*27 Auf dem Weg
Mit abwesendem Blick saß ich im Zug und starrte den Bahnhof an, in den wir gerade einfuhren. Unser Bahnhof, unser Ziel. "Hey, Babe. Wir sind da." Keine Reaktion. "Alles okay?" Ich sog tief die Luft ein. "Ähm, ja, alles okay. Hast du den Rucksack?" Ein wenig misstrauisch nickte Will. Als der Zug hielt, stiegen wir schnell aus und suchten uns einen Weg aus dem Gewirr aus Menschen, Koffern und Hunden. Man konnte auch einige Werwölfe riechen, aber wir hielten uns versteckt, weil wir in einem fremden Revier waren. Zwar hätte ich mich ruhig offen zeigen können, aber ich wollte die Aufregung, die immer aufkam, wenn ein Wächter unangemeldet in ein Revier kam, vermeiden. "Wirklich alles gut?", er hörte sich sehr besorgt an. "Ich hab nicht gesagt, dass alles gut ist. Es ist okay. Das ist ein Unterschied." Er seufzte über meinen kalten Ton und nahm meine Hand. Schweigend verließen wir die große, laute Stadt. Immer wieder setzte Will zu einem Gesprächseinstieg an, doch immer wieder scheiterte er. Ich ertappte mich, wie ich automatisch nach toten Seelen suchte, die ich weiterleiten musste. Es gab ein paar, wenige. Ich sah, was sie hinter sich lassen mussten und dachte darüber nach, ob sterben für den Toten nicht noch schwerer war, als für die Hinterbliebenen. Dass ich gestorbene Seelen unterbewusst ins Jenseits schickte war mir erst vor kurzem aufgefallen. Es war plötzlich so in meinem Kopf verankert, dass ich sogar nachts im Halbschlaf meine Gabe verwendete. Ich dachte, dass das bestimmt gut so sei. Dann wäre ich nicht immer so im Rückstand und musste viele Seelen auf einmal in die zweite Welt schicken, sondern konnte dort eingreifen, wo ich gebraucht wurde. Es war also gut so. Ich seufzte. Verdammt, Noah fehlte mir. "Hey, wenn wir bei der Wächterin ankommen, wie ist dann der Plan?", fragte Will und bekam endlich meine Aufmerksamkeit. Diesmal ging ich darauf ein. "Also, die anderen kommen erst morgen Mittag, deshalb wirst du Elena erst mal kennenlernen, dann essen wir und reden und können dann schlafen. Vielleicht schauen wir noch einen Film! Morgen helfen wir ihr dann mit vorbereiten oder mit ihren Kindern." "Kinder?" Ich seufzte und nickte dann. "6 Kinder. Einjährige Zwillinge, zwei Mädchen im Alter von 6 und 8 Jahren und zwei fünfzehnjährige Jungs." Kurz blieb es still. Wir verließen die Stadt und liefen eine Landstraße entlang, auf einen Wald zu. "Weißt du, wir sind gerade zweieinhalb Monate zusammen und denken übers Heiraten und Kinder kriegen nach..." Ich sah auf den Boden. Er hatte recht, das ging zu schnell. Ich sollte alles ein wenig lockerer sehen, schauen, was die Zukunft bringt... Will ließ meine Hand los. Shit, was hatte ich nur wieder angestellt? Eine Hand legte sich sanft um mein Kinn und zwang mich dann, das dazugehörige Gesicht anzusehen. Will lächelte sanft. "Ich kann mir keine andre Zukunft vorstellen, ist das nicht komisch? Bei mir dreht sich alles um dich. Und deshalb rück bitte endlich mit der Sprache raus!" Ich löste mein Kinn aus seiner Hand. "Heute Abend, okay? Zuerst gehen wir zu Elena." Er nickte, blieb aber vor mir stehen, sodass ich nicht weitergehen konnte. "Ist noch was?" Er grinste schief und nickte. Seine Augen sprangen immer wieder auf meine Lippen, aber er hielt sich zurück. Provokativ biss ich auf meine Unterlippe, sodass Will leicht die Nase verzog, weil er mich küssen wollte. "Ich habe Angst um dich... Übernimm dich nicht. Du bist gerade erst ein paar Wochen wieder ein Wächter und ich sehe, wie es dich zerstört. Pass auf, dass es du nicht zerbrichst... Und ... Ich weiß, es passt nicht zum Thema, aber-" er drückte seine Lippen kräftig auf meine und ich erschauderte leicht, bevor ich erwidern konnte. Das berauschende Gefühl ließ mich kurz alles vergessen. All den Scheiß. Denn Will hatte recht. Bei all den Sachen, die passiert waren, hatte ich nicht bemerkt, wir ich darunter litt: Ich war müde, schwach, oft traurig. Meine Haut war blass, ich trug tiefe seelische Wunden. Verlust und Last durchzogen mein Herz. Ich lehnte meine Stirn gegen seine. "Es wächst mir über den Kopf, Will... Noah ist tot, und meine Aufgabe ist mir zu schwer. Ich muss wieder trainieren, weil ich den anderen weit hinterher bin und muss plötzlich so viel... mehr sein und hergeben." Er fuhr mir sanft über die Wange. "Nimm dir nicht zu viel vor. Fürs erste musst du in dein Amt finden und den Tod deiner Schwester verarbeiten. Danach kannst du daran denken, wie viel du aufholen musst. Und vergiss niemals: Du bist nicht allein. Du musst dich nicht nachts rausschleichen, um trainieren zu können, ohne dass ich es bemerke. Ich merke es nämlich und mache mir dann auch noch Sorgen um unsere Beziehung, wenn du mir etwas das dir schadet nicht erzählst." Ich sah ihn etwas verletzt an. "Denkst du etwa, ich vertraue dir nicht?" Er sah zu Boden und drehte sich ein Stück weg. "Manchmal,... da..." Ein wenig erschrocken sah ich ihn an. Dann bewegte ich mich wieder auf meinen Freund zu und küsste ihn, um ihn von Gegenteil zu überzeugen. "Lass uns weitergehen." Er nickte sanft lächelnd und schnappte sich wieder meine Hand. "Ich liebe dich, Five." "Ich liebe dich, Will."
Etwa 15 Minuten später kamen wir als Wölfe an einem Haus am Waldrand an, das man gerade so zu einem Neubaugebiet zählen konnte. Vorsichtig schlichen wir uns hinter das Haus und wurden dort zu Menschen. Ich lugte um die Ecke. Kein Mensch in Sicht, die Luft war rein. Also gingen wir um das Haus herum zu der hölzernen Haustür. Ich atmete tief durch, sah nochmal auf die Uhr (14:32h) und klingelte dann. Ein kleines Mädchen öffnete mir. "Hi!", lächelte sie. Sie trug ein pinkes Prinzessinnenkleid und man sah eindeutig die Ähnlichkeit mit Elena. "Mary? Kommst- oh, wer sind Sie?" Ein Junge mit hellbraunen Haaren kam von hinten zu dem kleinen Mädchen und hob sie hoch. Hinter ihm tauchte ein identisch aussehender Junge auf. "Ähm, wir... Ich bin Five, ein Freund eurer Mutter." "Ach, sie sind der 5. Wächter! Entschuldigen Sie.", meinte der zweite, rammte seinem Zwilling den Arm in die Seite und öffnete die Tür dann weiter. Will und ich traten zögernd ein. "Unsere Mum ist noch schnell Dad abholen, er hat seinen Zug verpasst. Aber Sie können sich gerne setzen!", bot der zweite Junge uns an. "Du kannst mich gerne Duzen. So alt bin ich auch noch nicht!", schmunzelte ich und der Junge wurde leicht rot. "Ähm, klar... Also ich heiße Dennis und das ist mein Bruder Marik und unsere zweitkleinste Schwester Mary." Ich nickte und zog Will den Rucksack von den Schultern. "Denni, bringst du Mary hoch?" Dennis nickte seinem Bruder zu, nahm ihm die kleine Prinzessin ab und ging mit ihr die Treppe hoch. Marik führte uns in das Wohnzimmer. "Setzt euch, ich hole euch was zum Trinken." Ich schüttelte den Kopf. "Nein, lass mal. Du kannst dich zu uns setzen." Zögernd sah Marik uns an. "Sicher?" Ich nickte. "Ich weiß nicht... Mum sagt immer, wir sollen höflich sein, wenn Wächter kommen.", meinte er dann und Dennis kam zurück ins Zimmer. "Das wart ihr auch.", sagte Will nun schmunzelnd. "Aber im Moment ist Five nicht als Wächter hier, sondern als Freund eurer Mutter." Die beiden sahen sich kurz an und lächelten dann. "Na gut." Damit setzten sie sich auch auf die Couch. "Darf... darf ich mal was blödes fragen?", fragte Dennis und erntete einen warnenden Blick seines Bruders. Ich zuckte mit den Schultern. "Die blöden sind die besten Fragen." Will sah mich fragend, aber schmunzelnd von der Seite an. Dann legte er mal wieder einen Arm um meine Hüfte. "Ähm... ihr zwei... seid ihr zusammen?"
~~
Spät, ich weiß!
Kontrolliert!
Bis bald!
AOF.
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