Kapitel 4
ZAYN
„Sie müssten angebissen haben", informierte mich ein gut gelaunter Louis, aus dessen Stimme ein breites Grinsen sprach, durchs Handy. Das war einer der großen Vorteile, wenn man ein im ganzen Land bekannter Verbrecher war. Sobald man sich irgendwo auf der Straße blicken ließ, drehten die Leute durch, ergriffen die Flucht und verständigten die Polizei. An der Stelle würden sich jetzt viele an die Stirn tippen und sagen „Was ist denn gut daran, wenn Leute die Polizei verständigen und man nie unauffällig ist?". Tja, da kann ich nur antworten: „Was, wenn wir auffällig sein WOLLEN und genau darauf abzielen, dass die Polizei auftaucht?". Die Polizisten denken immer, sie seien die am längeren Hebel, doch wenn sie dann geradewegs ohne Hirn und logischem Menschenverstand in unseren Hinterhalt gehen, kann ich darüber nur den Kopf schütteln. So ist es heute noch und so war es auch damals zu dem Zeitpunkt. Die Horans waren keine Ausnahme – kaum hatten sie einen Zipfel von unserem Trupp erspäht, waren sie sofort in höchster Alarmbereitschaft mit ihren mickrigen Autos aufgebrochen, um uns den Hintern zu versohlen. Bei dem Gedanken musste ich verächtlich grinsen. Als ob die uns irgendwas anhaben konnten. Ich hatte mir ihr Vorgehen schon genau durch den Kopf gehen lassen: Vermutlich kamen sie mit zwei Autos, ein Team auf direktem Wege, das andere über eine kleine Umschweife von der anderen Richtung, mit der Absicht, uns einzuzingeln und uns somit den Fluchtweg abzuschneiden. Haha. Tolles Vorgehen. Wahrscheinlich stürmten sie in fünf Minuten das Café, versetzten die ganze Stadt in Horror und lockten wieder ungefähr hundert Reporter an, die über das neueste Massaker der Malik-Gang berichten und dem Informationsgehalt der Konkurrenz um nichts nachstehen wollten.
Wie auch immer – wir saßen NICHT in diesem hirnverbrannten Café, das zu dieser Tageszeit (später Nachmittag) wie immer ziemlich überfüllt war und man sich nicht unterhalten konnte, ohne dass zwanzig Leute mithörten und es dann womöglich auf Facebook posteten. Louis würde sich nach getaner Arbeit (oder je nach dem, auch mitten unter der Arbeit, wann es ihm eben am besten in den Kram passte) einen Kaffee bestellen, und hier meine ich eine rein louismäßige Bestellung. Soll heißen, er stürmte den Laden mit seinem heiß geliebten Springmesser, machte den Kellnern ein wenig Feuer unterm Hintern und stieg dann gemütlich seinen Kaffee schlürfend in den Wagen (wo er ihn dann allerdings meistens bei Justins miserabler Fahrweise ausschüttete und somit erst mal für eine Stunde stocksaure Funkstille zwischen den beiden herrschte).
Diese Aktion heute war nur eine kleine Spielerei um zu sehen, wie sich die einzelnen Personen verhielten, sodass wir uns für unseren großen Hauptzugriff, wie wir es amüsiert nannten, bis ins kleinste Detail vorbereiten und perfekt ausführen konnten. Vorher wollten wir diesem ach so tollen Obercop Bobby Horan ein wenig Angst machen, mithilfe von fiesen Liebesbriefchen, kleineren Anschlägen wie eine zerstörte Autoscheibe oder Einbrüche in die privaten Wohnungen der Mitglieder, falls wir die ausfindig machen konnten, vielleicht mal einen kleinen Überfall auf der Straße ... mal sehen. Das würde ich dann spontan entscheiden. Aber eines stand fest: Ich wollte seinen Sohn. Um jeden Preis. Nicht nur, weil mir Horan Senior dann aus der Hand fressen würde, sondern weil er mir gefiel. Natürlich hatte ich schon einige Beziehungen hinter mir, One Night-Stands waren auch ab und zu mal drin und ich war sowohl bei den Jungs als auch bei den Mädchen sehr begehrt, aber dieser blonde Ire hatte es mir angetan. Seit ich ihn auf dem Foto im Internet gesehen hatte, saß ich wie auf heißen Kohlen, ihn endlich in Real-Life vor mir zu sehen, um mir jedes Detail genau einprägen zu können. Noch nie war mir jemand so ins Auge gestochen wie er, ganz zu schweigen von dieser anziehenden Wirkung, die schon ein bloßes Bild von ihm auf mich ausübte. Ich wusste, dass es blödsinnig war, überhaupt an so etwas zu denken, immerhin war er Mitglied eines Einsatzkommandos, das auf uns angesetzt worden war und somit unseren derzeitigen Erzfeind darstellte, und war bestimmt nicht epicht darauf, für einen interessierten Verbrecher die Seiten zu wechseln – auch wenn ich persönlich dagegen nichts einzuwenden hätte. Naja, mal sehen.
Um auf das eigentliche Geschehen zurückzukommen: Ich saß also genüsslich eine Zigarette rauchend neben Justin auf einer der Parkbänke, ungefähr einen halben Kilometer von dem Café entfernt, in dem Louis sich womöglich gerade seinen geliebten Kaffee besorgte, und beobachtete aufmerksam die Straße. Ein Fahrer, dem es eilig war, würde meinem geübten Auge sofort auffallen, genauso wie diese üblichen Möchtegern-Undercoveragenten, die glaubten, mit obercooler Sonnenbrille auf der Nase und Funkgerät in der Hand wären sie unauffälliger. Da die Strecke immer bergab verlief, hatten wir von unserer erhöhten Position eine wunderbare Sicht auf das Café, aus dem bis jetzt noch keine panischen Menschen hervorbrachen, was mich schlussfolgern ließ, dass Louis heute mit seinem Koffein bis nachher wartete. Da mein Blick aber eher verbissen auf das Verkehrsgeschehen gerichtet war, ließ ich meine Aufmerksamkeit erst durch einen aufgeregten Justin auf das Café zurückschweifen – und mir blieb der Mund offen stehen. Am Straßenrand ungefähr dreihundert Meter vor dem Café-Parkplatz war ein dunkelblauer Wagen zum Stehen gekommen, aus dem nun nach und nach Personen ausstiegen und mit Sorgfalt die Umgebung scannten, soweit ich das aus dieser Entfernung sagen konnte. Wütend sprang ich auf. Wie hatten es diese Schlaumeier fertiggebracht, mir durch die Lappen zu gehen? Das war schier unmöglich, bis jetzt hatten wir noch JEDEN Einsatztrupp lange vor seiner Ankunft ankündigen können! Es war fast wie eine persönliche Beleidigung für mich. „Gehen wir runter", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, doch Justin warf mir einen unsicheren Blick zu und meinte vorsichtig: „Boss, da kommen drei in unsere Richtung". Er deutete nach unten auf die Straße. So gern ich irgendjemandem für meine eigene Blödheit die Fresse poliert hätte, war meine Wut plötzlich wie verfolgen, als ich unter den drei herankommenden Personen einen Blondschopf erspähte.
„Ääh, Boss?", rief Justin mir beunruhigt nach, als ich ihnen ein paar Schritte entgegenlief und nicht gerade unauffällig die Straßenseite wechselte, da deshalb ein wütender Autofahrer auf den Standstreifen ausweichen musste und dabei kräftig auf die Hupe drückte. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Perfekt. Jetzt müsssten wir die Aufmerksamkeit der drei haben. Ein Blick nach unten bestätigte meine Vermutung, denn einer der drei griff die anderen am Arm und deutete aufgeregt zu uns hoch, bevor sie ihre Schritte beschleunigten.
„Boss!", wiederholte Justin, diesmal drängender. „Was sollte das denn jetzt? Jetzt haben sie uns entdeckt! Die werden Verstärkung rufen und dann sind wir dran!".
Mit zwei großen Sprüngen überquerte ich die Fahrbahn. „Nope. Werden sie nicht. Das sind die drei Kleinen. Meinst du etwa, die lassen sich von den erfahrenen Großen ihren Auftrag vor der Nase wegschnappen? Die wollen unter Beweis stellen, dass sie auch was auf dem Kasten haben". Amüsiert beobachtete ich die drei. Irgendwie taten sie mir fast leid. Nicht mal das Auto konnten sie benutzen, weil ihr toller Einsatzleiter, der aus der Fahrertür ausgestiegen war, abgesperrt und den Schlüssel eingesteckt hatte.
„Und was tun wir jetzt?". Meine Fresse, so nervös hatte ich Justin noch nie gesehen. So kannte ich diesen skrupellos abmetzelnden Kerl gar nicht, der hatte wohl Schiss vor dem angeblich „besten Team des Landes", dessen Nachwuchs in diesem Augenblick geradewegs auf uns zudackelte. „Sollen wir sie gleich umbringen, oder was?".
„Nein!". Genervt wedelte ich mit der Hand in seine Richtung, bevor mein Blick wieder zu den jungen Polizisten hinunterschweifte und an Horan haftenblieb, dessen leuchtend blondes Haar nur so herausstach. „Wir wollen uns doch nicht selbst den Spaß verderben". Ich grinste. „Machen wir ihnen ein wenig Angst".
NIALL
Mein Vater und Paul stürmten natürlich sofort in das Café, sodass wir drei erst mal wie die letzten Idioten auf der Straße herumstanden und vermutlich eher jämmerlich als wie ausgebildete, professionelle Einsatzkräfte aussahen. Harry drehte sich einmal um die eigene Achse. „Na toll!". Wütend kickte er eine leere Coladose weg, die irgendein Umweltschwein achtlos hingeworfen hatte. „Ich wusste es! Die lassen uns eh nichts machen, wir durften nur mitkommen, damit wir nicht herummosern und zufrieden sind!".
Obwohl ich den gleichen Verdacht hatte, hielt ich lieber den Mund und musterte stattdessen die Umgebung. Ich hatte das Gefühl, dass hier mehr als ein unvorsichtiges Gangmitglied dahintersteckte, ich meine, diese Typen waren erfahrene Verbrecher. Die ließen sich nicht ohne Grund mal schnell auf der Straße blicken, wo sie doch genau wussten, dass das die Polizei auf den Plan rufen würde. Meine Augen wanderten über die Kuppe des Berges hinweg, wo es sich zwei junge Männer auf der von den Touristen heiß begehrten Bank vor dem Wald gemütlich gemacht hatten und auf die Straße starrten. Nichts besonderes. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Café zu, in dem es noch erstaunlich ruhig zuging – normalerweise ging immer sofort eine Schießerei und das Gebrüll los, sobald wir ein Gebäude betraten, in dem Verbrecher anwesend waren.
Naja, Dad hat ja alles im Griff, dachte ich bitter. Während wir nutzlos herumstehen.
Ich spürte ein seltsames Brennen im Rücken, als ob mich jemand schwarf beobachtete, doch als ich mich umdrehte und die übrigen parkenden Autos begutachtete, konnte ich nirgends eine Person ausmachen. Trotzdem wurde ich dieses unwohle Gefühl nicht los, es verstärkte sich nur noch mehr bis ich mit dem Gedanken spielte, das Café ebenfalls zu betreten und meinem Vater ein wenig auf die Nerven zu gehen (nicht so, dass Harry was dagegen hätte). Wir waren gerade dabei, gelangweilt in Richtung Straße zu schlurfen, als uns der laute Ton einer Hupe wie auf Kommando gleichzeitig herumwirbeln ließ.
Die beiden Männer oben auf dem Berg standen nun; der an der Bank schien irgendetwas zu rufen, während der andere frech einem Autofahrer zuwinkte, den er offenbar gerade zu einem Ausweichmanöver gezwungen hatte, indem er einfach schräg die Fahrbahn überquert hatte. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte angestrengt, aus der Situation schlau zu werden, als der Typ erneut über die Straße lief und ein paar Worte mit seinem Kumpel wechselte.
„Leute", meldete sich plötzlich Liam zu Wort, der die ganze Zeit über verbissen geschwiegen hatte. „Das ist Malik".
„WAS?". Harry griff nach seiner Waffe, die er wie wir im Gürtel stecken hatte, doch Liam hielt schnell seine Hand fest, bevor er unter den vorbeikommenden Leuten eine Massenpanik wegen eines vermeintlichen Amoklaufs auslösen konnte. „Den schnappen wir uns!".
„Bist du von Sinnen?", fauchte Liam zurück, der schon wieder ein paar Schritte in Richung Café gemacht hatte. „Die erschießen uns, bevor wir überhaupt unseren Namen aussprechen können! Holen wir lieber Mr Horan und Paul".
„DU bist von Sinnen!", hielt Harry empört dagegen. „Glaubst du, die lassen uns dann irgendwas machen? Die verfrachten uns ins Auto und rufen stattdessen die Hoods".
Unschlüssig stand ich zwischen den beiden und konnte mich für keine Seite entscheiden. Einerseits wusste ich, dass dieser Malik höchstwahrscheinlich mehr als nur diesen einen Mann bei sich hatte und uns mit Leichtigkeit zu Hackschnitzel verarbeiten würde, doch andrerseits wollte ich unbedingt etwas zu diesem Fall beitragen und nicht für immer und ewig als der kleine Horan bezeichnet werden. Harry nahm mir die Entscheidung ab, indem er einfach die Straße hinaufzulaufen begann. „Harry!", bellte ihm Liam wütend hinterher. „Lass den Scheiß!".
Harry ignorierte ihn und setzte seinen Weg ungerührt fort. Liam stöhnte geschlagen auf. „Himmelherrgott, dieser Junge macht mich wahnsinnig!".
Achselzuckend lief ich „diesem Jungen" hinterher, was Liam nun gänzlich die Sprache verschlug. Wenn sich unser Jüngster schon wie ohne Augen im Kopf in den Schlamassel stürzen wollte, dann wenigstens in meiner Begleitung – und auch in der von Liam, denn der kam letztendlich doch hinter uns her gewetzt, einen Fluch nach dem anderen vor sich hin schimpfend. „Dein Dad bringt mich um, wenn er hiervon erfährt!".
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass mein Dad Liam die Verantwortung für uns übertragen hatte, weil er erstens der Älteste von uns ist, uns zweitens auch der Vernünftigste, der jede Situation genau auf mögliche Gefahren überdachte und auch schon die Erwachsenen vor manch blödem Fehltritt bewahrt hatte. Diesmal jedoch schien seine ganze Autorität an uns zu scheitern – alleine gehen lassen wollte er uns nicht und da wir (laut ihm) ohne ihn noch mehr Unheil stiften würden als ohnehin schon, kam er lieber gleich selbst mit, um Schlimmeres zu verhindern.
„Woah, was haben die für ein Problem?", ließ sich plötzlich Harry verlauten, der zum ersten mal seit wir den Malik-Fall übernommen hatten, leicht erschrocken klang. Ich löste meinen Blick vom Boden (ich hatte die Fähigkeit, über jeden noch so kleinen Stein auf der Straße zu stolpern) und wäre beinahe abrupt stehengeblieben, als ich sah, dass die beiden Typen sogar auf uns zukamen.
Liam schnappte nach seiner Jacke, doch Harry wich schnell aus. „Es reicht jetzt. Rufen wir Hilfe". Wieder wollte er seinen Freund am Arm fassen und wieder duckte der sich geschickt aus seiner Reichweite. „Dann sieht es aus, als ob wir einen Rückzieher machen wollen. Sind wir nun Komissare des besten Einsatzkommandos des Landes oder nicht?".
„Junior-Komissare", korrigierte Liam, der aussah, als würde er Harry am liebsten an Ort und Stelle einen Tritt in den Hintern verpassen.
Kurzer Kommentar meinerseits: Wir waren die bescheuertsten Junior-Komissare aller Zeiten. Wir benahmen uns wie ein lächerlicher Haufen Kindergartenkinder, die nicht untereinander ausraufen konnten, welches Spiel sie als nächstes spielen wollten. Ich warf einen Blick nach vorne – und erhaschte noch einen Zipfel von Maliks Jacke, als er mit seinem Kumpel nach links in den Schotterweg, der in den Wald hineinführte, abbog. Stirnrunzelnd schaute ich ihnen nach. „Was zum Teufel wollen die da? Der Weg führt nur zu dieser scheußlichen alten Kapelle".
„Lass es uns herausfinden". Und wieder war Harry losgerast. Okay, ich musste Liam eindeutig recht geben: Diesem Jungen musste wirklich geholfen werden. Hatte der schon mal was von Selbsterhaltungstrieb gehört? Offenbar nicht.
„Ich hole deinen Vater".
„Nimm doch das Funkgerät". Genialer Einfall.
Liam griff an seine hintere Hosentasche, an der er das Gerät immer festklipste und warf mir dann einen schuldbewussten Blick zu. „Ähm. Sieht fast so aus, als hätte ich es im Auto liegengelassen".
Gleichzeitig sahen wir zuerst den Berg hinunter, wo der Wagen am Straßenrand stand, und dann wieder hinauf zu der Feldwegeinmündung, in die Harry gerade hineinlief und drohte, aus unserem Blickfeld zu verschwinden. Ich seufzte. „Lauf du mal hinunter, ich versuche indessen, Harry vor Dummheiten zu bewahren".
Liam warf mir einen letzten zweifelnden Blick zu. „Viel Glück, Mann. Passt auf euch auf. Ich will meine Kollegen noch ein wenig länger". Mit diesen Worten sprintete er in Höchstgeschwindigkeit den Berg hinunter auf das Café zu, während ich Harry hinterherhetzte. Diese ganze Situation war so ... ironisch? Lächerlich? Eigentlich beides. Zwei Teenager, die erst am Anfang ihrer Ausbildung standen, jagten völlig unvorbereitet den blutrünstigsten, verbrecherischsten Mördern des Landes hinterher, ohne Funkgerät, einem Handy mit leerem Akku (siehe meines) und ohne auch nur den geringsten Plan zu haben. Oh Mann. Das würde sowas von mit Hackschnitzel enden.
Als ich um die Ecke bog, rechnete ich schon fast damit, Harry nun endgültig aus den Augen verloren und ihn somit auswegslos den Mördern ausgeliefert zu haben, doch zu meiner Verblüffung stand er wie festgewurzelt mitten auf dem Weg und schien auf irgendetwas zu horchen. Ich ging an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, da fuhr er herum und hätte mir beinahe einen sauberen Kinnhaken verpasst, wenn ich nicht rechtzeitig in Deckung gegangen wäre. „Hast du nen Knall?". Schnell nahm ich Sicherheitsabstand, bevor er ein zweites mal ausholen konnte, doch er hatte mich glücklicherweise schon erkannt und stotterte eine Entschuldigung. „Ups. Ich dachte, du wärst jemand anders".
„Und ich dachte, du willst Malik und seine Männer ganz alleine einfangen", antwortete ich, wobei ich einen leichten Hauch von Belustigung nicht aus meiner Stimme verbannen konnte. „Was treibst du dann hier?".
„Sie sind wie von Erdboden verschluckt". Harrys wachsamer Blick studierte nacheinander jeden einzelnen Baum. Eine seiner widerspenstigen Locken lag quer über seiner Nase, doch das schien ihn wenig zu interessieren. „Und von da kommen seltsame Geräusche". Er deutete vage tiefer in den Wald hinein, wo das dichte Unterholz begann.
Wie auf Kommando drang das laute Knacken eines zerbrechenden Zweiges zu uns herüber. Und ebenso wie auf Kommando hatten wir im nächsten Moment unsere Waffen in der Hand, positionierten uns Seite an Seite und wandten den Blick nicht mehr von den Bäumen, hinter denen das Geräusch offenbar verursacht worden war. Meine Hände zitterten leicht. Genau genommen war das hier erst der zweite richtige Einsatz, auf dem ich dabei war. Ich war zwar der beste Schütze von uns dreien, aber die Nervosität und die Angst machten mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung; falls ich jetzt konzentriert schießen müsste ... Fehlanzeige. Ich würde mein Ziel nicht mal annähernd treffen. Von Harry musste ich nicht mal anfangen. Ich erinnerte mich lebhaft an die unnzähligen Abende, an denen er vergeblich versucht hatte, genau in die Mitte der Schießscheibe zu treffen aber trotzdem immer wieder nur am Rande des Schwarzen herumkratzte. Ich nahm an, dass er mit seinem Hitzkopf einfach nicht dafür geschaffen war, eine Stunde lang ruhig dazustehen und auf einen schwarzen Punkt zu zielen. Während wir andern ruhig Blut am Schießstand nach vorne zielten, wechselte Harry immer wieder seinen festen Stand, tänzelte herum, war ungeduldig und unkonzentriert. Es passte einfach nicht zu ihm.
Hervorragend, dann hatten wir ja die perfekten Voraussetzungen. Ich konnte es nur nochmal wiederholen: Hackschnitzel.
Als ein diesmal deutlich lauteres Rascheln erklang, als ob sich jemand durch das Gestrüpp schieben würde, hätte ich am liebsten am Absatz kehrt gemacht und die Flucht ergriffen.
Niall, du bist ein unverbesserliches Weichei.
Harry neben mir war ebenfalls fast unmerklich ein paar Zentimeter zurückgewichen. „Das sind die doch", flüsterte er ohne eine jegliche Mundbewegung. „Hundert pro".
„Was machen die da?", gab ich ebenso leise zurück. Obwohl jede Zelle meines Körper HAU AB! schrie, tastete ich mich mit den Füßen über den unebenen Feldweg Millimeter für Millimeter voran, Harry dicht auf den Fersen, bis wir nur noch knapp zwei Meter von der Geräuschquelle entfernt waren. Ich wusste nicht was mir lieber war – dass Malik und sein finsterer Kumpel noch da waren und wir sie möglicherweise überwältigen konnten (*unwahrscheinlich*), oder dass es nur ein hirnrissiger Hase war, der sich hierhin verirrt und keine Ahnung hatte, wie er sich wieder aus seiner Lage befreien sollte.
Ganze fünf Minuten standen wir Schulter an Schulter da, zielten mit unseren Pistolen auf das undurchschaubare Geäst zwischen den Bäumen und Büschen, und wagten nicht, einen Mucks von uns zu geben. Nichts war zu hören, nur das sanfte Rauschen der Baumkronen und das entfernte Gezwitscher der wenigen Vögel, die in diesem Gebiet noch einen Lebensraum gefunden hatten. Nach einer Weile ließ Harry seine Waffe sinken und sah mich ratlos an. Nun kam ich mir lächerlich vor, mit einer geladenen Pistole einen ... Busch zu bedrohen, nahm die Arme ebenfalls herab und erwiderte seinen Blick mit demselben Ausdruck im Gesicht. Seltsamerweise verspürte ich das Bedürfnis zu grinsen, was ich nach einem kleinen inneren Kampf dann auch nicht mehr unterdrücken konnte und sich meine Mundwinkel automatisch nach oben zogen. „Wie blöd sind wir eigentlich?".
Harry ließ ein leises Glucksen hören. „Ganz schön blöd".
„Ich befürchte, die haben wir verloren. Wir sollten ...". Weiter kam ich nicht, denn in diesem Moment brach etwas mit lautem Gebrüll und einem Riesenlärm aus den Zweigen vor uns hervor und stürzte sich auf uns. Harry schrie auf und wollte im letzten Moment seine Waffe hochreißen, doch er wurde von einer unidentifizierbaren Gestalt, die über und über mit Laub bedeckt war, buchstäblich über den Haufen gerannt. Bevor ich irgendwie reagieren oder ihm zu Hilfe kommen konnte, knallte jemand in mich hinein und rammte mich zu Boden. Der harte Aufprall auf einer aus dem Boden herausgewachsenen Wurzel ließ meiner Lunge alle Luft entweichen, sodass ich ein schmerzerfülltes Japsen nicht unterdrücken konnte und ich erstmal wie gelähmt und zu geschockt dazu war, einen Finger zu bewegen. Meine Pistole hatte meine Hand verlassen und sich auf große Reise auf Nimmerwiedersehen in die Büsche verflüchtigt. Jemand kauerte sich über mich, platzierte unsanft ein Knie auf meiner Brust, und drückte mir einen kalten, harten Gegenstand an die Schläfe. Ich musste meinen Kopf nicht wenden um herauszufinden, was es war.
Scheiße.
--------
Ich hatte ja ein etwas längeres Kapitel angekündigt, aber mit 3300 Wörtern hatte ich irgendwie nicht gerechnet ... naja ... wird mir schon niemand den Kopf abreißen :D Lasst mich doch wissen, was ihr von der Story bisher haltet, ich bin mir da immer sehr unsicher ... :))
P.S.: Falls irgendwo etwas komisch aussieht oder eigentlich kursiv gedruckt sein müsste, hat Wattpad wieder sein Eigenleben aufblühen lassen und all meine Pläne fachgerecht durcheinandergeworfen ... :D Sorry dafür!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro