Endlose Müdigkeit
~Lucea~
Nachdem mich Gríma Schlangenzunge gewürgt hat und mich töten wollte, sitze ich benommen auf dem kalten Steinboden des Orthanc. Die beiden Toten vor mir blende ich einfach aus. Mir scheint, als wäre alle Kraft aus meinen Gliedern gewichen. Den Hunger und Durst spüre ich schon gar nicht mehr. Ich lehne mich vorsichtig an die Säule in meinem Rücken und schlinge meine dünnen Arme um meinen Oberkörper. Wenn ich wollte, könnte ich jede einzelne Rippe zählen. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Käfig eingesperrt war. Mein Zeitgefühl ging bereits in der dunklen Zelle tief unten im Kerker verloren. Nicht einmal die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster in den Raum fielen, konnten mir helfen, mich zu orientieren. Mir ist schummrig vor Augen und ich nehme meine Umgebung nur indirekt wahr. Ich höre Stimmen von unten, dann einen Ruf. Eine mir nur allzu vertraute Stimme, die meinen Namen ruft. Ich möchte mich bewegen, doch es gelingt mir nicht. Ich kann nur dort sitzen bleiben und die Augen schließen. Die Kälte des massiven Fels scheint meinen Körper nach und nach vollständig in Besitz zu nehmen. Wie kleine Nadelstiche breitet sie sich in mir aus, kriecht über meine Haut bis hinein in meine Knochen. Es scheint mir fast, als würde der Tod mit seinen Armen nach mir greifen. Es fühlt sich an, als würde ich ganz langsam in Wasser versinken. Auf den Grund, wo alles ganz still und ruhig ist, wo die kantigen Steine geschliffen werden und die Zeit stehen zu bleiben scheint. Das Gefühl ist nicht unangenehm. Vielmehr erlöst es mich von dem quälenden Fieber und der endlosen Müdigkeit. In diesem Moment ist mir der Tod ein nur allzu willkommener Freund, der jeden einmal an der Hand nehmen und wegführen wird. Fort, an einen anderen Ort, den Illúvatar für die gegangenen Seelen bestimmt hat.
» Lucea?! «, da ist die Stimme wieder und reißt mich zurück zum Licht, zurück zu der Hitze meines Körpers und zugleich zu der eisigen Kälte, aus dem Schlaf zurück zum Leben. Ich spüre zwei Hände an meinen Wangen. Angenehm warme Hände. Langsam öffne ich meine Augen und sehe direkt in zwei graue, die mich an die Farbe eines herannahenden Sturm erinnern. Wie oft habe ich dieses Grau schon gesehen! Ich erinnere mich zurück. Vor vielen Jahren im Wald traf ich Aragorn das erste Mal. Damals wurde er noch Estel genannt, Estel für Hoffnung.
» Lucea, du darfst nicht einschlafen, hörst du? «, sagt die Stimme nun und reißt mich erneut aus meinen Gedanken. Eine Hand löst sich von meiner Wange und legt sich auf meine Stirn.
» Du hast Fieber! «, wird nun festgestellt. Mein Gegenüber fängt meinen Blick ein, doch lange kann ich meine Lieder nicht offen halten. Sie sind so schwer und fallen wie von selbst zu. Ich höre ein Klackern, dann schiebt sich ein Arm zwischen die Säule und meinen Rücken, ein anderer unter meine Knie. Kurzerhand werde ich hochgehoben. Ich fühle jeden Schritt, den mein Träger macht. Das leichte Auf und Ab verstärkt meine Müdigkeit zusehends. Ich würde tatsächlich einschlafen, wenn die Stimme nicht immer wieder etwas murmeln würde, ständig meinen Namen aussprechen würde. Mein Kopf lehnt an der Schulter meines Trägers, meine Augenlieder flattern. Ich darf nicht einschlafen, hat er gesagt, ich muss wach bleiben. Weit entfernt, irgendwo in meinem Kopf verstehe ich den Grund dafür, verstehe, was hier passiert, was passiert ist. Doch in diesem Zustand realisiere ich es nicht, das Fieber lässt mich nicht klar denken oder es lässt mich zu klar denken. Jeder Gedanke ist schwer und wogt über meinen Kopf hinweg wie eine große Welle, die an die Klippen brandet. Jede dieser Wellen löst viele neue aus und sie brausen und toben hinter meiner Stirn. Es gibt Augenblicke, da würde ich am liebsten schreien. So laut wie möglich. Doch meine trockene Kehle lässt das nicht zu. Nur ein heiseres Raunen verlässt meine aufgesprungenen Lippen.
Der Besitzer der grauen Augen, der warmen Hände und der bekannten Stimme versucht, vorsichtig aufzutreten, so wenig Erschütterung wie möglich zu erzeugen. Meine Lieder flattern noch immer. Jedes Mal, wenn ich für eine Sekunde meine Umgebung sehe, ist auch er da. Sein Blick ruht auf mir und ich ruhe in seinen Armen. Manchmal bewegen sich seine Lippen, doch ich höre nicht, was sie preisgeben. Ich nehme es nicht wahr. Ich sehe ein Bild, fühle das sanfte Schaukeln seiner Schritte, höre fast das Tosen meiner Gedanken, das alles andere übertönt. Müdigkeit, Kälte und Hitze stürzen gleichzeitig über mir zusammen. Als würde ich mich auf dem Meer befinden, in einem heftigen Sturm. Der Wind wirft ganze Wellentäler auf, lässt mich hineinsausen und sie schließlich über mir zusammenbrechen. Dann gibt es Momente, in denen ich wieder klar sehen, klar denken kann. In jenen Momenten möchte ich mir an den Hals fassen, wissen, ob das Medaillon noch da ist. Doch diese Momente dauern nur einen Augenblick, einen Wimpernschlag an. In dieser Zeit könnte ich die Hand nicht geben, wenn es überhaupt möglich wäre. Meine Glieder sind so schwer wie meine Augenlieder und meine Gedanken. Würde mein Träger meine Hand nicht festhalten, würde sie einfach haltlos herumbaumeln.
Irgendwann verändert sich das Bild meiner Umgebung. Es ist nicht mehr die endlos lange Wendeltreppe des pechschwarzen, kalten Turms Sarumans, sondern eine karge Landschaft. Einige Pferde stehen in dem knietiefen Wasser, Reiter sitzen auf ihren Rücken. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen. Es ist, als lägen sie im Schatten. Hinter den Reitern zeichnet sich ein grüner Wald ab und dahinter Berge. Der Horizont ist so weit weg und doch so nah. Beinahe würde ein Lächeln über mein Gesicht huschen, wären meine Muskeln dafür nicht zu betäubt. Mein Träger hebt mich mühelos auf eines der Tiere hinauf. Es ist pechschwarz wie der Fels. Jedoch scheint mir dieses Schwarz anders, nicht derlei trostlos. Er schwingt sich hinter mir in den Sattel und schlingt seine starken Arme um mich. Die Pferde wirbeln herum und laufen im Galopp los. Der Wind bläst mir entgegen, kühlt mein erhitztes Gesicht und streicht meine Haare nach hinten. Es scheint fast, als würde er durch mich hindurch wehen. Das Rauschen in meinen Ohren verebbt langsam, mein Kopf wird leer. Endlich schließen sich meine Augen und alles um mich herum wird schwarz.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einem schneeweißen Bett. Sonnenstrahlen fallen durch ein Fenster herein und wärmen mein Gesicht. Ich gestatte mir, diesen Zustand noch eine Weile zu genießen. Schließlich öffne ich jedoch meine Augen, blinzle ein paar Mal und sehe mich in dem Zimmer um. Schräg gegenüber von meinem Bett befindet sich eine Tür. Links daneben steht ein hoher, geschnitzter Schrank. Auf der anderen Seite hängt ein mannshoher Spiegel an der Wand. Rechts befindet sich ein großes Fester und darunter steht ein Tisch. Darauf wurde eine Schüssel mit Wasser hergerichtet. Ein Handtuch liegt daneben. Bei dem Gedanken an frisches Wasser macht mein Herz einen Satz. Ich sehe an mir herunter und halte augenblicklich Inne. Meine Haut ist so sauber wie eh und je und ich trage ein weißes Leinenhemd, das nach Lilien duftet. Meine Haare sind nicht mehr zottig und strähnig, sondern seidig glatt gekämmt. Sie fallen mir in den üblichen Ringeln über meine Schultern. Meine Lippen fühlen sich besser an und sind nicht mehr angeschwollen. Auf dem Stuhl vor dem Tisch entdecke ich saubere Kleidung. Ich schlage die Decke zurück und schwinge die Füße über die Bettkante. Schnell ziehe ich mich an. Es ist ein dunkelgrünes Kleid, das mit schwarzgoldenen Fäden eingesäumt ist. Ich wasche mein Gesicht und kämme meine Haare, die ich offen lasse. So trete ich vor den Spiegel und mit einem Schlag fällt mir alles wieder ein. Durch die Gefangenschaft im Orthanc habe ich sehr viel Gewicht verloren. Ich war schon immer ziemlich schlank, aber jetzt bin ich regelrecht dürr. Ich erinnere mich an mein Spiegelbild in dem Metallteller. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich nicht mehr ganz so schlecht aus. Meine Wangen sind nicht mehr eingefallen und meine Augen nicht mehr gerötet oder mit dunklen Ringen gezeichnet. Nein, nur meine Arme, Beine und Taille sind sehr dünn.
Bevor ich meine Kammer verlasse, hänge ich meinen Dolch an meine Seite. Vorsichtshalber, schließlich weiß ich nicht, wo ich bin und wo sich die anderen aufhalten. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Aragorn wie er mich trägt. Seine sturmgrauen Augen, die voll Besorgnis auf mich herunter blickten. Ein feines Kribbeln zieht über meine Wangen. Ungeachtet dessen, öffne ich die Tür und trete auf einen spärlich beleuchteten Gang hinaus. Links erkenne ich ein Fenster, also wähle ich diese Richtung. Irgendwann gelange ich zu einer weiteren Tür, die von einem auf den Hinterhufen stehenden Pferd geziert wird. Irgendwo habe ich dieses Symbol bereits einmal gesehen, jedoch kann ich mich nicht daran erinnern, wo. So leise wie möglich öffne ich die Tür und betrete den Raum dahinter. Vor mir erheben sich einige Säulen. An dem einen Ende des Saales befindet sich eine hohe Pforte, an dem anderen eine Art Thron, zu dem drei flache Treppen hinaufführen. In jeder Ecke des Raumes steht ein Wachposten in Rüstung mit Speer, Schild und Helm. An den Wänden hängen überall prächtige Wandteppiche, Bilder und Fahnen. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Feuerstelle. Rundherum wurden Tische und Bänke aufgestellt. Schritt für Schritt bewege ich mich auf die Säulen zu, um bessere Sicht zu erlangen. Glücklicherweise besitzen meine Schuhe keine Absätze und wurden aus Leder gefertigt. Auf diese Weise, machen sie keine Geräusche beim Gehen. Zwischen der zweiten und dritten Säule vom Thron aus gesehen, halte ich an. Auf der anderen Seite der Halle befindet sich eine weitere Reihe von Säulen. Nicht aus Stein, wie in Bruchtal, sondern aus Holz. Dieser Ort wirkt nicht kalt und abweisend, wie andere Thronsäle und Königshallen. Vielmehr fühle ich mich hier wohl. An einem der Tische sitzen Laladriel, Legolas, Gimli, Aragorn, Gandalf, Merry, Pippin und drei weitere – mir unbekannte – Männer. Moment...Gandalf? Ich schließe einen Moment die Augen und öffne sie wieder. Es ist tatsächlich der Zauberer! Erstaunt starre ich ihn an. Eine junge Frau eilt gerade auf den Tisch zu. Sie ist groß und schlank, trägt ein hübsches Kleid und besitzt lange, hellblonde Haare. Ihre blauen Augen scheinen mich nicht zu bemerken.
» Die Botschafter sind zurückgekehrt, mein Herr «, berichtet sie den Männern. Einer der älteren erhebt sich.
» Ich danke dir, Éowyn «, sagt er.
» Wisst Ihr, wie es ihr geht? «, fragt Aragorn die junge Frau namens Éowyn. Sie lächelt leicht und ihre Augen blitzen, als sie hochsieht und mich entdeckt.
» Fragt sie doch selbst, mein Herr «, meint sie und ihr Lächeln wird noch etwas wärmer. Mit einer Handbewegung deutet sich in meine Richtung und augenblicklich wenden sich alle Köpfe zu mir. Verlegen senke ich den Blick und lächle scheu. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aragorn nimmt mir diese Entscheidung jedoch ab. Der Erbe Isildurs springt auf und rennt beinahe auf mich zu. Wenige Wimpernschläge später schließen sich seine Arme um mich und drücken mich fest an ihn.
» Warum bist du aufgestanden? Ist alles in Ordnung? «, fragt er im Flüsterton.
» Mir geht es gut «, murmle ich an seiner Schulter und genieße die Umarmung einfach.
» Du weißt nicht, welche Sorgen ich mir gemacht habe «, erwidert er leise und haucht mir einen Kuss aufs Haar. Dann gibt er mich wieder frei und nacheinander begrüßen mich auch die anderen Gefährten. Legolas und Gimli natürlich eher zurückhaltend, aber Laladriel umarmt mich und auch Gandalf schließt mich in seine Arme. Ich sehe ihn mit schiefgelegtem Kopf lange an. Er hat kein graues Haar mehr, sondern schneeweißes. Auch sein Gewand ist weiß und sein Stab. Der Zauberer lacht und macht eine wegwerfende Handbewegung.
» Das erzähle ich dir später «, meint er nur, wendet sich um und stellt mir die anderen Anwesenden vor.
» Das ist König Théoden von Rohan «, er deutet auf den älteren Mann, der sich vorhin bei Éowyn bedankte. Rohan, natürlich! Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Die Pferdemenschen haben ein solches Tier auf ihren Fahnen.
» Éomer, dritter Marshall der Mark und Neffe des Königs «, fährt Gandalf fort und deutet auf einen jungen Mann mit breiten Schultern und ebenso blondem Haar wie Éowyn.
» Und das ist Gamling, Hauptmann der Wachen «, erklärt der Zauberer und deutet auf den zweiten älteren Mann. Ich nicke jedem höflich zu und sehe zu der jungen Frau. Sie lächelt noch immer.
» Oh, natürlich, das ist Éowyn, Nichte des Königs und Schildmaid von Rohan «, setzt Gandalf hinzu und hüstelt etwas. Anschließend essen wir gemeinsam zu Abend und daraufhin werde ich zurück ins Bett gescheucht.
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