I
Flammen des Lebens
Ein Meer aus flackernden Kerzen breitete sich vor ihr aus. Unheimliche Schatten tänzelten um sie herum, geisterhaft und so wenig greifbar, wie es die Kerzen für ihren Verstand waren. Unbarmherziges Rot mischte sich mit eisigem Schwarz, erinnerte an alles, was vergessen werden sollte. Die Schatten schienen gierig nach ihr zu greifen, sie sich einverleiben zu wollen. Wütend krallten sich Alyssas Fingernägel in die Handballen, hinterließen blutige Halbmonde.
Eine Kerze für jeden Lebenden. Bis die Zeit abgelaufen, das Wachs herunter gebrannt war. Bis zum Tod. Als spürten sie den Zorn, krochen die Schatten näher, leckten an Armen und Beinen. Alyssa schüttelte sie ab, stieß sie wütend weg. Sie würden sie nicht bekommen. Noch nicht. Nicht sie.
Vorsichtig, fast ehrfürchtig trat sie näher und hasste sich noch in derselben Sekunde dafür. Was waren diese Lebenslichter schon? Sie waren so unterschiedlich, so gleich. Dick und dünn, klein und groß. Doch im Inneren, da waren sie hässlich. Wie die Menschen, für die sie standen. Und kein Grund für Ehrfurcht. Man sagte, jeder Wachsturm ähnelte dem Menschen, dessen Leben er trug. Unwillkürlich hielt sie nach ihrem Ausschau. Lichter erloschen, neue Flammen entzündeten sich, Wachs wurde ausgetauscht, versank in Belanglosigkeit. Fast fünf Millionen Möglichkeiten. Fünf Millionen Möglichkeiten für Alyssa, keine für Tami. Hass loderte wieder in ihren braunen Augen auf, so hell, dass diese fast rot wirkten. Die dunklen Gestalten an den Wänden verließen ihre Deckung.
Was bedeuteten schon diese Flammen des Lebens? Es waren zu wenig, eine fehlte. Ihre Hände griffen in ihren Rucksack, umschlossen eine weitere Kerze. Eine, die bald brennen würde. Vielleicht standen diese Lichter für das Leben, doch auch sie würden erstickt werden. Die Schatten umschlangen Alyssa, angetrieben von der Wut der Unendlichkeit, angezogen von dem Zorn, welcher das Blut in ihren Adern längst ersetzt hatte, bohrten sich durch ihre Haut und griffen nach ihrer Seele. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, so plötzlich wie sich auch die Angst mit der Wut mischte. Die Muskeln ihrer Finger erschlafften, gaben die Kerze frei, Alyssa fiel.
Ein einzelner Schrei kam über ihre Lippen, panisch und voller Zorn und mächtig hallte er in ihren Ohren wieder. Die kleinen Feuer flackerten, einige drohten zu erlöschen. Die Schatten stoben davon, heraus aus ihrem Körper und doch zufrieden. Hastig rappelte sie sich auf, endlich bereit die Kerzen zu löschen. Einfach alles auszulöschen. Warum sollten andere haben, was ihre Schwester, was Tami nicht haben konnte? Warum sollte es irgendwem besser gehen? Sie konnte alles beenden. Wie berauscht drehte sie sich mit weit ausgestreckten Armen. Oder bewegte sich der Raum? War es ihr Lachen, das den Raum erfüllte, obwohl es so fremd klang, schrill und hämisch?
Taumelnd blieb Alyssa stehen, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ein feines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie konnte Tami nicht zurückholen, niemand konnte das. Die Schatten hatten ihr eine andere Möglichkeit aufgezeigt. Sie war durchaus in der Lage, zu Tami zu kommen. Und die Welt würde sie mitnehmen. Alyssas Augen funkelten. Es war so einfach. Entsetzlich einfach. Und es ergab Sinn, in dieser Sekunde.
Tami hätte das nie getan, kam ihr in den Sinn. Tami hätte vieles nicht getan. Tami war tot. Gestorben, weil die Welt zu schwer war. Gestorben, weil die Menschen feige waren und niemand half. Helfen konnte, helfen wollte. Letztendlich war es egal. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Sie konnte alles beenden. Alyssa würde alles beenden.
Sanfte Schatten wurden von den unzähligen Flammen an die Wand gemalt. Besänftigend schimmerten sie, als ahnten sie ihr Schicksal. Verachtend starrte Alyssa sie nieder. Diese Kerzen, es hätte sie niemals geben dürfen. Tami sollte leben. Wer ihr nachfolgte, sollte leben. Die Hüter der Flammen, die die das Leben trugen wie den Tod, sie würde es nie wieder geben. Heute endete diese Tradition, ging mit allem unter und würde nie wieder auferstehen. Nicht ein Kind würde mehr für diese Zwecke sterben. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte Alyssa sich befreit. Der Hass, welcher sinnlos durch ihre Adern geströmt war, hatte ein Ventil bekommen, eine Richtung.
Leichtfüßig trat Alyssa noch weiter vor, bis sich ihre Füße nur Millimeter vor den ersten Wachstürmen befanden. Die Lebenslichter, sie flackerten wild, als könnten sie auf die drohende Gefahr reagieren. Eifrig warfen sie Schattierungen auf die Wände und bemalten ihre Haut, doch sie konnten ihr nichts anhaben. Die dunklen Gestalten an den Mauern schienen sie aufmerksam zu beobachten. Ein dunkler und ein heller Teil. Zwei Seiten eines Lebens.
Sie hockte sich hin, strich sich ein paar braune Strähnen hinter ihre Ohren und schloss die Augen. Gleich, gleich würde es vorbei sein. Sie würde Tami wiedersehen und im selben Atemzug diese Welt vernichten. Mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen begann sie jede Emotion in ihrem Inneren zu sammeln. All ihre Wut, der Zorn, der Hass auf sie alle, sie zog es zusammen, zu einem großen Knoten in ihrem Bauch. Alyssa spürte das Kribbeln in ihren Adern, die stärker werdende Unruhe. Absolut alles wurde von blutrotem Hass überrollt, ohne dass sie dem Widerstand geleistet hätte. Die riesige Welle, ein Tsunami in ihrem Inneren, entstanden aus Tropfen und Regenfällen, durchbrach den selbsterbauten Staudamm ihrer Emotionsregulation und flutete ihren gesamten Körper, ja noch darüber hinaus. Flammen des Zorns unterdrückten Flammen des Lebens, raubten ihnen jeglichen Sauerstoff und mit diesem auch ihre Bedeutung. Die Augen jetzt wieder weit geöffnet, beobachtete Alyssa wie der Hass alles niederwalzte, alles ihr Bekannte restlos vernichtete und sie hinein zog, in den Anfang vom Ende.
Leere erfüllte sie. Schonungsloses Nichts, wo früher nur Wut gewesen war. Langsam schlug sie die Augen auf, wurde sich bewusst, dass sie auf dem Boden lag, Kerzen wild um sich verstreut. Wachs in den Haaren, im ganzen Raum verteilt. Hatte es funktioniert? Vorsichtig setzte sie sich auf, doch den aufkommenden Schwindelanfall konnte sie nicht unterdrücken. Wurde einem Toten noch schwindelig?
„Du bist wach."
Wer? Hier war doch absolut niemand gewesen, außer ihr selbst.
Suchend drehte Alyssa den Kopf, ignorierte das Chaos in dem heiligen Raum, bis sie den Urheber gefunden hatte - und erstarrte.
Ein jugendliches Mädchen saß im Schneidersitz an die Wand gelehnt und beobachtete sie aufmerksam. Ein Mädchen mit exakt ihrer schmalen Nase und Haarfarbe. Tami.
Freude füllte das Loch in ihrem Innern, verdrängte beinahe schmerzhaft die Leere. Ihre kleine Schwester war hier. Lebte sie? Oder war Alyssa tot? Hatte es funktioniert?
„Tami", flüsterte sie, nicht fähig, auch nur ein Wort mehr über ihre Lippen zu bringen, nicht fähig, sich zu bewegen. Das Mädchen, für das sie so viel getan und riskiert, das sie ihr Leben lang zu beschützen versucht hatte, es stand wieder vor ihr. Saß vor ihr.
„Alyssa", tiefe Trauer hatte sich in Tamis Stimme geschlichen, Trauer und Erschöpfung. Beides Emotionen, die Alyssa nicht verstand. Warum freute sie sich nicht? Sie waren doch wieder zusammen, endlich.
„Bin ich tot? Hat es funktioniert?", wischte sie ihre Verwirrung beiseite und stellte die wirklich wichtigen Fragen.
Entgeistert starrte Tami sie an. „Was, verdammt noch mal, soll den funktioniert haben? Weißt du überhaupt, was du getan hast?" Wütend riss sie die Arme in die Luft.
Perplex starrte Alyssa sie an. Warum empfand sie denn keine Freude? Sie hatte ihrer kleinen Schwester die Welt gebracht und diese würdigte es nicht einmal? Sie spürte die altbekannte Wut in ihrem Bauch brodeln, Wut gegenüber der einzigen Person, bei der sie nie gedacht hätte, ihr diese entgegenbringen zu können.
„Beruhig dich", Tami war aufgestanden und kam auf sie zu. „Du musst etwas wissen", ihre Stimme hatte einen beruhigenden Ton angenommen, einen, der das Brodeln löschte und Alyssa ein wenig Frieden schenkte. Ganz im Gegensatz zu ihren nächsten Worten. „Du hast nicht die Lebenden getötet. Die Kerzen sind die Siegel der Toten. Ich war mal der Siegelstein, wie alle Hüter es sind. Wir schützen nicht die Lebenden, wir binden die Toten, bis sich ihre Seelen auflösen. Du hast das Siegel gebrochen, sie sind frei."
Ungläubig betrachtete sie ihre kleine Schwester. Die Toten frei gelassen. Alyssa kannte nur Erzählungen, schreckliche Schauergeschichten von rachedurstigen Gestorbenen. Nicht eine endete gut und alle enthielten die Mahnung, dass Verstorbene genau das waren. Verstorben. Alles Gute verschwand mit dem Ableben, ließ leere, machthungrige Hüllen zurück, die irgendwann verloschen. Vorausgesetzt, sie blieben im Reich der Toten.
„Du hättest das nicht tun sollen", wisperte Tami, bevor sie sich auflöste, „schau was passiert."
Und vor Alyssas Augen erhoben sich die Toten aus ihren Gräbern, bereit die Welt in Schutt und Asche zu legen.
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