Neun
I don't like your little games
Don't like your tilted stage
~ "Look What You Made Me Do" by Taylor Swift ~
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Die Kälte hatte sich den Wänden des Schlafzimmers im Haus der Potters festgesetzt, als Ginny aufwachte. Bibbernd zog sie die Decke enger um sich, in der Hoffnung sich so wärmen zu können, aber vergebens. Auf einen Schlag war sie hellwach. Sie konnte sich nicht erinnern, das Fenster geöffnet zu haben. Verstört schälte sie sich aus dem Laken und schloss frierend das Fenster. War hier jemand gewesen, der nicht hier sein sollte? War die Person vielleicht sogar noch hier? Sie hielt die Luft an und lauschte. Doch das Haus war still. Einen Moment lang erschrak sie, ehe sie sich erinnerte, dass sie ihre Kinder ohne weitere Erklärung an ihre Eltern erneut im Fuchsbau einquartiert hatte, da dies für Albus und James der sicherste Ort war, an dem sie sein konnten. Solange Ginny blieb, wo sie war, würde der Stalker hoffentlich weiter an ihren Fersen haften und ihre Kinder in Ruhe lassen.
Sie brachte nichts herunter, und so ging sie, ohne etwas zu sich zu nehmen, ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Als sie fertig war, blickte sie in den Spiegel. Sie kam nicht umhin, an den Albtraum kürzlich zu denken, in dem ihr im Schlaf die Augen herausgestochen worden waren. Hatte ihr Unterbewusstsein ihr etwas sagen wollen? Hatte sie nur nicht begriffen, was? Ratlos starrte sie in ihr eigenes blasses Gesicht. Sie sah ausgelaugt aus, müde und krank. Die stete Angst, die ihr im Nacken saß, zerstörte sie von innen heraus.
Ich muss herausfinden, wer für diesen ganzen Horror verantwortlich ist, schoss es ihr durch den Kopf. Und dann wird es mir besser gehen. Dann werde ich ruhiger schlafen. Weniger ängstlich sein.
Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, Ströme von Blut ihre Wangen aus den leeren Augenhöhlen herunter rinnend. Von einer Sekunde auf die andere kam ihr die Galle hoch und dann fand sie sich auch schon spuckend über dem Waschbecken wieder. Es dauerte, bis der Würgereiz abgeklungen war. Sollte sie heute wirklich zu Arbeit gehen? Einen wunderbaren Moment lang erwog sie die Möglichkeit, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, zwang sich dann aber doch dazu, sich umzuziehen und sich fertig zu machen. Sie musste hingehen. Wer auch immer es war, der sie und Hermine bedrohte, würde nicht zögern, der kleinen Rose oder Ginny selbst etwas anzutun, wenn sie sich nicht dort aufhielt, wo sie herbestellt worden war, das war ihr bewusst.
~*~
Wenn sie schon im Ministerium sein musste, dann konnte sie ebenso gut an ihrer Recherche weiterarbeiten. Die Kartei hatte nichts Weiteres ergeben, also würde sie eben näher ans Geschehen rücken. Draco zu bespitzeln war nicht allzu schwer, denn Ron und George hatten erst kürzlich eine neue Version des Langziehohrs auf den Markt gebracht hatten, das nun zum Einsatz kam. Genau genommen war es durch die Änderungen, die ihre Brüder an dem alteingesessenen Produkt vorgenommen hatten, gar kein Langziehohr mehr. Man platzierte das Ohr einfach am gewünschten Ort und setzte sich anschließend einen fleischfarbenen Stecker ins eigene Ohr. So konnte man elegant und unauffällig überall mithören. Dementsprechend hatte sie Malfoys Abteilung in aller Frühe einen Besuch abgestattet. Das Öhrchen befand sich nun an der Unterseite von Dracos Schreibtisch, wo es mit einem Dauerklebefluch befestigt war, den Ginny so modifiziert hatte, dass es in einem geeigneten Moment in seine Tasche fallen würde.
Perfekt war das Ganze nicht, vor allem, weil sie es nicht geschafft hatte, das Weasleyprodukt mit einem Tarnzauber zu belegen. Das war wohl den neuen Auflagen zu verschulden, die der Scherzladen erhalten hatte. Ginny meinte sich zu erinnern, dass Ron sich einmal darüber aufgeregt hatte, dass die Erfindungen nicht mehr nachträglich bearbeitet werden konnten. Alles andere war jedoch mit der Zeit zu gefährlich geworden. Instant-Finsternispulver konnte in modifizierter Form dauerhaft blind machen und einige Nasch- und Schwänz-Leckereien entwickelten Toxine, sobald sie mit bestimmten Zaubern belegt wurden. Um rechtlichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, hatten sie also die neuen Auflagen umsetzen müssen, die es ihnen verboten, von Laien veränderbare Produkte zu verkaufen. Alles musste mit einem speziellen Schutzzauber belegt werden, der die meisten Nutzungsformen von Magie abwies.
Gerade war Ginny auf dem Rückweg von ihrem Abstecher zum Büro zur Ermittlung und Beschlagnahme Gefälschter Verteidigungszauber und Schutzgegenstände, als sie einen steten Luftzug bemerkte. Sie wandte den Kopf und erblickte eine Memo, die neben ihrem Kopf her schwebte. Sie klaubte sie aus der Luft. Als sie die zwei Zeilen las, stockte ihr der Atem.
Vergiss deinen Plan.
Grüße, D.
Was sollte diese Aufforderung? Gab es etwa etwas zu entdecken, was D. geheim halten wollte? Oder war das nur ein Hinweis darauf gewesen, dass sie ihre Zeit verschwendete? Wie hatte D. von ihren Unternehmungen erfahren? Und wieder dieses Kürzel. Ein Anfangsbuchstabe eines Vornamens? Oder vielleicht doch eines Nachnamens? Sie schüttelte den Kopf. Es passte immer noch alles auf Draco. Doch warum sollte er ihr schreiben, wenn sie ihn ja erst am Vortag verdächtigt hatte? Das wäre schlicht und ergreifend nichts anderes als dumm. Und dennoch...
Sie fühlte sich, als würde sie schlafwandeln, während sie den Rest des Weges zurücklegte. Wie war sie nur in diese absurde Lage geraten? Was hatte jemand, der Hermine erpresste, davon, dass Ginny im Ministerium arbeitete? Unter normalen Umständen hätte sie sich schließlich auch nur zu Hause aufgehalten!
Zurück an ihrem Schreibtisch, betastete sie das fleischige Gegenstück zum Lauscheohr, das sie sich in ihr eigenes rechtes Ohr gesteckt hatte. Saß es auch gut? Sie wollte keinen möglichen Hinweis verpassen, der Draco enttarnen könnte. Ihr Stalker schien sie zwar beobachtet zu haben, aber das Ohr musste sich noch am selben Platz befinden. Der Dauerklebefluch konnte nur von Ginny selbst gelöst werden, dafür hatte sie gesorgt. Auf keinen Fall würde sie sich, was das anging, nicht aufhalten lassen. Sie musste wissen, ob sie Draco trauen konnte oder ob er doch hinter alldem steckte.
Stocksteif saß sie an ihrem Platz und lauschte durch das Lauscheohr den Geräuschen aus dem Büro zur Ermittlung und Beschlagnahme Gefälschter Verteidigungszauber und Schutzgegenstände. Das Aurorenbüro öffnete eine halbe Stunde später, also konnte sie ruhig warten. Der Nachtdienst am Patrouillieren, und von dem ausgehend, was Emely Fraser ihr auf Nachfrage hin erzählt hatte, waren die Auroren dort sehr gründlich. Auf Besen getarnt über London zu fliegen schien ein beliebter Job zu sein. Apropos Besen: Ginny hatte gestern selbst eine Runde fliegen wollen, bevor die Sache mit dem Fast-Kuss dazwischen gekommen war, der dann in Anschuldigungen ihrerseits ausgeartet war. Wenn das hier vorüber war, würde sie wieder mit dem Fliegen anfangen, sagte sie sich. Sie hatte genug Zeit ausschließlich damit verbracht, den Haushalt zu führen. Doch erst einmal musste der Feind besiegt werden, der sich bisher noch bedeckt hielt.
Auf einmal hörte sie Dracos Stimme. Er schien gerade im Büro angekommen zu sein. „Guten Morgen, Belfrey." Tadellose Manieren, zweifellos. Also hatte er ihr das nicht nur vorgespielt. „Neues vom Boss?"
„Wir werden überwacht", flüsterte jemand kaum hörbar. Dennoch war Ginny sicher, den Wortlaut korrekt verstanden zu haben.
Draco seufzte. Auch er sprach nun leiser. „Ich weiß. Vielleicht hätte ich euch informieren sollen, aber wir sind schon länger auf der Beobachtungsliste."
Die Stimme wurde noch weiter gesenkt. Dieses Mal konnte Ginny nur raten, was dieser Belfrey gesagt hatte: „Wegen Ihrem Fehler?"
Metall klapperte gegen Leder. Draco musste seine Tasche abgestellt haben. „Ja. Tut mir leid." Es raschelte, er hatte die Tasche offensichtlich gerade geöffnet, um einige Papiere herauszunehmen. „Ihr werdet euch damit arrangieren müssen. So dramatisch, wie es klingt, ist es nicht. Zwar wird jedes Wort, das wir sagen, aufgezeichnet, aber ich kann euch versichern, eure Privatsphäre ist gewährleistet."
Ein unangenehmes Geräusch ließ Ginny zusammenzucken. Das Lauscheohr schien in Dracos Tasche gefallen zu sein. Nun verstand sie nicht mehr ganz so gut, worüber gesprochen wurde, aber so würde es ihr später vielleicht möglich sein, ihn auch bei sich zu Hause zu belauschen.
Ohne jegliche Vorwarnung öffnete sich die Tür zum Aurorenbüro. Padma sah herein. „Oh", machte sie, als sie Ginny sah. „Du bist schon hier?"
„Äh, ja", stammelte Ginny, die es versäumt hatte, sich eine gute Ausrede zu überlegen. „Früher Vogel und so." Sie gab es auf, schüttelte den Kopf und wies Padma an, sich an ihren Platz zu begeben.
Nach und nach trudelten auch die anderen Auroren ein. Allesamt vor der Zeit. Irgendwie hatte Ginny erwartet, das fehlerlose Verhalten vom gestrigen Tag würde spätestens heute nachlassen, aber weit gefehlt. Sie wurde immer noch wie ein rohes Ei behandelt. Es war nahezu gruselig.
Die Stunden vergingen wie im Flug, denn Ginny hatte alle Hände damit zu tun, Einsatzteams einzuteilen und und nebenbei ein Auge auf Astoria und Pansy zu haben, die charakterlich sowohl als Stalker als auch als Erpresser theoretisch auch infrage kamen. Doch die beiden gaben nichts Verdächtiges von sich.
Nur wenige Sekunden vor der Mittagspause, auf die Ginny seit Ewigkeiten wartete, weil sie auf ergiebigere Pausengespräche hoffte, hörte sie durch das Lauscheohr ein: „Was bei Salazar...?" Ihr brach der Schweiß aus. Er musste das Lauscheohr entdeckt haben.
Um ein unnötiges Drama mit Astoria zu vermeiden, stand Ginny auf und verließ die Aurorenzentrale, damit sie ihm auf halbem Weg begegnen konnte. Beim Aufzug trafen sie aufeinander. Ein wütender Draco hielt ihr das Lauscheohr unter die Nase. „Was zur Hölle ist das? Ich dachte, wir hätten das gestern geklärt!", wetterte er.
Verschämt nahm Ginny das Weasleyprodukt entgegen. „Ich musste sichergehen, okay? Nimm es mir nicht übel."
Einen Moment noch sah er sie noch fassungslos an, dann rieb er sich entnervt die Augen. „Schon gut. Ich verstehe es ja. Aber wirklich..." Er nahm die Hände aus seinem Gesicht. „... ich bin nicht D., das musst du mir glauben!"
„Das würde ich wirklich gerne", meinte sie leise, „aber bisher habe ich keine besseren Verdächtigen."
Er sah an ihr vorbei, als er sagte: „Tu dir selbst einen Gefallen und lass das Nachforschen. Man kann ohnehin nichts an all dem hier ändern. Du bist besser dran, wenn du nichts weißt."
Ginny fröstelte es bei seinen Worten. Sie schlang die Arme um den eigenen Körper. „Wovon sprichst du?"
Draco schüttelte den Kopf. „Bitte, bitte, Gin. Willst du Potters Leben etwa aufs Spiel setzen?" Auf ihre entsetzte Miene hin fuhr er fort: „Ist dir wirklich noch nicht die Idee gekommen, dass dein mysteriöser Stalker und D. ein und dieselbe Person sind? Oder dein Stalker vielleicht ein Handlanger von D. ist? Wenn du dich weiterhin wehrst, kann das in beiden Fällen nicht gut ausgehen."
Sie starrte ihn an. Sollte er es doch sein, drohte er ihr gerade. Aber wenn nicht, war das ein wertvoller Rat. „Ich weiß", sagte sie schließlich. „Aber was soll ich deiner Ansicht nach tun? Einfach meinen Job machen, hoffen, dass Harry plötzlich doch noch aufwacht und Hermine wie aus dem Nichts in Ruhe gelassen wird?"
Energisches Nicken seitens Draco. „Genau!"
Damit konnte sie nichts anfangen. Schnaubend wandte sie sich von ihm ab. Jemand versuchte hier gerade, sie zu kontrollieren, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Gut möglich, dass sie Harrys Leben aufs Spiel setzte, aber er hätte an ihrer Stelle genauso gehandelt. Man musste kämpfen, nicht nachgeben, sobald es brenzlig wurde, nicht? Ein Gedanke versetzte ihr einen Stich: Forderte sie das Schicksal absichtlich heraus, damit ihr am Ende ihr schlechtes Gewissen und die Wahl zwischen Harry und Draco genommen wurde? So grausam konnte sie ja wohl nicht sein – oder machte sie sich, was das anging, nur etwas vor?
~*~
Den Rest der Mittagspause hatte sie weiterhin dezent bei Pansy und Astoria mitgehört, aber nichts von Bedeutung. Dracos Sohn Scorpius hatte anscheinend einen Kinderbesen bekommen. Das war nicht wirklich relevant für ihre Mission, aber es erinnerte sie schmerzlich daran, dass es falsch wäre, mit Draco etwas anzufangen. Er hatte ein eigenes Leben. Auf der Arbeit mochten sich ihre Wege kreuzen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich nicht aus dem Weg gehen könnten, wenn sie es wollten. Solche Gedanken verursachten ihr Bauchweh, also ließ sie es sein. Es gab momentan Wichtigeres als das. Rose Weasleys und Harry Potters Leben war in unmittelbarer Gefahr, und Ginny musste entscheiden, ob es das wert war, wenn dadurch mindestens ein Verbrecher ins Gefängnis kam. So formuliert schien die Lösung offensichtlich. Doch so fühlte es sich keineswegs an.
Für eine Weile übertrug sie die Aufgabe, die Einsatztruppen zu bilden, auf Emely Fraser. In der Zeit, die sie sich so verschaffte, suchte sie im Archiv die Regale ab. Die Sache mit dem Verschwiegenen, Michael Jenner, der kürzlich verschwunden und vermutlich ermordet worden war, ließ ihr keine Ruhe. Vielleicht war seine Akte hier gelandet und war deshalb nicht auffindbar?
Während sie sich durch das Archiv kämmte, ging sie immer wieder durch, was sie wusste. Das Ganze hatte an einem Ort mit weißen Bodenfliesen stattgefunden. Die Mörderin hatte braune Haare gehabt. Das war jedoch nicht sonderlich hilfreich. Allein gut die Hälfte aller Auroren hatte braune Haare. Das schloss sowohl Pansy und Padma als auch Emely mit ein. Und sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob es in ihrer Erinnerung ein helles oder dunkles Braun gewesen war. Das Einzige, was sie noch über die Mörderin wusste, war, dass sie im Krieg gekämpft hatte. Es konnte sich durchaus um eine Todesserin handeln, die dem System entgangen war. Warum sollte es jemand aus der Aurorenzentrale sein? Ginny schüttelte über sich selbst den Kopf. Die Sache mit D. und dem Stalker hatte sie paranoid gemacht. Der Mord an Jenner hatte etwas damit zu tun gehabt, sonst hätte Harry keine Drohnachricht dazu erhalten. Aber die Tatsache, dass Jenner fürs Ministerium gearbeitet hatte, hieß nicht automatisch, dass die Mörderin es auch tat.
Sie stöhnte über die vielen Informationen, die sie kein Stück weiter brachten. Irgendwie hing alles zusammen, sie wusste es einfach.
~*~
Drei Stunden später war Ginny zurück in der Zentrale. Sie konnte es beinahe nicht fassen, dass Jenners Akte verschwunden war und niemand es bemerkt hatte. Man musste entweder Zugang zur Kartei oder zum Archiv haben, um eine Akte vollständig verschwinden zu lassen. Sie wünschte, sie könnte dadurch die Verdächtigen auf die Abteilungsleiter reduzieren, aber so war es leider nicht. Jeder dieser Abteilungsleiter konnte erpresst, bestochen oder bestohlen werden. Also führte auch das nirgendwohin.
Entnervt übernahm sie wieder ihren Job. Gerade schien aber weniger los zu sein in England, daher nahm sie sich die Zeit, die Berichte durchzulesen, die heute abgegeben worden waren. Dabei fiel ihr erneut Padmas scheußliche Handschrift auf. Diesmal stutzte Ginny. Sie war mit Padma zur Schule gegangen und sie meinte sich zu erinnern, dass Parvati die schlimmere Schrift gehabt hatte. Padmas war an sich recht ansehnlich gewesen. Keine Schönschrift, aber absolut in Ordnung. Nun konnte man kaum noch erahnen, was sie sie hatte schreiben wollen.
Sie warf einen Blick zu Padma herüber, die gerade mit Susan Bones und Rachel, von der sie den Nachnamen nicht wusste, zur Tür hereinkam. Die drei sahen ein wenig zerzaust aus, vermutlich waren sie mit dem Flohnetzwerk zum Einsatzort gereist. Ginny beobachtete, wie Padma sich, genau wie die anderen beiden, ein Formular vom Stapel nahm, sich an ihren Platz setzte und begann, denn Bericht zu schreiben. Dabei verzog die Inderin schmerzerfüllt das Gesicht. Die Feder hielt sie auf deutlich ungesunde Weise. Pansy warf der anderen Hexe einen mitleidigen Blick zu, doch sonst kommentierte es niemand.
Ginny lehnte sich ein wenig hinüber zu Emely, die deren kurze Geistesabwesenheit genutzt hatte, um eine Seite des Schreibtisches ihrer Chefin aufzuräumen. „Sag mal, hat Padma etwas an der Hand?"
Emely erstarrte. Auf einmal war das gesamte Aurorenbüro still. Alle sahen Ginny an.
„Was?", fragte Ginny verunsichert. „Habe ich etwas Falsches gesagt?"
Niemand antwortete ihr, sie drehten ihr nur stumm den Rücken zu. Sogar Emely nahm ihre Finger von Ginnys Schreibtisch und tat so, als hätte sie plötzlich etwas unglaublich Wichtiges zu tun. Ab dann war es außerordentlich ruhig in der Zentrale. Ginny wurde es nach nur wenigen Minuten zu viel. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, und nun wurde es ihr allmählich wirklich zu seltsam. Was stimmte mit diesen Leuten nicht? Zu Beginn hatten sie sie noch gehasst, es war zum Streik gekommen, dann die plötzliche Kehrtwende – und nun das? Was ging hier vor sich?
Ratlos streifte sie durch die dunklen Flure des Ministeriums. Sie hatte nicht aufgepasst, wohin sie ging, doch schließlich fand sie sich vor den geschlossenen massiven Türen des Gamots wieder. Von den angekündigten Neuwahlen hatte sie nichts mehr gehört. Vielleicht wurden noch Bewerber gesucht?
Plötzlich fiel ihr eine kleine schwarze Tür links neben dem Zugang zu den Gerichtssälen auf. Vielleicht eine Putzkammer. Dennoch war da etwas Unbestimmtes, das sie zu dieser Tür zog. Wie von selbst legte sich ihre Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Sie öffnete die Tür. Und der Boden wurde ihr geradezu unter den Füßen weggezogen.
Mattes Neonlicht schlug ihr entgegen. Weiße Wände, eine Wendeltreppe nach unten. Sie machte einen wackeligen Schritt vorwärts. Sie konnte weiße Bodenfliesen sehen. Das war nicht viel, aber sie erkannte den Flur sofort.
„Nein", flüsterte sie erstickt. Jenner war im Ministerium umgebracht worden. Und was um Himmels willen war das für ein Flur? In Hermines Büro hing eine riesige Blaupause, auf der jeder Gang des Ministeriums eingezeichnet war. Ginny war sich hundertprozentig sicher, dass dort neben den Sälen des Gamots kein weiterer Flur gewesen war. In dieser Etage sollte nichts Weiteres außer der Eingangshalle und dem Büro zur Ermittlung und Beschlagnahme Gefälschter Verteidigungszauber und Schutzgegenstände sein!
Das musste sie sich genauer ansehen. Sie legte die Hand auf den Lauf der Wendeltreppe und begab sich hinab auf den ein Stockwerk tiefer liegenden Flur. Dort sah sie erst nach links, dann nach rechts. Mehrere Türen waren in die gewölbten, weiß getünchten Wände eingelassen. Alles sah verstörend modern aus. Das war Ginny nicht vom Ministerium gewöhnt.
Ihr Blick fiel auf die Abbiegung schräg gegenüber der Wendeltreppe. Das erinnerte sie an etwas. Hier hatte sie beim Mord an Jenner gestanden und sich versteckt. Probehalber stellte sie sich an dieselbe Stelle.
Vergangenheit und Gegenwart verschwommen für einen Moment. Doch anstatt einer Leiche sah sie am Ende des Flurs einen hochgewachsenen, blonden Mann, der ihr entgegenkam. Er sah ein wenig jünger aus, aber nicht viel. „Ich musste vorgestern Jenner entsorgen", sagte Draco gedämpft. „Ich habe euch gewarnt. Dieses Mal habt ihr es zu weit getrieben."
Ginnys damaliges Selbst zitterte am ganzen Körper. Sie war blass und dehydriert. Schwach stützte sie sich an der Wand ab. „Harry liegt im Koma." Sie funkelte ihn an. „Du hast es versprochen!", krächzte sie. „Malfoy, du hast es mir versprochen!"
Damit endete die Erinnerung schlagartig.
Mit flatternden Augenlidern kehrte Ginny wieder ins Jetzt zurück. Nur um einen mittleren Schock zu erleiden: Draco stand am Fuß der Treppe. „Du...", flüsterte sie. „Du warst hier unten! Du weißt von allem?"
Er sah sie forschend an. „Und du? Was weißt du noch?"
Ginny blieb das Herz stehen. Diese Wortwahl. Er hatte doch nicht...? Am liebsten wäre sie weggerannt, aber Draco versperrte den Ausgang. Sie wagte nicht, sich zu bewegen.
„Woran erinnerst du dich?", wiederholte er. Als sie nicht antwortete, verlor er die Geduld. „Wie viel weißt du wieder, Ginny?", schnauzte er sie an.
Sie fuhr zusammen, antwortete jedoch. „Ich weiß nicht viel, aber du warst hier unten. Du warst derjenige, der Jenners Leiche weggebracht hat." Ein Gedanke huschte durch ihren Verstand, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Nein", sagte sie langsam, „du hast ihn nicht weggebracht. Du hast ihn in einem der Labore magisch aufgelöst. Den Zauber hast du erfunden!" Woher sie das wusste, kein blasser Schimmer.
„Scheiße", entfuhr es dem Malfoy. „Weißt du, Ginny, es tut mir leid. Ich hatte wirklich vor, dir deine Erinnerungen wiederzugeben. Und jetzt kommen sie alle wieder. Das Problem ist..." Er machte eine Pause, in der er seinen Zauberstab zog. „... ich habe meine Meinung geändert."
Ginny stolperte rückwärts. Sie tastete nach ihrem eigenen Zauberstab, aber der war nicht da. Sie hatte ihn im Büro gelassen. „Nein, bitte...", stammelte sie, die Hände halb erhoben. Sie wusste nicht einmal ansatzweise mit Sicherheit, was hier gerade passierte, aber sie wollte auf gar keinen Fall einem Obliviate unterzogen werden. Doch Draco sah ganz so aus, als sei er sich seiner Sache mehr als sicher. Das war der Moment, in dem Ginny beschloss wegzurennen. Sie nahm den gebogenen Gang hinter sich. Dadurch konnte Draco nicht so gut auf sie zielen und sie hatte einen kleinen Vorsprung. Ihre schlechte Kondition machte ihr zu schaffen, aber sie war vor ihm an der Tür am Ende des Ganges. Japsend drehte sie den Türknauf. Nur ließ sich die Tür nicht öffnen. Sie bewegte sich kein Stück.
Ginny hämmerte panisch dagegen. „Hilfe! Hil-" Ihr wurde der Mund zugehalten. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, aber es gab kein Entkommen. Malfoy versuchte, sie festzuhalten, aber sie zappelte zu sehr. Völlig unvermutet rutschte sie aus und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. Sie war betäubt vom Schmerz. Ihr war zu schwindelig, als dass sie irgendetwas denken oder fühlen konnte.
„Ginny?", hörte sie seine erschrockene Stimme. „Es tut mir so leid. Das wollte ich nicht!"
Dann versank alles in Schwärze.
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