
Fünfzehnter Brief I Glück und Unglück
30.4.1799
"Liebe Cathleen,
das Blatt hat sich gewendet für alle. Abermals. Ich weiß nicht, ob die Nachricht bei euch auf dem Lande schon angekommen ist, doch es ist zu Ende. Die Krankheit ist zu Ende. Es gibt keinen einzigen Kranken mehr, jedenfalls keinen lebendigen.
Wie viele gestorben sind, weiß niemand. Die offizielle Ankündigung unseres neuen Monarchen erfolgte hier vorgestern. König George ist tot. Der neue König George scheint zudem auch nicht lang genug überstanden zu haben, der Bote sprach von so wenigen Stunden, dass er nicht einmal dem gebliebenen Volke als Oberhaupt unserer Monarchie vorgestellt werden konnte. Wer genau den Thron nun geerbt hat, kann ich überhaupt nicht genau sagen. Bei fünfzehn Söhnen und Töchtern kann man es wohl nicht wissen, denn so lautete die Erklärung des Boten. Offensichtlich hatte er sich nicht getraut zu fragen und eine Krönung konnte noch nicht vollzogen werden, da niemanden mehr gibt, welcher seine Krönung vollführen und oder nur währenddessen beiwohnen könnte.
Großbritannien liegt am Boden. Zum Glück geht es in anderen Ländern nicht viel besser zu, wie ich vernehmen konnte. Ob es woanders auch eine Stadt gibt mit leeren Straßen und verlassenen Häusern? Ob man sich anderswo auch in jedes beliebige Haus setzen kann, nach Belieben speisen und trinken und die Wärme des Ofens genießen? Ich glaube kaum, diese Stadt scheint tatsächlich untergegangen zu sein. Siebzehn Menschen, mehr ist hier nicht geblieben und dabei müssten es einmal mindestens vierhundert gewesen sein. Es könnten vielleicht auch zehn mehr sein oder gar doppelt so viele, wenn sie sich gut genug versteckt haben, aber das wird an allem nicht viel ändern. Nachricht aus umliegenden Anwesen gibt es keine. Einzig und allein über die großen Städte habe ich erfahren und sie scheinen auch trotz hunderttausender Einwohner nicht viel mehr Überlebende zu haben als wir hier.
Wir beide scheinen viel Glück gehabt zu haben in der letzten Zeit. Vielleicht werde ich nun sogar einen Weg aus dieser Misere finden. So wenige gebildete Leute, wie derzeit noch am Leben sind, wird sich schon einige Möglichkeit für mich auftun. Was für den einen das größte Unglück sein kann, wird für mich der größte Glücksfall inmitten all dieser Probleme.
11.5.1799
Vermutlich hast du auch von den Goldfunden gehört. Der Westen England wie auch Irland sollen damit gefüllt sein und jeder scheint daran zu glauben. An Verstand mangelt es vielen schlichtweg, denn ob die Behauptung stimmt, in diesen Zeiten nicht einmal von Belang. Selbst wenn jeder einzelne eine ganze Tonne von Gold findet, wird niemand in diesem Land hier reich werden. Wer sollte es kaufen? So weit hat niemand gedacht, vielleicht wollen sie es auch nicht in ihrem Freudentaumel. Aber mein neuer Freund und ich haben uns schon einen Plan überlegt, wie wir es schaffen, in diesen Zeiten doch etwas zu erreichen.
Eventuell könnte es der falsche Zeitpunkt dafür sein, in Euphorie auszubrechen, doch all die Schadensfreude lässt sich kaum zurückhalten. Es ist an der Zeit, dass aus Laurence Edevan etwas wird. Es ist an der Zeit, dass ich allen beweise, wer ich bin. Und in solchen Momenten ist selbst der Traum von einem Schloss nicht falsch. Wenn mein Verstand Recht behält, wie er es immer getan hat, so werde ich dieses Mal siegen. Was der anderen Unglück ist, wird eben mein Glück sein.
7.6.1799
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Lange Zeit sind wir gereist. Ich wollte nur zurück, um dir diesen Brief zu geben und dich vielleicht auch wiederzusehen. Doch dann? Kaum dass ich in der nächstliegenden noch bestehenden Stadt angekommen war und mich umhörte, was zum Verkauf stand, da musste ich mit Schrecken feststellen, dass es das Lorington-Anwesen war.
"Sieben Hektar Ackerfläche, geräumiges Haus mit dazugehörigem Obstgarten. Fünf Bewohner, ausschließlich Frauen. Zwei Bedienstete für niedere Arbeiten", so lautete die Ausschreibung, welche ich zwischen so vielen anderen las. Seitdem man nur noch über diese Halsabschneider, welche sich noch Vermittler nannten, Häuser kaufte, waren solche Sätze nicht unüblich. Auf den ellenlangen Listen der großen und kleinen Anwesen fand ich nicht selten etwas, was mir zusagte. Wenn diese Trottel auch all ihr Hab und Gut verkauften, nur um Gold schürfen zu gehen, musste jemand all dieses Land besitzen. Zudem waren die Preise oft so unglaublich tief gegriffen, dass mein Geld ausreichte. Es mein Geld zu nennen wäre etwas hoch gegriffen, nachdem es erst das der Toten aus der Stadt und dann das derer aus den gekauften Häusern war, doch vermissen tut es immerhin niemand. Bis all diese verrückten Männer aus den Schächten ans Tageslicht zurückkehren und ihren Fehler bemerken, werde ich schon einiges an Land besitzen.
Beinahe hätte ich wie so üblich einfach die nötigen Goldmünzen für die Anwesen herausgekramt, wäre mir nicht diese Ähnlichkeit zu der Situation aus deinen Briefen wieder eingefallen.
"Wer hat Ihnen dieses Stück Land verkauft?" Ich musste den jämmerlichen kleinen Kerl hinter dem Tresen seines provisorischen Ladens so durch meine eiskalte Stimme erschreckt haben, dass er sich augenblicklich duckte. Vermutlich hatte schon so mancher hier zum Faustschlag ausgeholt, jedoch würde es für mich nicht viel bringen, deshalb ließ ich es lieber. "Ich würde nur gerne diese Information erhalten, sicherlich reicht ihr Verstand dafür aus."
Er kletterte wieder hervor und starrte mich an, als wäre ich ein Raubtier oder etwas Ähnliches. "Ich weiß es nicht."
"Denken Sie in Ruhe nach. Sie würden doch gerne sämtliche Ihrer neulich erworbenen Grundstücke wieder loswerden? Wie wäre es für einen kleinen Aufpreis, damit Sie sich auch selbst ein Grundstück leisten können, vielleicht im Zentrum einer der wenigen noch existierenden Städte? Sie wissen schließlich genauso gut wie ich, dass diese Goldfunde in einem einzigen Desaster enden werden und das niemand danach wissen wird, wohin zurückkehren."
Der kleine Mann mit wirrem Haar und einem vollkommen verstaubten Anzug brach in Tränen aus. "Ich würde alles so gerne selbst behalten, aber wenn diese ganzen gefährlichen Männer wiederkommen, lande ich doch tot in dem nächsten Fluss!"
Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Solch einen ängstlichen Kerl würde jeder in Wut sofort zusammenschlagen ohne Rücksicht auf Verletzungen. "Nun, das ist Ihre Angelegenheit. Doch da wir offensichtlich dasselbe Ziel verfolgen, sollten Sie einmal Ihren Kopf benutzen. Denken Sie nach, wer Ihnen dieses Anwesen verkauft hat. Wenn Sie schon dazu in der Lage waren, so manch eine Tatsache zu bemerken, kann Ihr Verstand nicht vollends verloren sein."
Der Kleine zog seine Augenbrauen eng zusammen und schien tatsächlichen den letzten Rest seiner Intelligenz in den Weiten seines beinahe leeren Kopfes zu suchen. "Oh, ich glaube es waren Männer. Zwei, wenn ich mich nicht irre. Und eines von ihnen sprach etwas seltsam ... es könnte ein schottischer Akzent gewesen sein."
Ein schottischer Akzent. David O'Cesser. Und der andere war bestimmt einer der anderen Ehemänner deiner Schwestern gewesen. Taugenichtse durch und durch, das waren sie schon immer gewesen.
"Ich ahne, wer es war. Nundenn, ich würde gerne alles aufkaufen." Ich zog meinen Geldbeutel aus der Tasche und kippte den gesamten Inhalt auf dem Tisch aus. Egal, ob es nun viel zu viel war, ich konnte keinen anderen Käufer riskieren.
Gierig sammelte er alles zusammen. Vermutlich hatte er schon befürchtet, bis zur Rückkehr all der desillusionierten Verräter keinen Käufer zu finden und dafür die Straße erhalten zu müssen. Es war durchaus riskant gewesen, genau wie das, was ich vorhabe. Aber wenn man nichts zu verlieren hat, wieso nicht auf die Gefahren zulaufen?
Während ich meine Karte hinauskramte, teils aus dem Gedächtnis nach alten Schulbüchern gemalt, teils auch von kleineren Ortskarten abgezeichnet, war er schon dabei alle Sachen zusammenzusammeln. Wie ich es schon in anderen Gegenden getan hatte, faltete ich die riesige Stoffkarte auf und markierte mit einem roten Stift die Gebiete, welche ich aufgekauft hatte. Zwischendurch fragte ich nach, wie weit die Anwesen tatsächlich reichten, denn manche davon hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Und nun gehört all das mir. Ich kann es selbst noch nicht wirklich fassen.
Bevor ich mich umdrehte und wieder ging, hatte ich noch einige wichtige Worte. "Achten Sie beim Kauf darauf, dass Sie an das Anwesen eines Verstorbenen geraten. Alles andere würde unschöne Konsequenzen haben, mit denen Sie wohl weniger gut umgehen können als ich. Und vor allem sollten Sie nicht überstürzt flüchten. Zuerst sollten Sie jeden in diesem Gebiet Lebenden mitteilen, dass ein Laurence Edevan alles hier aufgekauft hat. Es dauert vielleicht ein wenig, doch wenn Sie möchten, können Sie auch meine Kutsche behalten. Es ist jedenfalls sehr wichtig, dass jeder es erfährt."
Eigentlich wollte ich persönlich kommen, ich weiß, doch es ging nicht anders. Wenn der Herbst begann, würden die Ersten ihren Fehler bemerken und zurückkehren und bis dahin musste ich gewonnen haben. Je mehr ich aufkaufte, desto mehr Leute kannten mich und bezeugten, dass ich tatsächlich der rechtmäßige Besitzer war. Zudem würde ich so schnell an Einfluss gewinnen, vielleicht sogar in Kontakt mit der königlichen Familie geraten, wenn ich Glück hatte. So leid es mir tut, ich bin nun auf dem Weg an die westliche Grenze zu Schottland, da hier mein Teil getan ist.
Ich muss zugeben, ohne meinen neuen Freund wäre ich schnell gescheitert. Nicht, dass mein Verstand nicht dahinter gekommen wäre, welches Schicksal allen drohte, die weggingen. Nein, viel eher wäre ich nicht darauf gekommen, diesen Weg, welchen ich nun gehe, mit dem Geld anderer zu finanzieren. Mit dem Geld, welches nach diesem Goldrausch wertlos sein wird. Seltsamerweise fange ich an, diesen unfassbar unhöflichen und hässlichen Menschen zu mögen. Ich weiß selbst nicht, wie es zu erklären ist. Auch wenn er keine Herkunft hat, hat er mehr Verstand, als es auf Anhieb scheint. Und obwohl die Methoden mehr als fragwürdig sind, beweist er jeden Tag aufs Neue Geschäftssinn. Einzig und allein diese ewigen Scherze über alles Mögliche sind nach wie vor nervig, aber damit kann ich mich abfinden. Ich muss zugeben, ich habe einen echten Freund gefunden.
31.7.1799
Hast du schon die Welt gesehen? Die richtige Welt außerhalb dieses winzigen Ortes und dieser erbärmlichen Stadt? Hast du London gesehen, warst du schon an allen drei Küsten Englands gewesen und sogar bis in den tiefsten Westen Wales gelaufen, wo man nur noch mit den eigenen Füßen über das Gelände kommt? Hast du gewusst, dass es hier sogar Berge gibt und dass unser Fluss Ewigkeiten weit übers Land führt? Hast du jemals von irgendwo am Meer die Küste eines anderen Landes gesehen? Eines Tages wirst du es. Eines Tages nehme ich dich mit ins Nirgendwo, in diese wunderbare Ewigkeit. Eines Tages wirst du das Land sehen, welches ich aufgekauft habe. Eines Tages wirst du unser Stück Land sehen, das beinahe von einem Ufer zum nächsten reicht.
Während bei anderen die Ernüchterung beginnt, dass ihr Wahn sinnlos war und sie keine Möglichkeit zur Umkehr haben, beginnt für mich nun eine vollkommen neue Zeit. Ich habe schon einige Zeit in London verbracht und tatsächlich den neuen König höchstpersönlich kennengelernt. William der Vierte ist es geworden, nachdem beide ältere Brüder die Krankheit nicht überstanden hatten. Seine offizielle Krönung, obwohl er zuerst über ein Abdanken nachgedacht hatte, fand vor zwei Wochen statt. Ich hätte mir kaum vorstellen können, dass es ein so bürgerlich wirkendes Fest werden würde, doch das war es. Die Einzelheiten werden wohl kaum alle in einen Brief hineinpassen und vor allem sollte ich mein Briefpapier wie auch meine Zeit zusammenhalten. Wenn all das vorbei ist, werden wir schließlich persönlich miteinander reden können. Hoffentlich wird bald alles vorbei sein.
Bis bald.
Dein
Laurence Edevan"
Wieder waren mehrere Monate vergangen und kein einzelner Brief ist verschickt worden. Vieles hatte sich verändert. Aus Unglück war Glück geworden, jedenfalls für einzelne. Sowohl Laurence als auch Stewart waren angesehene Leute geworden. Welchen Preis andere für einen simplen Fehler zahlten, beachteten sie nicht einmal. Sie hatten gewonnen und nichts anderes zählte noch. Doch dass all die Euphorie eines Tages verschwinden würde, daran dachte noch niemand. Es hatte sich ein Weg steil nach oben ergeben und bis sie nicht dort angekommen waren, würde keiner auch nur ein einziges Mal nach unten oder gar zurück schauen.
Denn manchmal ergibt sich das Glück des Einen aus dem Unglück des Anderen---
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro