Zwölf
But it's you who dies
Surprise, surprise
~ „Babydoll Gone Wrong" by Skye Sweetnam ~
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Als Ginny aufwachte, war ihr für eine Sekunde, als hätte ein erschreckend langer Albtraum geendet. Doch dann fiel ihr Blick auf den Drohbrief auf ihrem Nachttisch. Am gestrigen Abend hatte sie ihn mehrfach gelesen; hatte versucht, an der Wortwahl zu erkennen, wer sich hinter dem Kürzel verbarg... doch keine Chance. Immer wieder stieß sie auf das Hindernis, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass irgendwer so verkommen sein konnte.
Sie wollte liegen bleiben. Wenn sie ganz stillhielt, konnte sie sich vielleicht einbilden, alles sei gut. Aber dann erwachte ihr Kampfgeist. Energisch warf sie die Decke beiseite. Sie wollte ihre Kinder wiedersehen. Die beiden hatten lange genug ohne ihre Mutter auskommen müssen.
Schnell hatte sie sich angezogen und gefrühstückt. Doch als sie den Hausflur betrat, erstarrte sie. Von innen war in die Tür ein Smiley geritzt worden. Er hatte einen gezackten Mund und durchgestrichene Augen. Trotz der rohen Gewalt, mit der jede Linie ins Holz eingegraben worden war, war außerordentlich sorgfältig gearbeitet worden.
Ginny führte ein weiteres Mal den Personen-Aufspürzauber durch, doch wieder nichts. D. musste ihr einen Besuch abgestattet haben, als sie geschlafen hatte. Die Vorstellung schüttelte sie.
Ein weiteres Mal betrachtete sie die nicht vorhandenen Augen des Smileys. Worte, die nicht ihre eigenen waren, kamen ihr in den Sinn. „Du bist so unglaublich blind. Ich werde dir die Augen auskratzen. Einen Unterschied macht das ohnehin nicht mehr...", murmelte sie und verzog das Gesicht. Wer bei Merlin hatte das gesagt? Das war ja fürchterlich.
Mit einem simplen „Reparo" brachte sie die Tür in Ordnung.
~*~
In der Eingangshalle des Ministeriums hielt Ginny unwillkürlich Ausschau nach Draco. Im selben Moment schalt sie sich. Sie war schuld an seiner Misere, also hatte sie nicht das Recht, ihn sich zur Unterstützung überhaupt herbeizuwünschen.
Durch diesen Tag musste sie es alleine schaffen. Keine ermunternden Worte von Draco, kein kurzer Schlagabtausch in der Mittagspause. Warum hatte er ihr nicht erzählt, was los war? Was könnte ihn veranlasst haben zu glauben, dass es besser für sie sei, wenn sie sich niemals wieder an ihr Leben vor dem Gedächtniszauber erinnerte?
Und weil ihre Gedanken sich immerzu im Kreise drehten und sie doch nicht weiterkam, fokussierte sie sich auf ihr nächstes Ziel. Punkt eins auf ihrer Checkliste für heute war das längst überfällige Gespräch mit Twist. Der schuldete ihr noch eine Erklärung. Zudem war er ihre einzige direkte Verbindung zur Organisation, die ihr momentan zur Verfügung stand.
Kaum dass sie Twist in der Aurorenzentrale erblickte, kochte Wut in ihr hoch. Mühsam beherrschte sie sich und winkte ihn zu sich heran.
„Mrs. Potter", begrüßte er sie mit einem Lächeln, das sich um Längen von dem unterschied, das er bislang zur Schau getragen hatte. Dieses Mal stand dahinter etwas, was sie nicht ganz zuordnen konnte. Es war kein Hass. Und dennoch hatte er in seinen Augen dieses Leuchten, das ihm etwas von einem tollwütigen Tier verlieh, das sich zutraulich zeigte, bevor es unvermittelt zuschnappte.
„Twist", erwiderte sie den Gruß knapp. „Ich will mich kurzfassen. Ein Gespräch mit der Leiterin eurer dubiosen Organisation."
„Unserer... dubiosen Organisation", korrigierte er sie ironisch. „Sie hängen da genauso mit drin wie wir. Dessen sind Sie sich doch hoffentlich bewusst?"
Ginnys Fingernägel gruben sich in ihre Handinnenseiten. Sie wollte ihn schlagen. Dafür, dass er sie von Anfang an belogen hatte. Für sein ignorantes Grinsen. Für die Morde, die er möglicherweise verübt hatte. Aber sie durfte keine Grenze überschreiten, die Warnung des gestrigen Tages stand ihr noch lebhaft vor Augen. Im Grunde genommen durfte sie nicht einmal mit Twist darüber reden. Doch sie brauchte Antworten. „Ja. Deshalb wüsste ich gerne, wer an der Spitze der Organisation steht. Ich will wissen, wo Mr. Malfoy ist. Und was ihr von mir wollt. Also, lassen Sie mich die Leiterin treffen."
Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, nein... Das ist nicht möglich. Sie sind noch nicht soweit."
Da verlor Ginny beinahe die Geduld. „Wie?", zischte sie. „Was soll das heißen? Ich bin noch nicht soweit? Ich bin so weit, dass ich Ihnen gerne den Kopf abreißen würde!" Im selben Moment bereute sie ihre ausfallenden Worte. „Entschuldigen Sie", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Warum darf ich die Leiterin nicht treffen? Ich erinnere mich an genug!"
Twist legte den Kopf schief. „Und dennoch wissen Sie nicht, wer sie ist. Bevor Ihnen das nicht einfällt, wird sich nichts an der augenblicklichen Situation ändern."
„Und was, wenn es mir nie einfällt?", gab Ginny zu bedenken. Immerhin war der Erinnerungszauber schon eine Weile her, und noch immer hatte sie keine genauere Ahnung vom ganzen Geschehen.
„Dann wissen Sie höchstwahrscheinlich auch nicht genug, um für uns weiterhin von Nutzen zu sein", sagte Twist mit leisem Bedauern. „In dem Fall könnten Sie sich entweder mit einem Unbrechbaren Schwur verpflichten, nichts auszuplaudern, oder wir müssen Sie leider loswerden."
Ginnys Puls stieg in dieser Sekunde massiv. Und zwar nicht aus Zorn, sondern aus Angst. Er hatte Recht. Sie wusste zu viel. Sollte die Organisation befürchten müssen, dass Ginny ihre Geheimnisse an die Öffentlichkeit trug, war sie nirgendwo mehr sicher. Jeder könnte ein Attentäter sein. Allein im Aurorenbüro herrschte genug Furcht vor der Leiterin, dass ihre Kollegen ihr nicht helfen, oder noch schlimmer, sie eigenhändig töten würden, um ihre eigenen Familien zu schützen. Ginny erkannte, dass sie sich entweder dem Willen dieser schrecklichen Menschen aus der Organisation fügen musste, oder sie und ihre Lieben würden dafür bitter bezahlen müssen.
„Das wird hoffentlich nicht nötig sein", sagte sie mit zitternder Stimme.
„Ebenso, Mrs. Potter, ebenso", erwiderte Twist, nickte ihr knapp zu und kehrte an seinen Platz zurück.
~*~
Sich nicht sonderlich wohlfühlend, teilte Ginny die nächste Einsatzgruppe ein. Immer wieder warf sie Seitenblicke zu Padma, die nach wie vor geschont wurde. Die Inderin hatte wieder einen Glamour-Zauber angewandt, um den Anblick zu kaschieren, aber alle wussten, was für eine Verletzung sich darunter verbarg. Als gerade mal keine neuen Memos durch die Tür hereingeschwebt kamen, ging Ginny zu ihr herüber. „Geht es inzwischen?"
Padma sah gequält zu ihr auf, vermied aber direkten Augenkontakt. „Ja, danke der Nachfrage." Plötzlich verzog sie das Gesicht und schloss flatternd die Augen. Offensichtlich war durch eine unbewusste Bewegung ein Nerv provoziert worden.
Völlig unerwartet wurde Ginny einmal mehr in die Vergangenheit versetzt. Auch hier befand Padma vor ihr. Nur war ihr Gesicht nicht schmerzverzerrt, sondern ausdruckslos. Ausschließlich die weit aufgerissenen Augen verrieten die Angst der anderen Frau. Twist hatte Padma in die Knie gezwungen und hielt ihre Arme hinter ihrem Rücken zusammen.
„Mach schon", wies eine ungeduldige Stimme hinter ihr sie an.
Ginnys damaliges Selbst zuckte leicht zusammen. In einer entschuldigenden Geste presste sie die Lippen aufeinander. „Es tut mir so leid", formte sie stumm.
Padma versuchte, rückwärts auszuweichen, doch Twist war unerbittlich. „Bitte nicht", wimmerte sie.
Unglaublich schnell hatte Ginny die Hexe aus Twists Griff gewunden, deren Hand gepackt und den ihren Zauberstab darauf gerichtet. Besser sie zog es schnell durch. „Deformare." Mit Grauen sah sie zu, wie sich Padmas Hand unter Übelkeit erregendem Knacken buchstäblich kräuselte.
Ginny wurde unvermittelt in die Gegenwart zurück katapultiert. Sie schnappte nach Luft und griff nach etwas, auf dem sie sich abstützen konnte. Das war zufälligerweise Padmas Stuhl. Diese rutschte ein wenig von ihr weg, und diesmal wusste Ginny auch weshalb. Sie fühlte sich so schlecht, dass sie sich nicht einmal imstande sah, sich zu entschuldigen. Was hatte ihr altes Ich alles getan, um der Leiterin ihre Loyalität vorzuspielen?
Auch Padma schien inzwischen gemerkt zu haben, dass sich etwas geändert hatte. Doch sie nickte nur verständnisvoll. „Es ist alles in Ordnung, Sie mussten es tun. Wir haben schon darüber gesprochen. Das wissen Sie nur nicht mehr."
Überrascht klappte Ginny den Mund auf und wieder zu. Die Auroren, insbesondere Padma, waren deutlich besser über die vergangenen Wochen, Monate oder sogar Jahre informiert als sie selbst momentan. Ginny wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihren Mitarbeitern Unrecht getan hatte. Sie waren alle in der gleichen bedrohlichen Situation und taten nur das, was nötig war, um sich und ihre Familie und Freunde zu schützen. Sie schämte sich, als sie daran dachte, wie sie sich aufgeführt hatte, als sie neu eingestellt worden war. Die Auroren hatten lange genug eine Version von ihr ertragen, die vor Ignoranz und Egozentrik strotzte.
„Mrs. Potter." Jemand berührte sie an der Schulter, woraufhin sie sich sofort der Berührung entzog. Es war Twist. Diese Tatsache allein drehte ihr schon den Magen um, doch dann teilte ihr in neutralem Ton mit: „Die Chefin hat ihre Meinung geändert. Sie wird Sie heute Abend um sieben aufsuchen. Viel Glück." Ginny wusste, dass sie das brauchen würde. Es ging um alles.
~*~
Am Ende des Arbeitstages brachte Ginny die Protokolle zu Hermine, damit diese sie anerkennen konnte, was grundsätzlich nicht mehr hieß, als dass sie unterschrieb und ihnen einen Stempel verpasste, bevor sie ins Archiv wanderten. Doch nicht nur deshalb hatte Ginny das nicht – so wie in den letzten Tagen – von Emely Fraser erledigen lassen.
Sie hatte beschlossen, dass Hermine von allem erfahren sollte. Sie wollte ihr nicht länger die ganzen Details vorenthalten. Das hatte Hermine nicht verdient, vor allem, weil es sie wegen Rose ebenfalls betraf. Die Idee war, dass sie gemeinsam Harry im St. Mungo's besuchen würden. Vielleicht kam ihrer besten Freundin ja noch eine Idee, wie man das Tropf-Problem lösen konnte.
Dieses Mal war Hermine sogar da. Sie tatsächlich in ihrem Büro anzutreffen, war in letzter Zeit eine echte Seltenheit geworden. Aber was erwartete Ginny eigentlich? Als Zaubereiministerin hatte man viel zu tun. „Hallo, Ginny!", rief Hermine erfreut, als sie die Jüngere erblickte.
Ginny hob verzagt die freie Hand. „Hey, Mine." Sie legte die Protokolle ein wenig ungelenk auf dem Schreibtisch der Zaubereiministerin ab. „Hast du heute Nachmittag Zeit?"
Hermine strahlte sie an. „Sicher. Wir haben schon eine ganze Weile nichts mehr gemeinsam unternommen." Sie begann, ihre Tasche eilig zusammenzupacken. Dabei beförderte sie solche Massen an Papieren hinein, dass der Erweiterungszauber unübersehbar wurde. Als sie Ginnys fragenden Blick bemerkte, erklärte sie schnell: „Bürokratie wegen des neuen Zauberergamots."
„Ach so", machte Ginny, die das beinahe schon wieder in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses geschoben hatte. „Jedenfalls muss ich dich heute auf den neuesten Stand bringen. Viel Zeit habe ich leider auch nicht. Apparieren kann ich allerdings wieder, also muss ich um spätestens zehn vor sieben nach Hause."
Hermine nickte. „Kein Problem. Was hast du für uns geplant?"
Die jüngere Hexe verzog den Mund leicht. „Der Anlass ist nicht schön, und ich wollte ohnehin zu Harry..."
„In Ordnung. Jetzt sofort?" Hermine bewies selten gesehene Spontanität.
Binnen weniger Minuten hatten die beiden das Ministerium verlassen. Drinnen hatten sie kein weiteres Wort gewechselt. Ginny wusste, dass sie sich auch so schon auf sehr dünnem Eis bewegte. Da musste sie nicht auch noch in unmittelbarer Nähe zu D. hineinstechen. Sie gingen den Weg zum St. Mungo's zu Fuß. Währenddessen sprachen sie über Belanglosigkeiten. Man wusste schließlich nie, wer einem zuhörte.
An der Rezeption wurden sie durchgewunken, immerhin kannte man sie beide. Und es war ohnehin nicht möglich, in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen festzustellen, ob jemand Vielsafttrank verwendete oder nicht.
Sie betraten Harrys Zimmer. Er lag blass und immer noch bewusstlos im Krankenbett, das viel zu groß für ihn wirkte. Ginny nahm sich einen Stuhl vom Stapel neben der Tür und stellte ihn an Harrys Bettseite. Sie konnte nicht anders, als dem Tropf einen skeptischen Blick zuzuwerfen.
Hermine setzte sich neben sie und nahm Harrys Hand in ihre. Die Brünette musterte ihn besorgt. „Er wird wieder", sagte sie, doch ihr Blick sprach Bände. Wenn Harry eines nicht war, dann gesund, und das wussten sie beide.
Ginny fühlte sich seltsam fehl am Platz. Es war, als wären sie wieder in Schulzeiten, als Ron sie ausgeschlossen hatte, um alleine Zeit mit seinen Freunden verbringen zu können. Doch im selben Moment schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Hermine schloss sie nicht aus, Ron war nicht einmal hier und Harry lag im Koma. Nichts war wie damals. Apropos... „Mine, ich muss dir da was erzählen." Hermine löste ihre Hand aus Harrys, und Ginny merkte, dass sie das seltsam erleichterte. Aber gerade gab es Wichtigeres als dieses merkwürdige Gefühl. Ob es nun Eifersucht war oder nicht.
Und Ginny legte los. Sie ließ kein Detail aus, weder Padmas zertrümmerte Hand noch den Horror-Smiley in der Tür heute Morgen. Auch das Missverständnis mit Draco erwähnte sie. Hermine hörte still zu, nickte ab und zu. Es fühlte sich gut an, sich alles von der Seele zu reden. Anderthalb Stunden später endete Ginny mit: „... und das war's bisher. Heute Abend soll ich die Leiterin treffen und, ehrlich gesagt, war ich noch nie so nervös. Weißt du, es ist eine solche Zwickmühle, in der ich stecke. Ein falsches Wort und mir fliegt alles um die Ohren!" Verzweifelt warf Ginny die Hände in die Luft.
Hermine atmete tief durch, als hätte sie die ganze Zeit die Luft angehalten. „Das ist schlimm. Aber bist du dir sicher, dass du alles richtig verstanden hast? Vielleicht ist alles ja auch ganz anders als wir denken."
„Ich glaube nicht", schnaubte Ginny. „D. unterstellt mir, ich wäre zu blind, um seinen oder ihren Plan als das zu erkennen, was er tatsächlich ist – aber ganz im Ernst, Fanatismus vom Feinsten ist das."
Hermines Hand zuckte.
Ginny runzelte die Stirn. „Alles gut?"
„Ja, nur ein Krampf", sagte Hermine und massierte ihre Hand. Sie zeigte eine Blase an ihrem Handballen. „Du hast keine Ahnung, wie oft ich heute schon meinen eigenen Namen schreiben musste." Sie lachte, aber es klang matt.
Schon wollte Ginny mitleidig lächeln, da stutzte sie. In Hermines Handfläche konnte sie einen schwarzen Strich sehen. „Hast du dir einen Splitter zugezogen?", fragte sie.
„Oh... habe ich noch gar nicht bemerkt", antwortete Hermine verdutzt und versuchte hastig, den Splitter aus ihrer Hand zu entfernen.
Dies verlief jedoch nicht sonderlich erfolgreich, und so bot Ginny ihre Unterstützung an: „Soll ich dir helfen?"
Hermine lächelte verkrampft. „Nein, passt schon."
Was allerdings nicht passte, war die Blase an Hermines anderer Hand. Hermine mochte sehr schlau sein, aber sie schrieb Ginnys Wissens nach nicht mit beiden Händen. Die Rothaarige fühlte sich, als müsse sie sich übergeben. Panisch sah sie zur Wanduhr über Harrys Bett. Halb sieben. Vielleicht konnte sie sagen, dass sie einen Termin in der Winkelgasse vergessen hatte-
„Oh nein." Hermines Augen schimmerten seltsam. Das erste Mal fiel Ginny auf, dass sie dunkler waren als früher. „Wie unhöflich." Die Zaubereiministerin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah dann mit einem kindlichen Grinsen zu ihr. Nie hatte Ginny etwas so Furchteinflößendes gesehen. „Schätze, ich bin zu früh."
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