Neunzehnter Brief I Für immer
2.3.1800
"Liebe Cathleen,
gleich bin ich wieder bei dir. Wird es immer noch wie früher sein? Die Entfernung, die Zeit - so viel hat uns getrennt. Meine Gefühle dir gegenüber haben sich nicht geändert, ich weiß es, auch ohne dich vor mir zu sehen. Niemand anderes könnte mir jemals so nah sein, wie du es bist. Ich liebe dich und werde dich stets lieben, daran kann niemand etwas ändern. Liebst du mich noch? Ich hoffe sehr, dass es so ist und deine Antwort auf diese Frage so sein wird wie die meine. Nicht, dass ich an dir zweifeln würde, doch all der Schmerz der letzten Zeit hätte selbst mich beinahe alles Gute vergessen lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner von uns seine Gefühle jemals ändern wird, selbst wenn ich es bei dir dulden würde. Ich könnte es verstehen, dennoch würde ich dich immer lieben und immer hoffen, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Doch - weshalb sorge ich mich? Weshalb frage ich mich solche Dinge? Weshalb zweifele ich bloß? Es wird alles beim Alten sein, sobald ich zurückkomme, glaube mir. Ich werde alles dafür tun, dass Leid und Kummer nie wieder an uns herankommen, dass es nie wieder Sorgen und Zweifel gibt. Ich liebe dich, Cathleen, ich kann nicht einmal beschreiben, wie sehr.
Nur noch eine Stunde oder gar weniger, teilte mir der Kutscher eben mit. Ich wünschte, Stewart wäre mitgekommen, dann hätte er mein Trauzeuge werden können. So überlasse ich dir die Entscheidung, wer diesen Platz einnehmen darf. Auch wenn ich mir ein wenig Zorn nicht verkneifen kann, verstehe ich ihn ein wenig. Ich kann es kaum glauben, doch eigentlich war seine Ablehnung völlig logisch, denn einem Fremden könnte man niemals die Kontrolle über meine Stadt überlassen. Nein, es ergibt Sinn, dass er in Newcastle geblieben ist, etwas anderes hätte ich nicht von ihm erwartet. Nur sein Verhalten ist überaus verwunderlich, ich hätte nie gedacht, dass wir nicht dieselben Ziele verfolgen. Der Erfolg steht auf unserer Seite und noch immer fühlt er sich den Reihen der Bettler zugehörig. Das ist es, was ich an ihm nicht nachvollziehen kann. Wozu Menschen helfen, wenn sie einem nicht geholfen hätten in dieser Situation? Wozu alles abgeben, für das man jahrelang gekämpft hat? Wozu jedermanns Freund sein wollen, wenn man als Feind viel mehr Macht über andere hat? Ich zweifele nicht an meinem Verhalten, doch mein neuer Freund tut es. Ginge es nach ihm, hätte ich alles mit erbärmlichen Fremden geteilt, doch er hat nicht darüber zu entscheiden. Auf die Straße schicken kann ich ihn schlecht, genauso wenig wie ich ihn jemals verhungern lassen würde. Dennoch werde ich niemals etwas für diese Leute tun, die vor wenigen Monaten noch über mich gespottet haben und nun auf ihren Knien nach Gnade betteln. Sollen sie sterben, wenn sie nicht wissen, wie man überlebt. Es gibt nichts, das ich an ihrer Situation ändern kann, ohne meine eigene zu verschlechtern.
Lass mich diesen Brief mit einem Absatz mit weniger Verbitterung beenden. Das Leben anderer Leute ist nichts, was dich nun zu kümmern braucht. Nur noch etwa zwanzig Minuten, dann bin ich zurück und dieses Mal soll es für immer sein. Wenn ich fortgehe, dann möchte ich dich mitnehmen - du kannst die Welt zu sehen bekommen, in angemessener Zeit könnte ich dich vielleicht sogar dem König vorstellen. Wir werden Lord und Lady Edevan sein, Menschen ohne Vergangenheit, aber mit einer erfüllten Zukunft. Wir werden so erfolgreich sein wie niemand aus unserer Gegend jemals zuvor. Ich kann dir Schlösser bauen lassen, dir die schönsten Kleider kaufen und dir die gesamte Welt zu Füßen legen, wenn du möchtest. Was könnte es nur Besseres geben? Du hattest den Erben einer nichtsnutzigen Familie nicht heiraten können, nun hast du die Möglichkeit, einen Lord zu heiraten, der dir eine gesamte Stadt mitsamt aller Einwohner schenken kann. Ich hoffe nur, dass du noch immer in die Heiratspläne einwilligst.
Ich liebe dich, Cathleen, ich liebe dich für immer und ewig.
Dein
Laurence Edevan"
Die Räder der Kutsche ratterten über den steinigen Boden. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es nun soweit war. Wenige Minuten, dann würde er wieder an dem Ort sein, an dem er aufgewachsen war. Nervös strich er noch einmal seine Kleidung glatt, um den ersten Eindruck seiner ehemaligen Nachbarn von ihm nach über einem Jahr so gut wie möglich zu gestalten. Er wollte keinem einzigen die Möglichkeiten geben, so über ihn zu spotten, wie sie es früher einmal getan hatten. Er war nun nicht mehr der missratene Sohn eines Farmers, sondern ein Gentleman von Rang und Namen. Nichts konnte ihn noch aufhalten, das Leben zu führen, das er immer hatte führen wollen.
Der Kutscher zog die Zügel an und bremste die Pferde. Die zwei stämmigen dunklen Tiere blieben so abrupt stehen, dass die Kutsche beinahe gegen sie rollte. Es waren mit Sicherheit keine elegante oder gar wunderschöne Pferde, doch sie überlebten trotz Futtermangel, weshalb Laurence sie letztendlich ausgewählt hatte. Etwas Besseres gab es nicht mehr und für lange Reisen waren sie besser geeignet als die empfindlichen Tiere, auf denen er vor Jahrzehnten das Reiten gelernt hatte.
"Soll ich die Tür öffnen, Mylord?", fragte der Mann auf dem Kutschbock vorsichtig. Er wusste genau, wie schnell er seine vergleichbar gute Arbeit verlieren konnte, traf er nicht den richtigen Ton seinem Vorgesetzten gegenüber. Stolz war früher einmal Baxters stärkste Eigenschaft gewesen, doch den hatte er um seiner Familie Willen aufgeben müssen. Einem schnell zornigen und überaus gnadenlosen Mann zu dienen konnte ihm, seiner Frau und seinen vier Kindern ein gutes Leben bescheren, aber auch jederzeit ihn wieder in den Staub der Straße befördern. Ein Lob hatte er kein einziges Mal erhalten, dafür jedoch genug Brot, um absolute Loyalität beizubehalten.
"Noch nicht. Gib mir Bescheid, sobald jemand hinauskommt. Triumph kann man nur dann spüren, wenn man den richtigen Moment abpasst", antwortete er kühl, wobei er den zweiten Satz nur noch flüsterte. Für einige Augenblicke zog sich ein Lächeln über sein Gesicht, doch es war keines von denen, welche Cathleen immer so geliebt hatte. Dieses Mal war es ein so arrogantes und hasserfülltes Lächeln, dass jeder dabei erschaudert wäre, wenn es denn jemand gesehen hätte.
"Jetzt, Mylord." Eine ältere Frau rannte als erstes hinaus. Falten hatte sie zwar kaum welche, doch ihr schneeweißes langes Haar war auf ihrem Kopf so aufwändig zusammengebunden, dass man sie aus der Ferne für eine würdevolle alte Lady halten musste. Genauso herausgeputzt war ihr Kleid, das mittlerweile jedoch ein wenig zu groß für sie war, weshalb sie den Saum beim Laufen ein ganzes Stück hochheben musste. Kurz vor der Kutsche blieb sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stehen. Ihr Blick wanderte über all die Goldverzierungen bis hin zu dem Kutscher, der in einen Samtanzug gekleidet war, der zwar zu seiner mageren Statur passte, aber keineswegs jemals für einen Erwachsenen dieser Größe geeignet gewesen wäre. Auch wenn sie ahnte, wer gleich vor ihr stehen würde, konnte sie es nicht begreifen.
Nur etwa eine Minute später folgte eine noch ältere Frau mit einem Mädchen an ihrer Seite, über dessen Gesichter sich nach einigen Sekunden strahlende Lächeln zogen. Die Dalorys waren den Edevans immer treu gewesen, wenigstens ein kleiner Teil der Familie. Weder für die gutmütige alte Frau noch für ihre geschwätzige kleine Tochter gab es keinen Zweifeln, dass Laurence Edevan zurückgekehrt war, um die Verantwortung zu übernehmen. Das kleine Mädchen, das sich die letzten Tage im Hintergrund gehalten hatte, hüpfte auf und ab vor Freude, dass nun endlich etwas anderes als diese ewige Verbitterung im Haus seinen Platz finden konnte. Dorothy würde tatsächlich ihre heitere, wenn auch nicht sonderlich überlegte Art niemals aufgeben, selbst nicht, als sie Jahrzehnte später noch im Dienst dieser Familie stand.
Laurence überprüfte noch einmal jedes Detail. Er hatte sich nur für diesen einen Tag ein weißes Leinenhemd zugelegt, dessen weißer Kragen bis über sein Kinn hinausreichte, darüber eine Weste, die zwar etwas schief geschnitten, dafür aber mit beinahe wertlosen Goldknöpfen verziert war, die dennoch einen guten Eindruck machten. Die Anzughose war genauso wie die Anzugjacke in einem tiefen Blau gehalten, wobei er diese nicht für sich hatte anfertigen lassen, sondern gleich aus einem feinen Haus mitgenommen hatte. Das Halstuch aus Seide wiederum hatte er sich herstellen lassen, damit es sowohl zum Anzug als auch zur Weste passte. Auf einen Hut hatte er verzichtet, da er einen solchen nur für störend hielt und zudem seinen alten Mantel im Gepäck hatte, wenn es doch unerwartet regnete. Für etwas noch Feineres hatten ihm passende Arbeiter gefehlt, die sich mit derartigen Kleidungsstücken auskannten.
"Kutscher, die Tür", kommandierte er.
Baxter ließ sich von dem Kutschbock gleiten, befestigte die Zügel und öffnete die Tür mit viel Schwung. Laurence richtete sich in der Kutsche auf und setzte einen Fuß vor den anderen, bis seine Zehenspitzen schon über den Rand hinausragten. Mit einem beherzten Satz sprang er und landete ohne die kleinste Schwankung direkt vor Cathleens Mutter. "Madam, es ist mir eine Ehre nach all dieser Zeit." Ein triumphierendes Lächeln zog sich über sein Gesicht, als er sich verbeugte.
"Laurence, du bist es tatsächlich! Was nur aus dir geworden ist!" Sie war so verblüfft, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte.
"Was aus mir geworden ist? Ein Lord, wenn Sie auf meinen jetzigen Titel anspielen möchten. Ein Stadtbesitzer, wenn Sie meine Besitztümer meinen. Und wenn Sie nach meinem Charakter fragen wollen, so habe ich mich bis jetzt nicht geändert." So viel Bissigkeit, ohne dabei auch nur ein einziges Mal den freundlichen Ton zu verändern, ließ sie erschaudern. Laurence hatte sich tatsächlich nicht geändert, jedenfalls nicht im Grunde seines Wesens. Doch die Sprüche, die von einem kleinen Jungen nur misslungene Scherze waren, waren von einem mächtigen Mann ein Griff nach der Kehle.
"Natürlich, es tut mir leid, Lord Edevan, wenn ich Sie verärgert habe." Sie lächelte so liebenswürdig, wie sie nur konnte. Genauso wie ihr Gegenüber fragte sie sich, wo Cathleen gerade war, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen. Wenn sie ihn früher für eine schlechte Partie gehalten hatte, so würde sie nun dutzende Meilen entfernt nach jemandem suchen, der ihn endlich zum Teil ihrer Familie machen konnte. Zu groß war die Angst von diesem Ort verbannt zu werden. Hassen konnte man unbedeutende Leute, wichtige Leute musste man lieben, ob man sie ertragen konnte oder nicht.
"Es war keineswegs als Kritik gemeint, eine solche würde ich mir nicht erlauben. Wenn Sie nun erlauben, dass ich mich auf die Suche nach meiner Verlobten begebe ..." Er verbeugte sich nochmals und ging geradewegs auf das Haus zu. Cathleens Schwester ignorierte er dabei genauso wie seinen Kutscher, wobei er diesen wenigstens noch kurz ansah.
Mit festen Schritten lief er durch die offene Tür und blieb am Treppenabsatz stehen. "Cathleen?" Seine Stimme zitterte so stark wie noch nie. Das war der Moment, den er am meisten erwartet und doch am meisten gefürchtet hatte.
Sie erschien auf der Treppe, ihm gegenüber. Sie sah längst nicht mehr so fein aus wie vor fünfzehn Monaten, doch Laurence bemerkte das zerrupfte Kleid und die verknoteten Haare nicht einmal. Für ihn war sie immer noch die junge Frau, die er aus ganzem Herzen geliebt hatte, als sein Vater ihm die Hochzeit verboten hatte. Ihre braunen Augen waren für ihn nie stumpf oder mutlos gewesen, wie sie nun auf jeden anderen wirkten, genauso wie ihr Gang immer der eines kleinen Mädchens geblieben war, das niemals müde werden konnte.
Dieser verklärte Blick, der sie nun musterte, ohne auch nur irgendeine der dutzenden Veränderungen wahrnehmen zu können, ähnelte dem ihren. Alles war so perfekt wie eh und je. Kummer und Sorgen waren plötzlich vergessen und sie fühlte sich wieder wie die junge Frau, die sie noch immer für ihn war. Es hatte sich nichts geändert, jedenfalls kam es ihr so vor. Ein Traum wurde war und die Zweifel waren allesamt vergessen. Wenn es Liebe gab, wie sollte es da Leid geben?
"Laurence!" Sie stürmte die Treppe hinunter direkt in seine Arme. Sie lachte so laut, wie sie nur konnte und er stimmte mit ein. So glücklich war keiner von ihnen jemals gewesen. Nichts als Freude lag in ihren Blicken. Fragen waren keine nötig; die Gefühle hatten sich einander gegenüber nicht geändert.
Drei Tage später stand schon die Hochzeit an. Laurence hatte nach dem nächsten Geistlichen geschickt, der zu finden war und Baxter hatte keinen Tag später schon einen gefunden. Ein Kleid für Cathleen hatte Laurence vorsorglich mitgebracht, also stand den Feierlichkeiten nichts im Wege.
Mit langsam Schritten lief sie den Gang der Kirche entlang, die nur für diese Veranstaltung wieder in Ordnung gebracht worden war. Die dutzenden Schichten des provisorisch aneinandergenähten Tülls raschelten über den Boden und ihre Augen leuchteten. Die Euphorie des Moments konnte durch nichts unterbrochen werden. Es war kein sonniger Tag, es war nicht einmal ein warmer Tag oder sonst einer, der für solch ein Fest besonders geeignet war, dennoch waren alle Blicke erwartungsvoll auf das Brautpaar gerichtet.
Kaum an der Seite von Laurence angekommen, ergriff dieser schon ihre Hand und warf ihr einen liebevollen Blick zu, den sie erwiderte. Seine Gesichtszüge schienen so sanft, dass man beinahe glauben könnte, er hätte niemals ein harsches Wort von sich gegeben.
"Nehmen Sie, Sir Laurence Edevan, die hier anwesende Cathleen zu ihrer Ehefrau? Wollen Sie ihr die Treue halten, bis dass der Tod euch scheidet?" Der Pfarrer versuchte, die Hochzeit so kurz wie nur möglich zu halten, bevor sich das Wetter noch verschlechtern würde. Da ihn Baxter bei einem Spaziergang zum Brunnen mit dem Versprechen auf eine Karre voller Kartoffeln und Äpfel überredet hatte, fehlte ihm sowohl ein warmer Mantel als auch das richtige Schuhwerk für den gesamten Weg bis zurück zu seinem Haus im strömenden Regen.
"Ja, ich will." Seine Stimme donnerte durch den Raum ohne irgendetwas von den Strenge zu haben, die sonst immer mitschwang.
"Nehmen Sie, Cathleen, den hier anwesenden Sir Laurence Edevan zu ihrem Ehemanne? Wollen Sie ihm die Treue halten, bis dass der Tod euch scheidet?"
"Ja, ich will!" Ein breites Lächeln zog sich über sein Gesicht. Der Traum, den sie schon als Mädchen hatte, wurde nun Wirklichkeit. Es war, als würde diese Hochzeit die Lösung für alle Probleme sein.
"Damit erkläre ich euch zu Mann und Frau."
Sekunden später waren Laurence und Cathleen schon in einem innigen Kuss vertieft. Für den Moment war alles perfekt. Es gab kein Kummer, kein Leid und keine Zweifel. Ein Traum war Wirklichkeit geworden und die Zukunft erschien in einem gleißenden Licht vor ihnen. Nichts hätte schöner sein können. Es waren nicht nur die Sekunden, die dieser Kuss andauerte, es waren auch die Tage und Wochen zwischen den Eindrücken der Realität voller Schrecken, die jeder von ihnen genoss. Sie wollten all das Schlechte vergessen, all die Hoffnung der letzten Jahrzehnte endlich umsetzen. Was konnte schöner sein als wahre Liebe?
Denn Liebe kann Herzen erleuchten, jedoch niemals den Schatten vollends verdrängen---
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