Kapitel 3 - Flo
„Hier ist noch eins, ist das besser?"
Naomi warf Flo ihr Handy zu. Sie hatte sich von seiner Obsession, was Vince d'Amicos Tattoo anging, anstecken lassen. Es waren inzwischen zwei Wochen vergangen, seit ihm bei der Talkshow der Schal verrutscht war und er aus versehen einen Einblick in ein anscheinend riesiges Geheimnis gegeben hatte.
Flo zoomte an eine Aufnahme aus der Talkshow heran, die jemand bearbeitet hatte, um das Tattoo besser erkennbar zu machen. Man konnte allerdings immer noch nicht viel darüber sagen, außer dass es möglicherweise ein Kreis war. Das Motiv war trotz allem noch halb von dem dunkelroten Seidenschal verdeckt und das Ranzoomen steigerte nicht gerade die Qualität.
„Genauso mies wie alle anderen auch", meinte Flo frustriert und warf Naomi das Handy zurück.
„Verdammt", kommentierte sie und zog eine Schnute.
Flo ließ sich auf den Rücken rollen und starrte an die Decke. „Es ist einfach so ... bescheuert", meinte er zum gefühlt hundertsten Mal.
„Dass Vince nix dazu sagt?", fragte Naomi.
„Ja, das auch. Aber vor allem: Er hatte das Tattoo definitiv noch nicht, als ich ihn gesehen habe", erklärte Flo der Decke über ihm. „Also muss es an dem Abend oder am Tag danach passiert sein. Aber wahrscheinlich am selben Abend, Tattoos brauchen ja immer ein paar Stunden, ehe sie sichtbar werden."
Naomi kicherte. „Stell dir mal vor, es wäre Aylins. Wie sie ihn niedermachen würde, wenn er hier ankäme."
Flo drehte den Kopf in Naomis Richtung und grinste. „'So ein Milchbubi hat bei mir nix verloren! Du solltest mal meinen Mann sehen, der hat einen richtigen Bart!'"
Naomi fing an zu lachen. „Sein Hundeblick würde bei ihr auch absolut nichts bringen, sie ist viel Härteres von uns gewöhnt."
„Wer sich nicht dazu erweichen lässt, einem Einbeinigen extra Nachtisch zu bringen, der kann auch von Vince d'Amicos Dackelblick nicht überzeugt werden", stimmte Flo zu.
Sie verfielen eine Weile in Schweigen. „Meinst du, du hast die Frau mit dem Tattoo vielleicht sogar gesehen?", fragte Naomi dann.
„Das ist unter anderem, was ich so bescheuert finde. Hätte ich ihn mal besser beobachtet."
Naomis Interesse war sofort wieder geweckt. „Du denkst, du hättest es erkennen können? Dass er bei jemandem mehr Zeit investiert hat, jemanden anders behandelt hat?"
Flo setzte sich auf und zog die Schultern hoch. „Wahrscheinlich nicht. Er hat alle gut behandelt."
„Aylin auch?"
Er versuchte sich daran zu erinnern, ob die beiden miteinander geredet hatten. Hatten sich nicht, oder? Flo hatte sich dazwischengedrängt und das mit dem Bier erwähnt. Ehe Aylin Vince nach möglichen Tattoos auf seinem Hintern fragen konnte.
Plötzlich begann Naomis Handy wie verrückt zu vibrieren. Eilig tippte sie darauf herum und schaute dann mit leuchtenden Augen zu Flos Bett herüber. „Heute Abend: Exklusives Interview mit Vince d'Amico bei PillowTalk. Hat sein Twitter-Account gepostet, mit dem Hashtag #whoisshe. Floooo! Wir erfahren es heute!"
Flo hätte das eigentlich genauso aufregend finden sollen wie Naomi. Aufregender, eigentlich. Immerhin war er seit Jahren Fan von Vince. Aber dieses neue Drama passte so gar nicht zu dem Vince, den er mochte. Alle anderen hatten Affären und geheime Liebschaften, versuchten vergeblich, neue Tattoos zu verbergen und so die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu ziehen.
Es war der billigste Trick der Welt und Vince hatte das doch gar nicht nötig. Warum dieser plötzliche Image-Wechsel vom einsamen Kerl, der noch nie verliebt war, zu jemandem, der es nicht offen zugeben will? Wie sollte das dann erst für die Frau sein, wenn sie heute Abend das Tattoo in seiner ganzen Pracht zu sehen bekam? Jemand würde heute noch erfahren, dass Vince d'Amico sich in sie verliebt hatte. War es das, was Flo dabei aufstieß? Vince war immer alleine gewesen und irgendwie wollte Flo, dass das so blieb. Er war sonst nicht der Typ, der anderen ihr Glück nicht gönnt. Außerdem ging es ihn eigentlich gar nichts an und auch sonst keinen außer Vince und die Frau, der das Tattoo gehörte.
„Ich muss mal an die frische Luft", murmelte Flo und beförderte sich in seinen Rollstuhl. Naomi schaute ihm nur verwundert nach, als er aus dem Zimmer rollte. Sie durfte ihn auch gar nicht fragen, was los war, das war die Regel.
Es war nämlich so, dass Naomi und er sich schon seit Wochen dieses Zimmer teilten. Flo wohnte seit mehreren Monaten im Krankenhaus und irgendwann hatte er dann eine Zimmergenossin bekommen, die - genau wie er - auch jede Menge Kram zu verarbeiten hatte. Manchmal muss man dann einfach mal raus und allein sein, ohne jemandem danach Rede und Antwort stehen zu müssen. Also hatten sie sich eine Regel ausgedacht: Wenn einer sagt, er muss an die frische Luft, ist es verboten, zu fragen, wieso. Oder was los ist. Oder ob man irgendwas falsch gemacht hat. Wenn einer der beiden reden will, dann redet er einfach.
Flo rollte zum Aufzug und ließ sich nach oben aufs Dach bringen, wo es für die Patienten und Besucher eine Dachterrasse gab. Es war bereits später Nachmittag, also war nicht mehr viel los. Er stellte den Rollstuhl direkt an das Geländer, das um das flache Dach herumführte und schaute über die Stadt. Was war nur los mit ihm? Vince d'Amico hatte sich in jemanden verliebt, na und? Was hatte das mit ihm zu tun?
Eigentlich nichts.
Andererseits, war Vince berüchtigt dafür, eben nur sein eigenes Tattoo auf dem Körper zu tragen. Sogar dieser Kerl, dessen Markenzeichen es war, von der Liebe keine Beachtung zu finden, hatte sich verliebt. Hatte Chancen auf eine Beziehung. Bei Flo sah das ganz anders aus. Er war ein einbeiniger Krebspatient, der im Krankenhaus lebte. Fürs erste zumindest. Er hatte sich bei Chemos die Seele aus dem Leib gekotzt, sich nächtelang in den Schlaf geweint und viel mehr über den Tod nachgedacht als man es in seinem Alter tun sollte. Beziehungen waren zu der Zeit gar nicht in Frage gekommen, aber jetzt war der Krebs besiegt. Dass er da nicht magischerweise einfach so etwas in Aussicht hatte, war logisch. Es war auch total frustrierend. Er wollte einen Beweis für die einfache Möglichkeit, trotz allem noch liebenswert zu sein.
Eine halbe Stunde vor dem Exklusivinterview rollte Flo wieder ins Krankenzimmer und schwang sich zurück aufs Bett.
Naomi starrte ihn unverwandt an. „Was ist los mit dir?"
„Verbotene Frage", entgegnete er.
„Scheiß drauf. Erzähl's mir."
Flo seufzte. „Ich hab das Gefühl, als würde ich nie mehr Liebe finden. Sogar Vince hat das vor mir geschafft. Das Universum ist aus dem Gleichgewicht und oben ist unten."
Naomi lachte kurz auf. „Du bist ungefähr dreißig Jahre zu jung für eine Midlifecrisis, Flo."
Er setzte sich auf und ließ sein Bein vom Bett baumeln. „Es kann total gut sein, dass ich meine Midlifecrisis vor neun Jahren hätte haben sollen."
„Buhuu. Du bist neunzehn und keiner liebt dich, das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?"
Flo schmollte. „Es ist die Wahrheit."
Naomi machte so eine typische Bewegung mit dem Kopf, die er nur als besserwisserisch beschreiben konnte und die nur sie so hinbekam. Er hätte sich was ausgerenkt, bei einem Versuch das nachzumachen. „Das", sagte sie dramatisch, „ist nicht die Wahrheit. Zumindest nicht die ganze. Wie viele Tattoos hast du?"
Verwundert zog Flo die Augenbrauen hoch. „Drei. Und mein eigenes."
„Und wie viele waren auf dem Bein, das sie abgeschnippelt haben?"
„Zwei."
„Fünf verdammte Tattoos und jetzt heulst du rum, weil Vince d'Amico eins bekommen hat. Du warst schon fünf Mal verliebt. Das ist verdammt viel, finde ich, okay? Es wird dir auch wieder passieren, das ist doch total klar."
Flo wusste nicht, wie er ihr klarmachen sollte, dass es andersrum vielleicht nicht funktionierte. Sie sprach es auch von selber nicht an, entweder weil es so unrealistisch war, dass es ihr nicht in den Sinn kam, oder weil sie nichts dazu zu sagen wusste.
„Jedenfalls", fuhr sie fort, „ist das nicht alles. Du stehst auf ihn und bist eifersüchtig, so einfach ist das nämlich."
Flo starrte sie mit offenem Mund an, aber die Röte in seinen Wangen sprach für sich. Naomi nickte zufrieden.
„Ich - ich bin aber nicht verliebt", stellte Flo klar. „Da ist kein neues Tattoo."
Naomi winkte ab. „Weiß ich. Aber du kennst ihn ja auch gar nicht. Ist trotzdem normal, wenn man ein bisschen eifersüchtig ist."
Es fühlte sich nicht sonderlich normal an. Flo hatte nie viel mit Eifersucht zu kämpfen gehabt. Er ging zum Angriff über, indem er nach der Fernbedienung griff und den Sender einschaltete, der in ein paar Minuten das Interview übertragen würde.
„Wieso hat er immer noch den verdammten Schal um?", fragte Flo ärgerlich, als es losging und Vince gezeigt wurde, wie er in einem Sessel gegenüber der Reporterin saß.
„Weil er ihm steht", kommentierte Naomi. „Rot ist seine Farbe."
Vince, den Flo doch unter anderem deswegen so mochte, weil er keine überdramatischen Auftritte nötig hatte, legte anscheinend gerade den überdramatischsten Auftritt des Jahrhunderts hin.
„Vince", begann die Reporterin mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen. „Es gab in den vergangenen Wochen viele Gerüchte über ein gewisses Tattoo, das bei dir aufgetaucht sein soll. Kannst du uns dazu was sagen?"
Vince nickte und wirkte dabei völlig gelassen. War das denn keine stressige Situation für ihn? Er würde der ganzen Welt sein Liebesleben offenbaren.
„Ich hätte mich zu dem Thema auch schon eher geäußert", begann er und beantwortete gekonnt nicht die Frage, „aber ich brauchte nach der Tour einfach ein bisschen Zeit mit meiner Familie."
„Das verstehen deine Fans mit Sicherheit auch." Man merkte, wie die Reporterin innerlich auf der äußersten Stuhlkante hockte. Falls sie Vince nicht dazu brachte, Tacheles zu reden, würde das Konsequenzen für sie haben? Dieses Interview würde in die Geschichte eingehen und sie wollte eine gute Figur machen.
„Jedenfalls", fuhr Vince fort und machte eine Kunstpause, in der sicher jeder Fanboy und jedes Fangirl den Atem anhielt. „Ja, es stimmt. Ich habe ein Tattoo und es ist mein erstes, abgesehen von meinem eigenen, natürlich."
Der überdramatische Auftritt bestand einfach aus diesem simplen Eingeständnis. Flo und Naomi wären schreiend durch den Raum getanzt, wäre das drin gewesen ohne Vince' nächste Worte zu verpassen. Aber er sagte gar nichts mehr, es herrschte erst einmal Schweigen, in denen ein Fandom inklusive einer Reporterin diese Neuigkeit irgendwie verarbeitete.
Sie musste nicht einmal in ihre Karteikarten gucken, um ihre nächste Frage zu stellen. „Es wurde viel gerätselt und die meisten sind sich einig darüber, dass du das Tattoo am Abend des letzten Konzerts deiner Tour bekommen haben müsstest. Stimmt das?"
Vince nickte. „Es war ein langer Abend."
Kurzes Innehalten. „Was meinst du damit?"
Vince kratzte sich am Hinterkopf und schaute verlegen zur Seite. „Na ja." Er zögerte auf einmal, wirkte auf der Hut. Flo beugte sich vor, wollte keine noch so kleine Geste verpassen. „Es war der letzte Abend, wie du ja schon gesagt hast. Und da ist es üblich, ein bisschen zu feiern."
Flo und Naomi warfen sich einen Blick zu. Worauf lief das hinaus?
„Ich habe etwas zu viel getrunken", sagte Vince. „Und erinnere mich an das meiste an diesem Abend nicht mehr."
Flo klappte der Unterkiefer herunter, während Naomi laut sagte: „Was?!"
Die Reporterin versuchte ihr Bestes, mit Vince den Abend durchzugehen, aber er spielte nicht besonders gut mit, wiegelte ab, das habe er schon alles versucht.
„Denkst du, er hat mich auch vergessen?", fragte Flo mit einem dicken Block Enttäuschung im Bauch.
„Irgendwie glaube ich immer noch, es könnte vielleicht Aylin sein", meinte Naomi, die Flo überhörte.
„Das ist der schlimmste Tag meines Lebens", sagte Flo.
Endlich wandte sich Naomi ihm zu. „Du wurdest mit Krebs diagnostiziert und sie haben dir ein Bein amputiert. Und das hier ist der schlimmste Tag deines Lebens?"
Flo antwortete nicht, sondern widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Interview.
„Wie dem auch sei, ich kann dir leider nichts über die Dame erzählen", sagte Vince gerade. „Aber meine Managerin hat der Redaktion gerade ein Foto zukommen lassen, das eingeblendet werden darf. Vielleicht erkennt ja jemand das Tattoo wieder."
„Die Leute werden ihm das niemals glauben!", ereiferte sich Naomi. „So eine miese Lüge, oder Flo? Dass er nicht weiß, von wem es ist."
Wieder antwortete Flo nicht, sondern starrte wortlos auf den Fernseher, wo gerade das Foto gezeigt wurde. Vince posierte mit nacktem Oberkörper - wieso auch nicht - vor einem weißen Hintergrund, den Kopf zur Seite gelegt, um das Tattoo ganz deutlich zu zeigen.
Flo stockte der Atem.
Er wusste, von wem es war.
Es war seins.
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