Zugvögel
~Lucea~
Der Morgen ist kühl und die leichte Brise umweht mich mit frischer Luft. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fallen auf den kleinen Balkon meines Gemachs und wärmen mein noch etwas verschlafenes Gesicht. Ich lehne an dem prachtvoll geschwungenen Geländer und blicke über die Dächer Bruchtals, das noch friedlich schlummert. Die zahlreichen Bäume des Waldes hinter meinem Zuhause ragen hoch in den Himmel. Die Tannen und Fichten sehen aus wie Speerspitzen. Jeder Baum hat sein eigenes Gesicht. Die meisten hier schlafen tief und fest, während die Bäume im Fangornwald aufmerksam wachen. Am Horizont bewegt sich etwas. Kleine schwarze Silhouetten tanzen vor dem aufgehenden Feuerball umher. Mit der Hand beschatte ich meine Augen, um besser sehen zu können. Die Figuren kommen immer näher, sie bewegen sich schnell. Schon nach wenigen Minuten haben sie Bruchtal erreicht, das sich eng an die steile Felswand schmiegt. Jetzt höre ich das leise Flattern der Flügel und das aufgeregte Zwitschern der Zugvögel. Ich hebe den Kopf, als sie über mir hinweggleiten und sich von den Lüften tragen lassen. Der Wind treibt sie voran, über Feld und Wald, über Berg und Tal, über Fluss und Meer. Auf ihrer ewig währenden Reise sehen sie bestimmt vieles. In diesem Moment wünsche ich mir, so frei und unbeschwert zu sein wie sie. Diese zierlichen Geschöpfe kümmern sich nicht um Krieg oder Frieden, um Streit oder Versöhnung oder gar um die Zukunft. Sie leben jeden Tag für sich, tuen das, was Vögel eben so tun und durchstreifen die Lande. Sie sehen den Himmel direkt über sich und können die Wolken fühlen. Es muss ein schönes Leben sein, das sie führen. Auch wenn ein solch kleines Herz in ihrer Brust schlägt.
Ich öffne meine grünen Augen, ich habe gar nicht bemerkt, dass ich sie geschlossen habe. Da entdecke ich einen kleinen Vogel. Er sitzt vor mir auf dem Geländer der Terrasse und sieht mich aus seinen schwarzen Knopfaugen an. Das glänzende Gefieder schillert im Schein der Sonne. Die Federn besitzen eine einzigartige Farbenpracht, die ich nur selten sehe. Der Kopf ist rot, doch die Stirn grün und weiß zugleich. Die Kehle ist gelb und unten durch ein schwarzes Band vom Bauch abgegrenzt. Der Bauch selbst leuchtet blaugrün, der Rücken gelblich wie die Sonne, wenn sie zu Mittag ihren höchsten Stand erreicht. Die langen Schwanzfedern laufen in helleren und dunkleren Blautönen aus. Es ist ein Schmuckspint. Diese Vögel kommen nur selten hierher, sie bevorzugen trockene Gebiete. Der bunte Geselle zwitschert eine hübsche Melodie. Dabei bewegt er den Kopf ständig hin und her und trippelt auf dem glatten Metall herum. Ich wage nicht, mich zu bewegen, es würde das Tier verscheuchen. Doch in diesem Moment fixiert mich der Vogel noch ein letztes Mal, dann erhebt er sich in die Luft und flattert davon. Zurück zu seinem Schwarm. Ich lächle ihm hinterher, während der Wind an meinem Nachthemd zerrt. Er spielt mit meinen offenen Haaren und legt sie mir sanft über die Schultern. Mich fröstelt etwas und ich kehre in mein Zimmer zurück. Rasch öffne ich meinen aus hellem Holz und mit edlen Schnitzereien verzierten Schrank und wähle ein schlichtes Kleid. Mit flinken Bewegungen streife ich mein weißes Nachthemd ab und schlüpfe in das Gewand. Es ist mattgrün und betont meine leicht gebräunte Haut und die dunklen Haare. Es ist mit keinerlei Stickereien versehen, nur ein schwarzer Gürtel schlingt sich um meine Taille. Ich beachte den Spiegel kaum, sondern mache mich daran, meine Haare zu bürsten und in einem lockeren Knoten hochzustecken. Das ist für den Alltag und die Arbeit am passendsten. Mein Werk ist schnell beendet und ich schlüpfe aus meinem Gemach in den schmalen Korridor hinaus. In diesem Teil des Hauses ist es meist ruhig und kaum belebt, denn hier ist der Damenflügel. Nur wenige bleibende Gäste wohnen hier. Meine Ziehmutter Arwen Undómiel und einige andere Elben. Immer mehr Mitglieder dieses Volkes ziehen in den Westen, in die unsterblichen Lande. Mein "Großvater" Elrond meint, das Zeitalter der Elben neige sich dem Ende zu. Ich zweifle nicht an seinen Worten, doch ich bin nicht sicher, ob Mittelerde ohne die Weisheit und Ruhe der Quendi weiterbestehen kann. Doch ich werde nach solcherlei Dingen nicht gefragt. Mag sein, dass ich eine gute Heilerin aus Imladris bin, aber dennoch bin ich ein Mensch. Noch dazu eine Frau. Eine schlechte Mischung, wenn man etwas sagen will. Ich schiebe diese Gedanken beiseite und nähere mich mit langen Schritten meinem Ziel.
Leise öffne ich die Tür und trete in den sonnendurchfluteten Raum. Es ist eines der Zimmer, in denen die Kranken und Verletzten untergebracht werden. In dem großen Bett liegt eine kleine Gestalt. Ich würde sie für ein Kind halten, wenn ich nicht wüsste, dass es ein Hobbit ist. Es ist zwar nicht der erste Hobbit, den ich zu Gesicht bekomme, dennoch sind mir diese Geschöpfe aus dem grünen Auenland ein gewisses Rätsel. Dies hier ist kein gewöhnlicher Hobbit. Sein Name ist Frodo Beutlin und er ist derjenige, der den Einen Ring hierher brachte. Dafür musste er einen hohen Preis zahlen. Verfolgt und verletzt von einem der neun Nazgûl schaffte er es gerade noch rechtzeitig hierher. Man sagt, der Hexenkönig selbst habe ihn verwundet. Mit Aragorns Hilfe und drei weiteren Hobbits im Schlepptau kam Frodo an und ist nun schon seit einigen Tagen besinnungslos. Nachdem Lord Elrond ihn nach besten Kräften heilte, ist es nun meine Aufgabe, ihn zu pflegen. Geschickt nehme ich den Verband um seine Schulter ab und betupfe die Wunde mit frischem Wasser. Dann greife ich nach einer grünen Kräuterpaste und trage sie vorsichtig auf. Frodos Gesichtszüge sind im Moment ruhig und seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Doch es gab schlimmere Zeiten, in denen er sich ständig von der einen Seite auf die andere warf und kaum Ruhe fand. Manchmal schrie er im Schlaf und wohl auch vor Schmerz. Meine Augen wandern von seinem Gesicht zu seinem Hals. Unter dem weißen Hemd blitzt eine Kette hervor. Jene Kette, an der ein Ring baumelt. Mir ist bewusst, was das für ein Ring ist, obwohl es mir nie jemand sagte. Das Schmuckstück übt eine seltsame Anziehung und zugleich Schrecken auf mich aus. Jedoch komme ich nicht einmal auf die Idee, den Ring der Macht zu berühren. Nein, ich erlaube mir weder die, noch langes Anstarren. Ich habe schon oft Geschichten von dem Ring und seinem dunklen Herren gehört. Gruselige Geschichten, die mir stets einen Schauer den Rücken hinunter jagten. Auch deshalb halte ich mich so gut wie möglich davon fern.
Nachdem die Paste etwas angetrocknet ist, mache ich mich daran, einen neuen Verband anzulegen. Plötzlich öffnet sich die Tür hinter mir. Nur ein leises Knarren verrät es mir. Ich lebe nun lange genug bei den Elben, um ein geschärftes Gehör zu besitzen. Das ist jedoch nicht das Einzige, das ich von ihnen gelernt habe. Ihre fantastische Heilkunst erlernte und erlerne ich noch immer so gut es geht. Nur eines können sie mich nicht lehren und das ist der Umgang mit Waffen. Wie oft habe ich schon versucht, mit Pfeil und Bogen zu schießen oder mit einer Klinge zu kämpfen. Nichts davon will mir gelingen. Vielleicht liegt es einfach an fehlendem Talent, vielleicht auch an dem seltsamen Kribbeln, das ich verspüre, sobald ich eine Waffe berühre. Es mag eigenartig klingen, aber so ist es. Wohlweislich bin ich nicht völlig schutzlos, wenn ich Bruchtal verlasse. Ein kurzer Dolch ist mein ständiger Begleiter, wenn ich den Schutz der Elbenstadt verlasse. Doch würde mich ein erfahrener Gegner wirklich angreifen, so wäre ich mehr oder weniger ausgeliefert. Dafür macht mir das Reiten eine Menge Spaß und bietet eine wundervolle Abwechslung. Ich liebe den Wind, der mir durch die Haare zaust und die Landschaft, die an mir vorbeifliegt. Auf dem Rücken meines Pferdes habe ich das Gefühl von Freiheit. Ich bin auch hier frei und kann tun und lassen, was ich möchte, dennoch herrscht stets eine gewisse Beklommenheit.
Ich schüttle den Kopf und widme mich wieder meiner Arbeit. Erst, als ich den Verband angelegt habe, bemerke ich die andere anwesende Person. Unmerklich zucke ich zusammen, als sich unsere Blicke begegnen. Er lächelt leicht und nickt mir zu. Ich lächle zurück, sage jedoch nichts. So ist es zwischen uns, seit wir von Lórien zurückkehrten. Es ist erst einige Monate her. Arwen, Estel und ich reisten von den wunderschönen Wäldern des Elbenreichs zurück nach Imladris, um unser Wiedersehen zu feiern. Estel, so heißt er jetzt nicht mehr. Jetzt trägt er viele Namen. Unzählige. Aragorn nennen ihn jene, welche ihn gut kennen. Streicher nennen ihn andere. Dúnadan nennt ihn Bilbo Beutlin, ein alter Hobbit, der seit einiger Zeit hier wohnt. Dúnadan bedeutet Westmensch. So werden die Menschen aus Númenor genannt, die die Königreiche Arnor und Gondor gründeten. Nachdem Arnor zerfiel, zogen sich die dort lebenden Dúnedain in die Wildnis zurück, obwohl die königliche Blutlinie bestehen blieb. Als Waldläufer fristeten sie ihr Dasein. Die Graue Schar nannte man sie. Währenddessen versiegte in Gondor die königliche Blutlinie und Truchsesse regierten von nun an. Ich kenne all diese Geschichte, weil Aragorn einer der letzten Dúnedain ist. Er ist Arathorns Sohn und somit Isildurs Erbe. Nur wenige wissen, dass er lebt und das ist auch gut so. Ich mustere ihn kurz und stehe wortlos auf. Ich öffne die Tür und wäre beinahe mit einer weiteren Person zusammengestoßen. Gandalfs Augen blitzen mir entgegen und der alte Zauberer lächelt.
» Lucea «, begrüßt er mich leise und mit einem besorgen Blick auf Frodo fragt er,
» Wie geht es ihm? «.
» Er müsste bald aufwachen «, sage ich knapp, neige den Kopf und schlüpfe an Gandalf vorbei aus der Tür.
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