Folge dem Stern ...
Im blassen Licht des erwachenden Morgens brachen die Freunde nur wenige Stunden später auf. Während Ole seinen Schlafsack und einige zusätzliche Wasserflaschen verstaute, ließ Tom den Blick prüfend durchs Tal schweifen. Noch störten weder tuckernde Touristenbusse noch Scharen von emsigen Forschern die schläfrige Ruhe. Neben einer niedrigen Mauer döste ein dürrer gelber Straßenköter und irgendwo flatterte eine Plane im Wind. Tom rieb sich über die Arme. Der allgegenwärtige Sand kroch ihm buchstäblich unter die Haut. Das ständige Kratzen machte ihn noch wahnsinnig. Ein weiteres Mal drehte er sich um die eigene Achse. Der friedliche Eindruck beruhigte ihn nur mäßig. Er wurde das Gefühl nicht los, ständig beobachtet zu werden.
Ein Pfiff ließ Tom zusammenzucken. Ole winkte aus dem Rover. »Jetzt komm, bevor ich es mir anders überlege. Und vergiss deine Wünschelrute nicht.«
Den Metallkoffer mit der Drohne in einer Hand und den Rucksack mit seinem Schatz fest an sich gepresst, lief Tom entschlossen zum Wagen. »Hahaha, noch wie was von Luftbildarchäologie gehört? Der Zauberstab heißt LiDAR. Dreidimensionales Laserscanning, mit dem man Strukturen auf der Bodenoberfläche sichtbar machen kann. Vereinfacht für den Laien erklärt. Ich brauche nur die passenden Koordinaten für die Suche.«
Die gut sechzig Kilometer nach Dendera verliefen schweigsam. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ein wenig vermisste Tom die Ungezwungenheit, mit der sie am gestrigen Abend über die alten Zeiten geplaudert hatten. Doch nun fieberte er ihrem Ziel entgegen. Die Abbildungen der wundervollen Tempelanlage, die er kannte, ersetzten nicht die Atmosphäre, die gut erhaltenen Reliefdarstellungen mit eigenen Augen zu sehen. Bisher war ihm immer etwas dazwischen gekommen. An der letzten Exkursion ihrer Delegation hierher konnte er nicht teilnehmen, da Professor Wichtig ihn zur Terminabklärung seiner Auftritte im Ägyptischen Museum abkommandiert hatte. Mit Absicht! Da war sich Tom sicher. Und jetzt hielt Ole schon wieder an, um diese dämlichen Vogelschwärme zu fotografieren, die aus den fruchtbaren Niederungen des Nilbogens aufstiegen! Hatten sich den alle gegen ihn verschworen?
Als sie sich endlich der imposanten Tempelfassade mit ihren sechs hathorischen Säulen näherten, herrschte natürlich bereits reger Andrang. Eine große Gruppe Touristen mit erstaunlich umfangreicher Fotoausrüstung diskutierte aufgeregt mit einem Mitarbeiter des Antikendienstes. Tom schenkte ihnen keine Beachtung und schlug einen Bogen, um das Gesamtbild auf sich wirken zu lassen. Die Luft flimmerte und für einen Moment erblickte er die ursprünglichen farbenprächtigen Bemalungen des Eingangsbereiches, so wie sie auf einem Gemälde zur Zeit der Ausgrabung dieses Heiligtums zu sehen waren.
»No entry! No entry!« Der kleine uniformierte Beamte stellte sich ihnen wild gestikulierend in den Weg. Eine unbändige Wut schoss durch Toms Adern und seine goldbraunen Augen verfärbten sich schwarz vor unterdrücktem Zorn. Wie konnte dieser Mensch es wagen, ihn bei seiner Mission zu behindern?
Der Ägypter wurde bleich und wich zurück. Tom vergaß ihn augenblicklich und versank im Anblick der sich vor ihm öffnenden Säulenhalle. Nur am Rande nahm er wahr, wie Ole den erregten Mann beiseitenahm und mit seinem nervigen Gute-Laune-Lächeln leise auf ihn einredete.
»Musst du aufs Dach?«, fragte Ole zwischen zwei beschwichtigenden Sätzen. Tom schüttelte verneinend den Kopf. Diese Kleingeister würden ihn nicht aufhalten. Ihn zog es unwiderstehlich ins Innere des Tempels.
»Mach dich mal locker!«, knurrte Ole ungehalten wenige Minuten später. »Du hast ausgesehen, als wolltest du den armen Kerl erdolchen. Der Mann macht auch nur seinen Job.«
»Hä?« Unfähig, sich von den detailreichen Abbildungen loszureißen, schwelgte Tom im Rausch der Verzückung. Endlich, endlich stand er hier, direkt unter den fantastischen astronomischen Abbildungen an der Decke des Pronaos. Tom verschlugen die komplexen Darstellungen von nächtlichen Sternenbildern, Mondphasen und tagesstündlichen Sonnenphasen den Atem. Er war der Auserwählte! Ihm, nur ihm offenbarten die Götter ihr geheimes Wissen.
»Stell dir vor, da hat irgendein geschäftstüchtiger Betrüger im Internet Lizenzen für Fotoshooting-Plätze auf dem Dach des Gebäudes vertickt. Die Leute sind alles Hobbyfotografen, die einen Haufen Geld sozusagen in den Sand gesetzt haben.« Ole räusperte sich. »Heute Nacht ist ein Supervollmond angesagt. Sie hatten schon zum letzten Blue Moon einen überdurchschnittlichen Ansturm, deshalb wurde das Dach vorsorglich gesperrt.«
»Es ist großartig«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll. Er hatte keine Zeit für belangloses Geschwafel. Alles um sich herum ausblendend, lief er von einem Ende der Halle zum anderen und konnte sich nicht sattsehen. Jede einzelne Nuance saugte sein Geist auf. »Sieh dir das an! Ich kann es fühlen, ich kann es hören! Die Himmelsgöttin ist mir wohlgesonnen.«
»Vielleicht sollte ich mir eine Krone aufsetzen, damit du mir zuhörst! Blue Moon! Das bedeutet, jetzt ist der vierte Vollmond in dieser Jahreszeit. Schon ein seltsamer Zufall, oder?«
Tom blickte erstaunt zu seinem Freund. Der vierte Mond? Natürlich! Die Prophezeiung! »Genau! Verrat lauert im Verborgenen.« Nervös schaute er sich um. »Brockhorst hat überall seine Spione. Hoffentlich hat mich niemand erkannt.«
Hastig kramte er sein iPad aus dem Rucksack. Stifte, Sonnencreme, ein Erdnussriegel, seine Geldbörse und anderer Kram purzelten zu Boden. Ohne darauf zu achten, begann Tom, sich Notizen zu den kosmischen Abbildungen über ihnen zu machen. Ein irres Kichern kam ihm dabei über die Lippen. »Von wegen keine Schatzkarte. Es ist alles da! Die Sternenkonstellationen sind der letzte Schlüssel!«
»Verdammt noch mal, Tom! Komm mir jetzt nicht mit ‚Der Weltraum ‒ unendliche Weiten'.« Fluchend hockte sich Ole hin und begann die Habseligkeiten seines Freundes einzusammeln. »Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich. Hat dich in letzter Zeit was gestochen oder wirfst du irgendwas ein?«
»Blödsinn! Kannst du dich an unseren Schulausflug nach Haithabu erinnern? Du warst doch so stolz auf deine nordischen Vorfahren. Und wie haben die Wikinger auf ihren Fahrten navigiert? Mithilfe von Sonnenstein und nächtlichen Sternbildern. Das hier ist nichts anderes.« Wie im Fieberwahn flogen Toms Finger über das Tablet. »Ich muss nur in die entsprechende Zeit zurückgehen und dann weiß ich genau, wo wir suchen müssen. Wir könnten sofort weiter und ... «
Oles Schweigen ließ ihn stutzen. Sein Freund kniete am Boden. Durch seine Finger glitt eine dünne Silberkette, die im schwachen Licht glänzte. Ein einfallender Sonnenstrahl traf auf die Anhänger aus Stern, Engelsflügel und Anker. Tom erstarrte. Das Glitzern lenkte seine Gedanken zu der Frau, die sie beide umworben hatten und brachte ihn ins Hier und Jetzt zurück.
Mist! Dieses Thema hätte Tom gern vermieden.
»Ähm, wir haben uns vor drei Jahren verlobt«, druckste er unbehaglich hervor.
»Ich weiß«, antwortete Ole. »Wie du schon sagtest, wir kommen aus einer Kleinstadt.«
»Ich habe sie dir nicht weggenommen, Ole. Das hast du dir selber zuzuschreiben.«
»Ja. Das ist eines der Dinge, die ich echt bedauere. Machst du dir keine Sorgen? Du bist doch nie zu Hause. Stella ist eine tolle Frau. Sie könnte sich für jemand anderen entscheiden.«
Tom grinste selbstsicher. »Wenn man sich auf etwas verlassen kann, dann ist das Stellas Wort. Sie würde nie unsere Verbindung lösen, nur weil mein Job viel Reisetätigkeit erfordert. Sogar ihren albernen Glücksbringer hat sie mir mitgegeben. Mensch, ihr Vater ist lebenslang zur See gefahren. Wie oft war der alte Seebär daheim? Zu ihrer Taufe, zur Einschulung und zum Abiball?«
»Richtig. Deshalb war sie ständig bei euch. Stella wollte immer ein richtiges Familienleben und ein Heim voller Kinder.«
Machte Ole ihm hier Vorhaltungen? Tom entriss ihm seinen Rucksack und überprüfte, ob die Papyrusrolle unversehrt in ihrer Hülle war. Dabei erwiderte trocken: »Hat sie jetzt ja. Sie bietet zusammen mit meiner Schwester Therapiereiten für benachteiligte Kinder an.« Sein Blick verklärte sich. »Die Medien lieben solche Hintergrundstorys. Meine zukünftige Frau mit ihrem sozialen Engagement. Das macht sich super, wenn ich erst meinen sensationellen Fund der Öffentlichkeit präsentiere.«
Ole schob die geschlossene Faust in die Hosentasche. »Du hast dich ganz schön verändert, Stresemann. Früher hast du nicht nur dich selbst im Sinn gehabt.«
Erneut spürte Tom Ärger in sich aufwallen. »Du bist doch nur neidisch auf meinen Erfolg! Weil die Leute zu mir aufblicken, während sie bei dir nur den Kopf schütteln. Birdguard! Werde langsam erwachsen und mach was aus dir.«
»Gut, dass wir das geklärt haben. Übrigens bin ich Nationalpark-Ranger. Das Vogelschutzcamp unterstütze ich in meinem Urlaub ehrenamtlich.« Mit Nachdruck schob Ole Tom in Richtung Ausgang und deutete auf einen milchiggelben Himmel. »Vergleiche du deine Koordinaten mal mit der Unwetterwarnung, die seit gestern gemeldet wird. Ich habe mir lange überlegt, ob ich die Fahrt zu dir in Kauf nehme. Eine völlig überstürzte Expedition in eine gottverlassene Ecke der Wüste werde ich ganz sicher nicht unternehmen und du solltest endlich dein schlaues Hirn benutzen und diese ganze Sache in Ruhe überdenken.«
Tom wehrte sich vehement, aber vergeblich gegen die rüde Behandlung. Über den Tempelvorplatz wirbelte eine Plastikverpackung. Er blinzelte verunsichert. Der Himmel sah wirklich seltsam aus. In einer Staubwolke meinte er Stellas trauriges Lächeln zu erkennen. Seine Augen brannten. Tom biss sich auf die Unterlippe. Eventuell hatte Ole nicht ganz Unrecht.
Ein fernes Raunen säuselte von glänzendem Ruhm. So nah! Er war so nah dran! Das bisschen Sand in der Luft war doch völlig normal. Daheim in den Dünen war es nichts anderes. Entschlossen wandte er sich aus Oles festem Griff.
»Versteh doch! Ich kann nicht abwarten. Dieser Vorsprung ist eine einmalige Chance! Wir haben doch alles dabei ...«
Fluchend entfernte sich Ole in Richtung des Parkplatzes. »Vergiss es! Wir unterhalten uns weiter, wenn du vernünftig geworden bist!«
Tom sah ihm nach und trat frustriert gegen einen Stein, der holpernd davonrollte. Von der Wand des Gebäudes löste sich ein Schatten. Tom stöhnte verhalten und knirschte mit den Zähnen. Der hatte ihm gerade noch gefehlt!
Ein Klischee von einem Men in Black schlenderte heran.
»Mister Stresemann. Haben Sie unsere Abmachung vergessen?«
»Ich hätte mich schon noch gemeldet«, zischte Tom. »Sie können Yasseen ausrichten, dass ich alle notwendigen Informationen habe.«
»Das wird meinen Chef freuen. Er lässt seine Investitionen nur ungern aus den Augen.«
Der Typ rückte für Toms Geschmack viel zu nah an ihn heran. Er trat einen Schritt nach vorn. »Nur mit dem Fahrer läuft es eher suboptimal. Ich muss nochmal mit ihm sprechen ...«
»Moment!« Der Mann nahm Tom am Arm und sprach leise und schnell in ein Headset. Dann dirigierte er ihn zum Palmengarten an der Seite des Tempels.
»Das ist kein Problem. In zehn Minuten ist ein Wagen verfügbar.«
Tom zögerte nur kurz. »Aber es bleibt dabei! Ich werde den Schatz als Entdecker der Öffentlichkeit präsentieren!«
Die Miene seines neuen Begleiters blieb vollkommen ausdruckslos. »Selbstverständlich, Mister Stresemann. Selbstverständlich.«
﴿﴾
Ole sah über seinen dickbäuchigen, schnarchenden Sitznachbar hinweg nur einen schmalen Streifen des kleinen Kabinenfensters. Heftige Luftturbulenzen ließen das Flugzeug erzittern. Die schwarzgelbe Wolkenwand, die bereits den größten Teil des Landes unter ihnen verschlungen hatte, war bedrohlich näher gekommen. Kein Ruhm und kein Gold der Welt war es wert, sich in diese Hölle aus wütendem Sand zu wagen.
»Tut mir leid, alter Freund«, murmelte Ole und schaute auf die silbernen Kettenanhänger, die warm in seiner Hand lagen.
"Du hattest deine Chance. Dein Misstrauen war schon gerechtfertigt, aber dein Ehrgeiz hat dich blind gemacht. Ich kann zwar keine Botschaften aus uralten Schriftzeichen entschlüsseln, dafür aber die Satellitenkarte des Wetterberichts lesen. Und mein Schatz ist da, wo auch mein Herz ist."
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*** Ende ***
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Und schon ist unser kleines Abenteuer am Ende angelangt. Oder doch nicht? Wie könnte es für die beiden Freunde weitergehen? Ich bin gespannt auf eure Meinungen.
Übrigens habe ich versucht, im Text einige kleine Metaphern zu verstecken. Wer mag, kann sich dazu gern in den Kommentaren äußern.
Danke an alle, die bis zum Schluß dabei waren. Seid lieb gegrüßt und schaut gern in meine anderen Geschichten rein.
Eure Runa
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