klar schallte die Melodie der Flöte durch die Luft, erfüllte den Käfig mit hellem Klang, dass es schon in den Ohren wehtat. Kobold starrte hinaus in die Ferne. 'Es sind nur die Drogen, die mir einen Streich spielen. Sie haben es immer getan und es wird nie enden.'
Doch dieses mal... Die Melodie hörte sich so real an, so nahe. 'Es ist nur in meinem Kopf, es kann nur in meinem Kopf sein!' Doch als er sich umsah, erblickte er die Schlange. Ihre vier Augen schienen der Melodie ebenfalls zu folgen. Sie starrte in die Ferne, wippte mit dem Kopf die Töne nach. "Sie ist real...", flüsterte Kobold. Und auf einmal verschwand der Nebel, der seinen Geist eingehüllt hatte. Die Pulver versagten, jedenfalls fühlte es sich so an. "Sie ist real!", jaulte Kobold laut. Einer der Wärter bekam es mit, ging zu seinem Käfig und schnaubte: "Sei gefälligst still, du irrer Wicht!" Doch noch bevor seine Worte verlangen gab es einen großen Knall. Kobold hatte nicht mehr die Zeit den Kopf zu drehen, denn sein Käfig wurde zur Seite geschleudert. Ihm entwich ein Schrei als er durch die vier Wände flog und unsanft auf splitternen Holz aufkam. "Verflucht...", keuchte er. Die Melodie war fort, wie die meisten Geräusche. Benommen sah er sich um, doch Staub verdeckte seine Sicht. Schmerz pochte in seinem Rücken und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. "Was ist...?" Schreie hallten aus weiter Ferne, wurden immer lauter bis er wieder vollständig bei Bewusstsein war. Kobolds Käfig lag auf dem Rücken, die Gitter über ihm waren stark verbogen worden.
Für eine winzige Sekunde, den Bruchteil eines Herzschlages, zögerte Kobold. So langer er denken konnte, war er gefangen gewesen in diesem Holzding, hatte nur das gesehen, was man ihm gestattete zu sehen, und nun...
Doch dieses Zögern hielt nicht lange an. So gut es für einen einhändigen Insassen ging, kletterte Kobold nach oben und zwängte sich durch die Gitterstäbe. Starker Wind blies ihm entgegen und er musste blinzeln, um seine Umgebung zu erkennen. "Was ist passiert?", flüsterte er fassungslos. Kobold wusste nicht, was er fühlen sollte als er die große Rauchwolke sah, die vielen umgestürzten Käfige, Wärter die panisch umher liefen und Attraktionen, welche sich befreien konnten.
'Befreien... das bin ich auch. Ich bin befreit!' Kobold setzte seine nackten Füße auf die Gitter und reckte sich um alles gut sehen zu können. Auf dem ganzen Platz herrschte Chaos und auch wenn unzählige Geräusche an seine Ohren drangen, war die zornige Stimme des Direktors unfehlbar. Hass, Wut, Rachegelüste stiegen in Kobold auf. Seine dunklen Augen blitzten blutrünstig als er von seinem zerstörten Käfig sprang und sich ins Chaos stürzte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro