Kapitel 6 - Vince
Es dauerte etwas mehr als eine Woche, bis Vince Flo wieder besuchen konnte. Dazwischen verlangte Nina nach seiner Aufmerksamkeit, weil Vince ihrer Meinung nach nicht einfach so von der Bildfläche verschwinden durfte. Sie hatte ja recht. Er hatte alle seine Pflichten vernachlässigt, keine Termine bestätigt und noch nicht mal angefangen, über das neue Album nachzudenken, an dem er eigentlich arbeiten sollte. Aber es hatte sich nun mal alles auf einen Schlag für ihn geändert und jetzt sofort Songs darüber zu schreiben, hätte nicht funktioniert. Er musste sich erst an alles gewöhnen, vor allem daran, wie schnell Flo ein Teil seines Lebens geworden war.
Flo selber sah das vielleicht ganz anders. Es war absolut möglich, dass Flo Vince nur um sich haben wollte, weil er ein Fan von ihm war. Das wollte Vince zwar nicht wahrhaben, aber der Gedanke hielt sich hartnäckig in seinem Hinterkopf. Nach allem, was Vince wusste, war Flo nicht in ihn verliebt. Das war okay. Es musste okay sein. Man konnte niemanden zwingen oder irgendwie anders dazu bringen, sich zu verlieben. Vince erinnerte sich regelmäßig daran, deswegen nicht betrübt zu sein. Er war in Flo verliebt und nichts anderes zählte. Leider hatte er nur das Gefühl, vielleicht noch ein bisschen lieber Zeit mit Flo zu verbringen, wenn er Vince' Gefühle erwidern würde. Dafür schämte Vince sich dann jedes Mal. Flo ließ es zu, dass Vince ihn besuchte, ihm Blumen schenkte und jeden Abend vor dem Einschlafen eine Nachricht schickte. Was wollte Vince denn mehr? Ausschweifende Liebeserklärungen in einem Heißluftballon bei Sonnenuntergang?
Irgendwie schon. Ja, irgendwie war das genau das, was er wollte. Er würde das nicht kriegen und das wusste er und fand es zutiefst traurig. Vielleicht sollte er doch mal langsam anfangen, Songs zu schreiben. Gerade erschloss sich für ihn das unendliche Feld der Lyrik über unerwiderte Liebe. Er würde noch zum Petrarkismus mutieren, wenn er nicht vorsichtig war.
Als Vince bei seinem nächsten Besuch Flos und Naomis Zimmer betrat, war er allerdings bester Laune, wie immer, wenn es darum ging, Flo endlich wieder zu Gesicht zu bekommen. Flo war aber gar nicht da und nur Naomi lümmelte auf ihrem Bett, den Laptop auf dem Schoß.
„Hi, Vince", begrüßte sie ihn. „Wie geht's?"
„Gut. Ich hab dir Schokolade mitgebracht." Er zog eine Pralinenpackung aus der Innentasche seiner Jacke und reichte sie ihr.
„Wow, danke!" Sie betrachtete eingehend die Schachtel, ehe sie ihn wieder anschaute, ein schiefes Lächeln auf den Lippen und Schalk in den Augen. Sie hielt ihn absichtlich hin. „Du möchtest vermutlich zu Flo?"
Er legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch.
„Okay, okay." Sie lachte. „Er ist vermutlich auf dem Dach. Aber sei gewarnt, es ist irgendwas im Busch."
Vince hatte sich bereits umgedreht und hielt jetzt mitten in der Bewegung inne. „Was meinst du damit?"
Naomi hob die Schultern. „Er hatte heute irgendeinen Termin. Danach ist er hier reingerauscht, hat sich seine Kamera geschnappt, 'Dach' gesagt und ist abgehauen. Das war vor zwei Stunden oder so."
Er hatte gar nicht vorgehabt, vorwurfsvoll zu klingen. „Und du bist ihm nicht hinterher?"
Naomi schüttelte den Kopf. „Wenn wir aufs Dach gehen, wollen wir unsere Ruhe. Das muss man dann eben respektieren. Aber für dich macht er bestimmt eine Ausnahme."
Vince überlegte eine Sekunde, dann verabschiedete er sich von Naomi und ging eilig zurück zu den Fahrstühlen.
Flo saß auf einem Tisch mit dem Rücken zum Gebäude und fotografierte die Wolken. Vince beobachtete ihn eine Minute lang dabei, bevor er näherkam und sich räusperte. Ein Lächeln huschte über Flos Gesicht, als er Vince bemerkte, dann hob er wieder die Kamera ans Gesicht und schaute durch den Sucher in den Himmel. Vince setzte sich auf den Stuhl neben Flo und sah ihm dabei zu.
Es schien wirklich etwas im Busch zu sein, wie Naomi gesagt hatte.
„Hey, Flo." Vince versuchte Flo mit seinem Namen aus der Reserve zu locken und es funktionierte auch fast. Das Lächeln tauchte unter der Kamera wieder auf, aber Flo machte keine Anstalten, zu antworten.
„Hast du die Wolke da drüben schon gesehen? Sie sieht aus wie eine Ente mit einem Sombrero."
Nicht mal ein kurzes Lachen. Vince bekam als Antwort nur ein „Hmm", sonst nichts.
Da saß er und schaute zu Flo nach oben, der ihn ignorierte und ein Teil von Vince sagte, dass er am besten wieder gehen sollte. Er war nicht erwünscht. Aber das wäre der leichte Ausweg und Vince wollte auch eigentlich gar nicht gehen. Was er wollte, war Flo aufzumuntern, doch er wusste nicht, wie. Schweigen legte sich über sie und über den Rest der Welt, wie es schien. Die Verzweiflung in Vince wuchs immer weiter, er fragte sich, ob er etwas falsch gemacht hatte. Ob Flo vielleicht wollte, dass er ging.
„Hey, Flo", startete Vince einen zweiten Versuch, diesmal leiser und einfühlsamer. „Willst du drüber reden?"
Zuerst kam wieder keine Reaktion, dann hörte er Flo seufzen. „Du bist so aufmerksam", sagte er leise zu den Wolken. „Wieso war jemand wie du noch nie verliebt in jemanden?"
Vince dachte nicht einmal besonders lange darüber nach und ließ Flo nicht aus den Augen, als er antwortete. „Ich glaube, ich habe gewartet."
Flo wandte sich ihm zu, beobachtete ihn durch die Kamera, eine Hand am Objektiv. „Gewartet?"
„Auf dich."
Es machte Klick, als Flo ihn fotografierte, dann ließ er endlich die Kamera sinken und legte sie hinter sich auf dem Tisch ab. Er starrte weiter in den Himmel, aber das war zumindest ein Fortschritt.
„Ist denn ... irgendwas passiert?", fragte Vince und musste schlucken. Ihm fielen nur zwei Sachen ein, die Flo so aus der Fassung bringen könnten – entweder es war etwas in Sachen Krebs oder es lag einfach an Vince' Anwesenheit. Flo könnte seine Meinung über ihn geändert haben, das Flirten könnte ihm zu viel geworden sein. Vince hoffte inständig, dass es das war und nicht der Krebs. Bitte, bitte nicht der Krebs.
„Ja, ich ... nein, eigentlich ist es nichts."
Vince konnte nicht anders, er griff nach Flos Hand, die er auf dem Tisch abgelegt hatte. „Es ist nicht nichts."
Flo schaute kurz auf ihre beiden Hände, dann wieder über die Stadt. „Es ist nicht wichtig."
„Ist es doch."
Er schnaubte, zog aber seine Hand nicht weg. Vince konzentrierte sich ganz auf Flos Mimik und versuchte, seinen eigenen rasenden Herzschlag zu vergessen.
„Flo, ich will dich zu nichts zwingen oder so, aber wenn es dir nicht gut geht ... das gefällt mir einfach nicht, okay?"
Mit einer raschen Bewegung drehte Flo den Kopf und ihre Blicke trafen sich endlich, zum ersten Mal seit Vince heute angekommen war. Flo zog seine Hand weg und rutschte ein Stück zur Seite, klopfte aber dann mit schief gelegtem Kopf auf den Platz neben ihm. Vince ließ sich nicht lange bitten und setzte sich neben ihn, nicht ohne wieder Flos Hand zu nehmen. Jetzt hatte er einmal damit angefangen, da konnte er auch weitermachen.
„Es ist eigentlich dumm", begann Flo und Vince widersprach nicht, damit er weiterredete. „Ich hab heute zum ersten Mal Prothesen ausprobiert. Und es gab nur eine, die mir richtig gefallen hat und bei der ich dachte, damit wäre es halbwegs okay, nur ein verdammtes Bein zu haben."
„Das ist doch schon mal gut, oder?", fragte Vince.
„Ja, schon. Aber leider bezahlt die dämliche Krankenkasse bei dem Luxus-Scheißteil nicht genug dazu und finanziert mir nur die richtig hässlichen, unpraktischen Dinger."
Vince hätte beinahe gelacht, hielt sich aber gewaltsam zurück. „Wie teuer ist denn so ein gutes, praktisches Bein?"
Flo wand sich neben ihm. „Sechstausend. Und das auch nur, weil ich bei der Mobilität von den sogenannten Experten hoch eingestuft wurde. Wenn ich eine Prothese will, mit der ich mich nicht im Schneckentempo bewege und alle zehn Minuten Pause machen muss, soll ich sechstausend Euro dazuzahlen." Jetzt, wo er einmal angefangen hatte, gab es kein Halten mehr für Flo. „Und ich weiß, die Teile sind unglaublich teuer und die Krankenkasse bezahlt viel mehr, als die sechstausend, aber ich hab so viel eben einfach nicht und dass meine Lebensqualität deswegen so leiden wird, ist einfach scheiße und ich hasse es." Flo atmete tief durch und schaute dann Vince an. „Tut mir leid. Das interessiert dich sicher alles nicht."
Vince drückte Flos Hand, weil er sich nicht so schnell entscheiden konnte, was er sagen sollte. „Flo", begann er, „du hast keine Ahnung, wie sehr mich das alles interessiert. Ich will, dass es dir gut geht. Und dass du eine richtig gute Prothese kriegst."
„Ja, das will ich ja auch", murmelte Flo. „Aber es geht nun mal nicht."
Vince musste anscheinend mit dem ganzen Gartenzaun winken, nicht bloß mit dem Zaunpfahl. „Damit wollte ich sagen: Ich bezahle dir das Teil."
Flos Gesichtsausdruck war herrlich. Pure Überraschung, dann Abwehr. „Nein! Nein, du kannst nicht einfach ... das ist viel zu viel Geld, Vince, bist du bescheuert?"
Dafür war Vince so dankbar. Dass Flo sich bei ihm wohl genug fühlte, um ihn zu beleidigen. Es war keine Selbstverständlichkeit, fand er. „Hör zu, Flo, ich will nicht den Sugar Daddy raushängen lassen, aber für mich sind sechstausend Euro nicht besonders viel Geld."
„Für mich aber!"
Vince stand auf, stützte beide Hände auf der Tischplatte ab und beugte sich vor, sodass Flo seinem Blick nicht mehr ausweichen konnte. „Willst du diese Prothese?"
„Vince –"
„Ja oder nein?"
Flos Wangen glühten. „Ja."
„Dann bitte, nimm das Geld von mir an, ja? Ich würde mich freuen, dir zu helfen, ganz ehrlich. Flo."
Flo zögerte noch immer, aber er wollte ja sagen und das war alles, was Vince brauchte. Er würde ihn überzeugen, irgendwie.
„Ich ... ich zahle es dir irgendwann zurück, okay?", fragte Flo schwach.
Vince grinste triumphierend. „Das brauchst du nicht. Ich mache das eigentlich mehr für mich, als für dich."
Flo ging sofort auf seinen neckenden Tonfall ein, ob mit Absicht oder nicht, war schwer zu sagen. „Ist das so?"
„Ich will dich noch an so viele Orte mitnehmen und entweder du lässt mich dich tragen, oder du gehst selber."
„Du? Mich tragen?", prustete Flo, als wüsste er nicht, wie dünn und knochig er war.
„Glaubst du mir nicht?", erwiderte Vince provozierend und krallte die Hände auf beiden Seiten in den Stoff von Flos Shirt. Er spürte die Wärme durch den dünnen Stoff und hätte Flo viel lieber an sich gezogen, als ihn loszulassen.
Als Vince einen Schritt zurücktreten wollte, um Flo etwas Abstand zu geben, griff Flo nach seiner Hand und hielt sie fest. Er schaute Vince direkt in die Augen. „Vince, ich kann das nicht annehmen." Die Stimmung für Scherze war schon wieder vorbei.
„Wenn du unbedingt willst, zahl es mir zurück." Vince hätte auf alles geschworen, was ihm lieb und teuer war, er schaute bei seinen nächsten Worten nicht mit Absicht auf Flos Lippen. „Dir fällt da sicher etwas ein."
Flo bemerkte es. Er bemerkte es sofort und öffnete ganz leicht den Mund. Vince schaute schnell weg.
„Äußerst unethisch, Vince."
Er wollte sich entschuldigen, sah aber, dass Flo grinste. „Nimm einfach das verdammte Bein von mir an, Flo, oder ich zwinge irgendeine Stiftung, dir das zu finanzieren. Was erst recht unethisch wäre."
Flo ließ sich nach hinten auf den Tisch sinken und legte sich fast auf seine Kamera. Eine Minute lang war es wieder bloß Schweigen und der Himmel.
„Okay", sagte Flo dann, kaum hörbar.
„Wie war das?", fragte Vince, der es sehr wohl verstanden hatte.
„Okay", wiederholte Flo lauter.
„Was?"
Flo richtete sich schwankend wieder auf und packte Vince in einem Anflug von Gereiztheit am Kragen. „Ich lasse dich das Scheißbein bezahlen, du Idiot."
Vince strahlte ihn an und hätte ihn am liebsten geküsst. „Mehr will ich doch gar nicht."
„Ich mache echt große Zugeständnisse, also halt die Klappe."
„Danke, Flo."
Flo hielt inne und sein Griff um den Stoff von Vince' Shirt lockerte sich. Einen Moment lang lagen Flos Fingerspitzen auf dem Tattoo an Vince' Hals, dann ließ Flo die flache Hand abwärts gleiten und zog sie zurück.
„Dreh es nicht so, als würde ich dir einen Gefallen tun", murmelte er. „Ich bin dir dankbar, Vince, es ist nur ... schwierig, so ein großes Geschenk anzunehmen."
„Das verstehe ich auch", versprach Vince sofort. „Aber du weißt ja, dass du mir nichts schuldig bist, oder? Ich mache das, weil ich es will. Und ich erwarte keine Gegenleistung von dir."
„Oh, wirklich?" Flo ließ seinen Blick auf Vince' Lippen fallen, was Vince nur ein ganz, ganz kleines bisschen verrückt machte und seinen Puls auch fast gar nicht erhöhte. Das jedenfalls versuchte er sich einzureden, es war jetzt absolut nicht die Zeit für solche Gedanken.
„Ja", sagte Vince, der schon wieder fast vergessen hatte, was Flo zu ihm gesagt hatte. „Ich will nur ... dass du glücklich bist."
Flo legte seine Hand auf die von Vince. „Das bin ich", sagte er leise. „Jetzt gerade, bin ich es."
Vince konnte nicht anders, er schloss Flo in die Arme und hielt ihn fest.
„Warum machst du das?", nuschelte Flo gegen Vince' Schulter.
Diese Frage hätte alles meinen können. Warum ich? Warum das Bein? Warum die Umarmung? Aber egal, was Flo meinte, für Vince gab es auf alle diese Fragen nur eine einzige Antwort. „Weil ich es will."
Sie hielten den Körperkontakt aufrecht, die ganze Zeit über, bis Vince gegen Abend wieder ging. Flo lehnte sich bei Vince an oder hielt seine Hand und am Ende zog er Vince in eine Umarmung, was Vince mehr entwaffnete, als er es sich hätte vorstellen können. Immerhin war es nicht ihre erste Umarmung, aber es war die erste, die Flo angefangen hatte und wie sich herausstellte, machte das für Vince einen himmelweiten Unterschied. Er war immer noch in Gedanken daran, als er nach Hause fuhr. Auf der Autobahn klingelte sein Handy und er nahm den Anruf per Sprachsteuerung an.
„Ich glaub's einfach nicht, du bist schon wieder von der Bildfläche verschwunden!"
„Hallo, Nina."
„Was soll dieser Unterton? Wen hast du bitte erwartet? Und wo bist du?"
Vince unterdrückte ein Seufzen und wechselte auf die rechte Spur. Er hatte es nicht eilig.
„Ich bin unterwegs. Das darf ich ja wohl."
Er konnte sie tief durchatmen hören. „Vince. Schätzchen. Du hast morgen ein Interview in Düsseldorf, für diese Teenie-Zeitschrift, wie heißt sie noch? Völlig egal, jedenfalls will ich endlich wissen, was du treibst! Du bist sonst nicht der Typ, der solche Sachen vergisst."
Nina hatte normalerweise sehr viel Geduld mit ihm, aber er musste zugeben, dass er das in letzter Zeit ein bisschen ausgereizt hatte. Außerdem hatte sie vollkommen recht, er hatte das Interview total vergessen. Flo war einfach ... wichtiger.
„Ich hole dich morgen ab", fuhr sie fort, als er nicht antwortete. „Und dann reden wir mal Tacheles. So geht das nicht weiter, Vince, und das weißt du auch."
Als sie einfach auflegte, ohne ihm auch nur eine Sekunde Zeit zu lassen, um etwas zu erwidern, wurde ihm erst richtig klar, wie sauer sie eigentlich war. Und er konnte es ja auch verstehen. Vince hatte es ihr nicht einfach gemacht, ihren Job zu machen und ihn zu managen, seit er Flo zum ersten Mal begegnet war. Es gab wohl nur eine Möglichkeit, das wieder gut zu machen. Die ganze restliche Fahrt und einen großen Teil der Nacht überlegte er, ob er dazu bereit war.
Am morgen war er zu keinem Schluss gekommen und beschloss, Flo zurate zu ziehen.
> Guten Morgen, Flo. Gut geschlafen?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, obwohl es noch ziemlich früh war.
< Ging. Viel nachgedacht und so. Du?
> Na ja. Ich wollte dich fragen, hast du schon vielen Leuten von uns erzählt?
Er nahm einen großen Schluck Kaffee während er wartete.
< Hm nein. Eigentlich weiß es nur Naomi. Aber es gibt Leute, die mein Tattoo selber haben und es erkennen, also wenn jemand irgendwas zu dir gesagt hat oder so, dann kann es sein, dass das jemand von denen ist. Ist so was in der Richtung passiert?
> Nein, nein, alles ist gut, ich wollte nur ... ich weiß auch nicht. Ich bin nicht gut mit so was.
< Mit was genau?
Vince tippte mit den Fingerspitzen auf dem Tisch herum, während er einen weiteren Schluck Kaffee trank. Das Koffein half nicht gerade dabei, seine Nervosität im Zaum zu halten. Es dauerte ein paar Minuten, bis er eine Antwort zustande bekam.
> Ich will das mit uns echt nicht an die große Glocke hängen, aber meine Managerin macht Druck und ich denke, ich erzähle es ihr später.
> Und irgendwie hab ich gehofft, du weißt, wie so was geht ...
Flo musste anscheinend überlegen.
< Kommt drauf an, wie sie so ist und was von all dem hier die überraschendere Nachricht ist ... aber hey, wenn sie uncool reagiert, kannst du sie einfach feuern :D
Gerade als Vince seine Antwort tippen wollte, hörte er, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Natürlich hatte Nina ihren eigenen Schlüssel, warum auch nicht? Sie kam nicht unangemeldet vorbei, von daher war das für Vince in Ordnung.
„Hey", sagte sie ein bisschen frostig. „Können wir los?"
Vince leerte seine Kaffeetasse in einem Schluck und stand auf.
Er merkte an Ninas Fahrstil, wie geladen sie war und wartete wohlweislich, bis sie aus der Stadt raus und auf der Autobahn waren.
„Es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so verpeilt war", begann er und starrte nach vorn auf die Straße. „Es ist viel los im Moment."
„Hmm", machte sie und seufzte. „Aber dafür bin ich doch da, Vince. Ich nehme dir Kram ab, damit du dich auf deine Arbeit konzentrieren kannst. Du musst mich nur lassen, verstehst du?"
„Ich weiß."
Sie schwiegen eine Weile und Nina überholte ein paar LKWs. „Geht es um die Sache mit dem Tattoo?", fragte sie dann. „Du hast sie gefunden, oder?"
Vince musste sich zwingen, seine Hände ruhig zu halten und nicht mit dem Reißverschluss seiner Jacke zu spielen. „Es ist keine sie."
Er bemerkte, wie Nina das Lenkrad etwas fester umklammerte, während sie ihm einen kurzen Seitenblick zuwarf. „Keine sie? Was meinst du damit?"
„Was denkst du, was ich meine?"
„Es ist ein Kerl? Du hast ... du bist –"
Ihre Überraschung war absolut ... witzig. Er musste lachen, wofür er einen Schlag auf den Arm erntete.
„Was gibt's da zu lachen? Das könnte ein Medienunwetter zur Folge haben, das ist dir doch klar, oder?"
„Nina, wir haben 2018. Die Welt kommt damit schon klar. Und du doch auch, oder?"
Sie schnaubte und wechselte etwas zu schwungvoll die Spur. „Sicher, Vince, was soll das bitte für eine Frage sein? Die Frage ist eher, wie gehen wir jetzt damit um?"
Vince lachte immer noch, beruhigte sich aber daraufhin schnell wieder. „Erst mal noch gar nicht. Es ist nicht ... wir sind nicht zusammen, er und ich."
„Aber du hast ihn gesehen. Und kennengelernt."
Vince nickte. „Die Presse wird nichts davon erfahren, ehe er es will. Und da das ganze vielleicht auf gar nichts hinausläuft ... möglicherweise nie."
Sie verfielen in Schweigen.
„Tut mir leid, dass ich immer erst professionell bin und dann persönlich", murmelte Nina nach einer Weile. „Bist du okay? Du willst doch, dass es auf etwas hinausläuft mit ... wie heißt er?"
„Flo." Vince wandte das Gesicht ab und schaute aus seinem Seitenfenster, wie die Landschaft vorbeiflog. „Und ja. Ich will nichts mehr als das. Es ist verrückt."
„Nein, ist es nicht", entgegnete Nina. „Lass dir das von jemandem sagen, der mehr Erfahrung mit Liebe hat, als du: Es ist nicht verrückt. Aber es muss sich so anfühlen, nur dann ist es echt. Erzähl mir von ihm."
Das ließ Vince sich nicht zweimal sagen. Endlich konnte er über sein Lieblingsthema mit jemand anderem reden. Er erzählte, wie er im Backstagebereich auf Flo aufmerksam geworden war, worüber sie geredet hatten und wie nervös Vince da schon gewesen war, ohne zu wissen, wieso.
Er hatte es auf das eine Bein und den Rollstuhl geschoben, aber es hatte viel mehr dahintergesteckt. Wie er alle Krankenhäuser in der Umgebung angerufen und nach Florian Engel gefragt hatte. Florian Engel gegen den Krebs: Eins zu Null. Und dann die Besuche und das Flirten und die Prothese. Er erzählte von Flos unerschütterlichem Optimismus und davon, wie er selbst aus dem Verlust seines Beins eine gute Geschichte gemacht hatte. Wie er damit umgegangen war, wie er Menschen wahrnahm und sie fotografierte. Wie er es schaffte, sich mit jedem anzufreunden, den er traf.
„Klingt ja nach einem richtigen Knüller, dein Flo."
Der ironische Unterton versetzte Vince einen Stich. „Willst du irgendwas andeuten, Nina?"
Sie kaute auf ihrer Unterlippe, ehe sie sich dazu durchrang zu antworten. „Ich meine ... er hat dich ganz schön um den Finger gewickelt. Ihr habt euch wie oft gesehen? Dreimal? Und schon überhäufst du ihn mit Geld. Glaub mir, er weiß genau, wie er sich dich zu Nutze machen kann. Hört sich für mich zumindest so an."
Vince schnappte empört nach Luft. „So ist er nicht!", widersprach er heftig. „Ich kenne ihn besser als du. Außerdem war es ein AKT ihn dazu zu bringen, das Geld von mir anzunehmen. Wenn es um irgendwas weniger Wichtiges gegangen wäre als sein Bein, hätte er niemals ja gesagt."
Nina murmelte nur etwas vor sich hin.
Es spielte keine Rolle, was sie dachte. Vince wusste einfach, Flo würde ihn nie dermaßen ausnutzen. Nicht für Geld. Nein.
Okay, gut, da waren ein paar Zweifel. Vince wusste nicht, wie es um Flos Gefühle für ihn stand, aber Flo war einfach nicht der Typ, der das Flirten nur vorspielte, um zu kriegen, was er wollte.
Das stimmte schlicht und einfach nicht. Vielleicht steckte Flo in einer Forscher-Phase und wollte abwarten, wohin es mit Vince führte. Vielleicht wusste er nicht, was er wollte. Vince vertraute darauf, dass Flo ihm das irgendwann sagen würde, statt ihn auszunutzen und mit seinen Gefühlen zu spielen. In einer Sache könnte Nina allerdings ins Schwarze getroffen haben: Flo war sich garantiert im Klaren darüber, wie enorm Vince' Gefühle für ihn waren und was Vince für Absichten verfolgte. Mit ihm zusammen zu sein. Es so lange zu versuchen, bis es funktionierte.
Und vielleicht war es unrealistisch, aber Vince fand, er hatte jetzt genug Tattoos. Er wäre zufrieden damit, wenn es einfach nur noch Flo wäre, für immer.
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