Kapitel 4 - Vince
Vince verwendete einen enorm großen Teil seiner Aufmerksamkeit darauf, seine Nervosität nicht zu zeigen. Das half ihm allerdings kein bisschen dabei, sich auf der Krankenhausstation zurechtzufinden. Zum Glück hatte er gerade eben eine Krankenschwester ausfindig gemacht, deren dunkler Pferdeschwanz ihm sehr bekannt vorkam.
„Entschuldigung?"
Sie drehte sich zu ihm um und öffnete den Mund, sagte aber nichts.
„Schwester Aylin, richtig?", fragte Vince und lächelte.
Die Schwester nickte und blinzelte. Kam langsam wieder zu sich.
„Ich suche das Zimmer von Florian und hab mich verlaufen."
Sie schüttelte einmal kurz den Kopf. „Flos Zimmer. Den Gang runter, letzte Tür rechts."
„Danke!" Er schenkte ihr noch ein strahlendes Lächeln, ehe er sich in die Richtung wandte, aber sie war noch nicht fertig mit ihm.
„Moment mal."
Vince schloss kurz die Augen und blieb stehen. „Ja?"
Aylin zog die Augenbrauen zusammen. „Was wollen Sie von Flo?"
Er zögerte, wusste nicht, wie er ihr das sagen sollte. Wie er es überhaupt in Worte verpacken sollte. Er verdiente sein Brot damit, seine Gefühle in hübsche Worte zu fassen, aber jetzt gerade fühlte er sich von seinem eigenen Handwerk verraten. Aylin kam ihm allerdings glücklicherweise zuvor.
„Es geht um die Sache mit dem Tattoo, oder nicht?"
Sie standen mitten auf dem Gang und schauten einander an. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, als sie Vince' Überraschung bemerkte.
„Ich bin Flos Krankenschwester", sagte sie. „Es gibt keinen Zentimeter seines Körpers, den ich nicht kenne. Natürlich weiß ich, wie sein Tattoo aussieht. Ich weiß auch, wie enttäuscht er war, als Sie geleugnet haben, sich zu erinnern."
„Ich – "
„Er ist ein Fan, das sollten Sie nicht vergessen. Wenn Sie das in irgendeiner Art und Weise ausnutzen, dann schwöre ich aufs Grab meiner Großmutter, werde ich Rede und Antwort verlangen. Ist das angekommen?"
Statt ihr zu erklären, warum er eigentlich hier war und ihr seine Beweggründe für die Lüge über das Tattoo zu erläutern, nickte er einfach nur eingeschüchtert.
„Flo ist gerade noch bei einer Untersuchung, aber er kommt bald. Sie können in seinem Zimmer warten." Mit diesen Worten drehte sie sich um und machte sich aus dem Staub. Vince schluckte und machte sich auf den Weg den Gang entlang zum letzten Zimmer auf der rechten Seite.
„Oh", machte er erschrocken, als er eintrat und sich das Mädchen in einem der Betten zu ihm umdrehte. „Sorry, ich wusste nicht, dass hier jemand drin ist."
Sie musterte ihn erst argwöhnisch, dann perplex. „Du – du bist nicht zufällig Vince d'Amico, oder?"
Er wollte nicht auf der Türschwelle herumstehen, wenn Flo ankam, also betrat er das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
„Doch", sagte er, „der bin ich. Schön, dich kennenzulernen ...?"
„Naomi."
„Naomi", wiederholte er. „Ich will eigentlich zu Flo."
Sie nickte. „Hat er doch Kontakt zu dir aufgenommen? Ich hab ihm die ganze Zeit gesagt, er soll das machen, aber er hat immer nein gesagt."
„Nein, er hat nicht ... also nicht, dass ich wüsste."
Naomi ließ die Beine aus dem Bett baumeln. „Ich habe so viele Fragen."
Das konnte Vince sich lebhaft vorstellen. Er selber hatte auch einige. Zum Beispiel fragte er sich unwillkürlich, warum sie wohl hier im Krankenhaus war. Das hier war die Kinderstation – na ja, eher Kinder und Jugendliche, wie es aussah. Im Gegensatz zu Flo schienen bei Naomi allerdings keine Gliedmaßen zu fehlen. Doch wie auch Flo hatte Naomi einen kahlen Kopf und war sehr dünn. Vince traute sich nicht, sie zu fragen und schaute sich stattdessen im Zimmer um. Eine ganze Wand war bedeckt mit Fotos, die jemand angeklebt hatte. Alles Mögliche war da vertreten, Landschaften, typische Sonnenuntergänge, Gegenstände. Aber am meisten fielen die Bilder auf, die andere Menschen zeigten. Auf ein paar davon war Naomi zu sehen, auf einem hatte sie sogar noch Haare. Explodierte, kräuselige Locken, genau wie Jay-Lyn, mit der er das Duett aufgenommen hatte. Auf anderen Bildern erkannte er die Krankenschwester Aylin, wieder andere zeigten Ärzte, Freunde, und Eltern.
„Sind die alle von Flo?", fragte Vince beeindruckt.
„Jep. Das einzige Hobby, das er hierher mitbringen konnte. Er ist echt gut, oder?"
Vince schaute das Foto eines blonden Mädchens an, das mit geschlossenen Augen in die Kamera lachte, und nickte.
„Er sollte auch gleich wieder da sein", erklärte Naomi.
„Ich weiß, ich hab draußen eure Krankenschwesterfreundin getroffen."
„Oh." Naomi grinste verlegen. „Ich hoffe, sie war nicht gemein zu dir. Sie kann eine ganz schöne Bulldogge sein, manchmal."
Vince konnte sich gar nicht sattsehen an den Fotos. Sie machten ihn neugierig auf die Menschen, die sie abbildeten. Er wollte ihre Geschichten erfahren, aber noch viel mehr wollte er, dass Flo sie ihm erzählte.
Ehe er Naomi antworten konnte, ertönte von der Tür her eine Stimme.
„Naomi", sagte Flo, der kurz damit aufgehalten wurde, aus dem Rollstuhl heraus die Tür aufzuziehen, „wir müssen unbe- whoa." Er kam ins Zimmer gerollt und bemerkte Vince direkt.
Der Moment fror ganz kurz ein, als beide einander stillschweigend erkannten. Vince musste nicht erklären, warum er hier war, sie waren beide sofort auf derselben Seite.
„Hallo, Flo." Vince hörte selber, dass seine Stimme viel weicher klang als sonst. Hoffentlich hörte er sich nicht an, als würde er Flo von oben herab behandeln. Durfte er ihn überhaupt Flo nennen, oder musste man sich das erst verdienen? War er mit seinem ersten Satz bereits ins Fettnäpfchen getreten?
„Hi." Flo machte große Augen und auch seine Stimme klang nicht so, wie eben noch, als er mit Naomi gesprochen hatte. „Was zum – ich meine – was machst du hier?"
Vince hatte sich irgendetwas überlegt, was er auf diese Frage antworten könnte. Sein Kopf war nur leider komplett leergefegt. Er wusste kaum noch, wie er hieß. „Ähm." Guter Anfang, Vince, weiter so. Du bist ja auch nicht nur wegen deiner Fähigkeit, mit Worten umzugehen, weltberühmt geworden. Er schaffte es, sich vor den größten und vollbesetzten Konzerthallen der Welt die Seele aus dem Leib zu singen und konnte nicht mit dem Typen reden, in den er sich verguckt hatte? „Ich wollte ... dich fragen, würdest du vielleicht mit mir einen Kaffee trinken gehen?"
Erleichtert atmete Vince aus. Er hatte es geschafft eine halbwegs vernünftige Frage zu stellen. Dass er darauf einmal stolz sein würde, hätte er auch nicht für möglich gehalten.
Flos Gesicht sprach Bände. Überraschung und Ungläubigkeit. Er antwortete nicht sofort, vielleicht fehlten auch ihm die Worte. Sofort fühlte Vince sich nicht mehr ganz so furchtbar.
„Okay", sagte Flo schließlich und etwas in seinem Gesicht verhärtete sich. Ob er wohl dachte, das hier sei das einzige Kaffeetrinken, das sie haben würden? Wenn es nach Vince ging, würde es nicht bei einem Date bleiben, das wusste er jetzt schon.
Sie mussten mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk nach unten fahren, um sich in der Cafeteria ihre Getränke zu kaufen – Vince lud Flo selbstverständlich ein – dann fuhren sie auf Flos Vorschlag nach ganz oben auf die Dachterrasse. Bis sie sich an einem Tisch niedergelassen und die ersten paar Schlucke von ihren Kaffees getrunken hatten, redeten sie abgesehen von Richtungsangaben und Bestellungen nicht viel.
Flo trank seinen Kaffee schwarz. Vince hätte nicht sagen können wieso, aber es überraschte ihn aus irgendeinem Grund.
„Also", begann Vince und versuchte panisch, sich an sein Skript zu erinnern. „Ich würde dir gerne ein paar Sachen sagen."
Flo schaute ihn abwartend an. Er nahm ihm das mit der Lüge übel, vollkommen zurecht.
„Ich erinnere mich an alles", sagte Vince offenheraus, „ich habe in dem Interview gelogen und das tut mir leid."
Flo nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. „Plörre", murmelte er.
„Wenn du möchtest, gehen wir nächstes Mal in ein echtes Café", bot Vince an.
Wie erwartet, gewann er damit Flos Aufmerksamkeit. „Nächstes Mal?"
„Ich will nicht, dass du dich zu irgendwas verpflichtet fühlst, warum auch immer", sagte Vince. Dieser Punkt lag ihm ganz besonders am Herzen. Seine Gefühle für Flo waren sein eigenes Problem. Er wollte Zeit mit Flo verbringen, mehr über ihn wissen und ihn am liebsten ganz normal kennenlernen, aber nur, wenn das für Flo auch okay war. Nicht jeder hat Lust dazu, mit einem Kerl wie Vince rumzuhängen, besonders wenn man ihn vorher als Vince d'Amico gut fand. Der gute alte Vincent und Vince d'Amico waren schließlich nicht unbedingt dieselbe Person. „Aber das mit dem Tattoo, das ist nicht einfach so passiert. Es hat seinen Grund und den kennen wir beide."
Flo war wirklich wie ein offenes Buch. Jeder Gesichtszug, jede Geste verriet seine Gefühle. Und jetzt gerade wollte er fragen Warum. Warum er. Vince hätte es ihm nur zu gerne erklärt, aber Flo schluckte die Frage mit dem nächsten Schluck Kaffee hinunter.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du hier auftauchst", sagte Flo und beobachtete Vince' Reaktion. „Du wirktest nicht unbedingt glücklich über dein erstes Tattoo."
Vince nahm ebenfalls einen Schluck des schlechtesten Kaffees der Welt. „Stimmt", gab er zu. „Aber ich bin es. Glücklich, meine ich. Es hätte nicht besser laufen können."
Dieses Mal wirkte Flo, als wolle er darüber lachen. Er glaubte Vince kein Wort.
„Ich werde nicht in Interviews über dich reden", sagte Vince, der die Bedingungen klar auf dem Tisch haben wollte. „Und ich fände es gut, wenn du das auch nicht machst. Bleibt aber natürlich dir überlassen. Ich will ... eigentlich will ich nur, dass das so normal wie möglich abläuft. Ich würde so gerne mit dir normale Sachen machen, die man eben tut, wenn man sich kennenlernt."
Ein ungläubiges Grinsen breitete sich auf Flos Gesicht aus. „Du fragst mich, ob ich mit dir ausgehen will?"
„Irgendwie schon."
„Ich kann doch gar nicht gehen."
„Dann fahr eben mit mir aus." Sofort biss Vince sich auf die Zunge und wollte zurückrudern, aber Flo lachte.
„Der war gut. Gefällt mir."
„Echt?", fragte Vince schwach.
Flo nickte und – konnte das – wurde er etwa rot? „Ich kann leider nicht einfach so aus dem Krankenhaus weg. Noch nicht. Aber wenn du vielleicht ... nächstes Mal ... wieder kommst?"
Das war so viel mehr als ein Ja. Das war die geballte enttäuschte Hoffnung eines Patienten, der immer weniger besucht worden war, je länger das mit dem Krebs gedauert hatte. Vince würde ihn nicht enttäuschen. Er wäre am liebsten jeden Tag hergekommen, auch wenn er Krankenhäuser deprimierend fand. Mit Flo war es nicht deprimierend.
Unwillkürlich griff Vince nach Flos Hand, was ihm selber die Hitze in die Wangen trieb. „Ich komme auf jeden Fall wieder."
Sie schauten einander in die Augen, bis Flo seine Hand wegzog, um seinen Kaffee zu trinken.
„Erzähl mir was über dich", verlangte Vince und ließ seinen eigenen Kaffee kalt werden. Er schaute viel lieber Flo an.
„Äh – was willst du denn wissen?" Flos Blick fiel kurz auf sein Bein – eher auf die Stelle, wo mal sein anderes Bein gewesen war. Und er hatte ja recht, Vince wollte nach der Krebsgeschichte fragen, aber dieser Blick zwang ihn in eine andere Richtung.
„Irgendwas", sagte er. „Alles."
„Alles?", wiederholte Flo belustigt.
„Zum Beispiel deine Fotos. Machst du das schon lange?"
Flo freute sich sichtlich über die Frage und begann, zu erzählen. Vince stützte das Kinn auf seine Hände und hörte einfach nur zu. Und er hatte in seinem Leben wahrlich schon vielen Menschen zugehört, hatte sich um das gekümmert, was sie gesagt hatten, aber bei Flo fühlte es sich an, als wäre Vince noch nie zuvor etwas wirklich wichtig gewesen. Auf einmal zählte jedes Wort, jedes Lächeln, jedes Funkeln in den Augen und Vince wollte sich alles aufschreiben, um es nie zu vergessen. Irgendwo in seinem Inneren wusste Vince, wie übertrieben das alles war, aber er wollte nicht, dass es aufhörte. Wann hatte er das letzte Mal etwas so intensiv gefühlt, wie jetzt?
Flo erzählte, wie er mit zehn Jahren und einer schrottigen Billigkamera angefangen hatte, Sachen zu fotografieren. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis er sich traute auch mal Bilder von Menschen zu machen. „Ich hatte immer irgendwie das Gefühl, dass ich sie belästige, auch wenn sie ja gesagt haben", meinte er und zupfte verlegen an seiner Mütze. „Aber irgendwie war es trotzdem das, was ich machen wollte."
„Und du kannst es auch richtig gut", sagte Vince. „Du siehst etwas in den Menschen und versuchst, das einzufangen. Und machst es so sichtbar für andere."
Flo schwieg kurz und hätte Vince gekonnt, hätte er ihn genau so abgelichtet: Große Augen, leicht geöffnete Lippen, die Überraschung ins Gesicht geschrieben. „Ja", sagte er dann, „genau."
„Ich bin schon so oft fotografiert worden", seufzte Vince. „Immer nur mit dem Ziel, mich möglichst gut aussehen zu lassen. Und danach setzt sich sowieso jemand mit Photoshop an die Bilder und macht dir mehr Muskeln und setzt dein Schlüsselbein irgendwo anders hin."
Flo prustete in seinen Becher und stellte ihn sicherheitshalber wieder ab. „Echt jetzt?"
„Ja, keine Ahnung, was mit den Schönheitsidealen los ist."
Sie grinsten einander an und schwiegen eine Weile. Auch das war überraschend angenehm. Vince hatte zugegebenermaßen nicht viele Dates gehabt, aber bei allen war es immer so gewesen, als müsste Stille um jeden Preis vermieden werden. Nicht mit Flo. Es war okay, einfach nichts zu sagen, Kaffee zu trinken und vom Dach aus über die Stadt zu gucken.
Als Flo sich wieder Vince zuwandte, spielte ein angedeutetes Lächeln um seine Lippen. „Ich glaube, es wird Zeit, den Elefanten im Raum anzusprechen."
Vince zog die Augenbrauen hoch und brauchte wirklich einen Moment, um auf Flos Gedankenzug aufzuspringen. „Oh."
„Ich weiß, du willst es wissen, aber du willst mich nicht fragen. Ist nicht schlimm." Das Lächeln verschwand als Flo die Lippen zusammenpresste. „Ich hab eigentlich gar nichts dagegen, darüber zu reden, aber es macht mich nicht gerade attraktiver."
Vince hatte sehr viele sehr widerstreitende Gefühle über die Sache mit Flos Krebs und seinem amputierten Bein. Einerseits tat es ihm natürlich leid und er wusste nicht, wie man damit richtig umging. Andererseits wäre Flo ihm vielleicht ohne den Rollstuhl, das fehlende Bein und die abrasierten Haare gar nicht aufgefallen, sie hätten möglicherweise nie miteinander gesprochen und Vince hätte dank Flo nicht sein erstes Tattoo erhalten.
„Das muss es nicht", sagte Vince und versuchte möglichst seine Gedanken in Worte zu fassen, ohne total bescheuert zu klingen. „Ich wusste Bescheid über den Krebs und das Bein, bevor ich hergekommen bin. Und das mit dem Tattoo, das war auch kein Zufall. Es ist okay. Ich meine, Krebs ist scheiße und alles und für dich ist es bestimmt nicht okay, aber für mich schon."
„Krebs ist scheiße", wiederholte Flo und das Lächeln kehrte langsam zurück. „Ich hab meine Diagnose direkt vor meinem Abi bekommen. In der Lernphase hat mein Knie angefangen wehzutun. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich mal endlich zum Arzt gegangen bin. Paar Sachen wurden ausgeschlossen, was der gemacht hat, hat nicht geholfen." Flo schaute an Vince vorbei auf die Stadt unter ihnen, während er sich erinnerte. „Man rechnet wohl irgendwie nicht damit, dass gesund aussehende, junge Typen wie ich, Krebs kriegen. Na ja, irgendwann hat man mich mal zum Röntgen geschickt. Krebszellen sieht man dabei natürlich nicht, aber irgendwas war mit der Knochenstruktur von meinem Bein nicht okay, also haben sie mich direkt weiter ins MRT geschickt und Tadaa, mein ganzes Bein hat geleuchtet. Osteosarkom, verdammter Knochenkrebs."
„Scheiße", murmelte Vince leise.
„Du sagst es. Und es waren schon ziemlich viele Tumore und die Ärzte haben Panik bekommen und direkt meine Lunge gecheckt, aber da war noch nichts. Osteosarkome breiten sich nämlich gerne zuerst in die Lunge aus, weil sie Arschlöcher sind. Dann wurde erst mal eine Chemo gemacht, was auch echt nicht lustig war."
Flo versuchte die Geschichte für Vince besser zu erzählen, als sie eigentlich war. Er versuchte, lustig zu sein und auch wenn Vince nicht lachte, war er doch beeindruckt. Flo versank nicht in Selbstmitleid. Er machte einfach weiter.
„Die Tumore sind trotzdem noch weitergewachsen", fuhr er fort, „und man hat mich vor die Wahl gestellt: Entweder zweite, aggressivere Chemo oder Bein ab." Flos Blick kehrte zu Vince zurück. „Wie ein Idiot habe ich die zweite Chemo genommen. Wow, war das eine dämliche Entscheidung. Mir ging es die ganze Zeit über dreckig und es hat nicht mal was gebracht. Die Dinger sind einfach trotzdem noch gewachsen. Also blieb uns keine andere Wahl mehr, als das Bein abzunehmen. Vor der OP hab ich sogar die Beine beschriftet, von wegen NICHT DAS HIER, NIMM DAS ANDERE und so."
Jetzt musste Vince sogar tatsächlich schmunzeln, was Flo zufrieden zur Kenntnis nahm.
„Und jetzt ist alles in Ordnung?"
Flo nickte. „Japp. Ich hatte zwischendurch eine Entzündung am Stumpf – " Er zögerte kurz vor dem Wort Stumpf, als wäre es irgendwie abstoßend und könnte Vince doch noch in die Flucht schlagen, „und die Heilung dauert echt lange, aber bald kann ich mir eine Prothese aussuchen und dann lerne ich wieder laufen und spaziere in Null Komma Nichts hier raus, als wäre nie was gewesen."
Dass das nicht stimmte, war wohl beiden klar. Es würde vermutlich nie so werden, als wäre nie etwas gewesen. Das Leben war ohne Flo weitergegangen, so bitter das auch sein mochte. Aber das zu sagen, erschien Vince grausam und herzlos, also ließ er es bleiben. Flo musste das selber herausfinden und wenn er es wollte, würde Vince dabei sein.
„Und du bist wirklich einverstanden damit, mich erst mal noch hier zu besuchen?", fragte Flo nach ein paar Momenten Schweigen.
„Na klar!", antwortete Vince sofort. „Ich ... okay, ich will nicht so tun, als wäre das mit deinem Bein die normalste Sache der Welt und als würde ich es gar nicht bemerken, oder so. Das stimmt eben einfach nicht. Deswegen bin ich bei der Aftershowparty zu dir gekommen, du ... du hast mir leidgetan."
Vince erwartete eine hitzige Rede darüber, dass Flo kein Mitleid brauchte und lieber ganz normal behandelt werden wollte, was ja auch sein absolutes Recht war, aber Flo lächelte bloß anerkennend.
„Die meisten Leute leugnen, dass sie mich bemitleiden und tun es trotzdem. Es ist echt gut, dass du das einfach so sagen kannst und auch selber weißt."
„Ich muss dich enttäuschen." Vince beugte sich über den Tisch näher zu Flo. „Ich hab damit ganz schnell aufgehört. Du warst so ... positiv. Optimistisch. Mitleid hätte einfach nicht dazu gepasst."
Auch Flo beugte sich ein Stück vor. „Und schaffst du das auch weiter?"
Vince bemerkte, wie braun Flos Augen waren, warmes Braun mit einem goldenen Schimmer in der Nachmittagssonne. Er hatte braune Augen nie für etwas Besonderes gehalten, aber wurde eines Besseren belehrt.
„Sag mir, wann ich wiederkommen soll und finde es heraus."
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