Kapitel 15 - Flo
Flo erzählte Vince am nächsten Tag nicht von dem Ding, das er unter seinem Arm gefunden hatte. Und auch nicht am übernächsten, oder am Tag danach. Am Anfang fragte er sich noch, warum er es vor allen verheimlichte, denn es ging hier ja nicht nur um ihn und Vince, sondern er erzählte es überhaupt niemandem. Nicht seiner Tante oder seinem Onkel, Naomi oder sonst irgendwem. Er verschwieg es beharrlich, während er feststellen musste, dass die Wucherung größer wurde. Und wieso sagte er nichts? War es, weil er sich einfach noch ein bisschen länger wie ein Mensch fühlen wollte und nicht wie ein Nadelkissen für Spritzen? Weil er es zu sehr genoss, sein eigenes Zimmer zu haben, das nicht blau war? Weil endlich seine Haare nachwuchsen, er zur Schule gehen konnte und endlich sein altes Leben zurückhatte? Ein dumpfes Gefühl in Flos Bauch sagte ihm, dass all das nicht die Antwort war, zumindest nicht die ganze. Und er wollte die ganze Antwort auch gar nicht wissen, also hörte er auf, seine Beweggründe zu hinterfragen und versuchte, einfach zu leben.
Aber dann war das Leben auch gar nicht so toll, wenn er mal ehrlich war. Manchmal frustrierte es ihn, trotz der Hightech-Prothese immer der langsamste von allen zu sein. In der Schule verstand niemand, was er durchgemacht hatte und ab und zu erwischte ihn die Einsamkeit wie aus dem Nichts. Aber das größte Problem (ja, abgesehen von der Wucherung), war Vince.
Oder eher, ein Link zu einem YouTube Video, den Naomi ihm eines Vormittags schickte.
< Alter, wusstest du das? Und findest du es okay???
Flo zog sich in der Pause in eine Ecke zurück und klickte auf den Link. Erst als er den Titel sah, fiel ihm wieder ein, dass ja heute Vince' neue Single Going Back To You veröffentlich wurde. Seit er Vince mehr als Mensch und weniger als Superstar betrachtete, hatte Flo aufgehört, sich all diese Daten zu merken. Er wusste ja auch, dass Vince für ein paar Tage zum Videodreh in Berlin gewesen war, aber er hatte nie nach Details gefragt. Hätte er das mal gemacht.
No matter whom I see
Or whom I meet
I'm always going back to you, baby
It's not what I chose
But no one comes close
I'm always going back to you
Der Text allein reichte, um Flo ein komisches Gefühl zu geben. An wen hatte Vince da gedacht? Zu wem kehrte er immer wieder zurück? Hoffentlich nicht zu dieser Tänzerin im Video, die in Flo heftigste Eifersucht weckte. Natürlich war sie wunderschön, natürlich flirtete sie im Video wie eine Irre mit Vince. Es war schließlich ihr Job. Sie spielte eine Rolle, sie war diejenige, die zwar nicht perfekt war, aber die einzige, die Vince immer wieder wollte.
Und Flo wusste, dass Vince ihn liebte, er wusste es. Aber es stimmte auch, dass Vince bis vor ein paar Monaten noch überhaupt keinen Plan von seinen eigenen sexuellen Präferenzen gehabt hatte und wenn er nun gar nicht schwul war? Wenn er Flo zwar liebte, aber diese blonde, elegante Tänzerin mit dem umwerfendsten Lächeln der Welt jemand war, zu dem er immer wieder zurückkehren wollte? Wenn er sie ansah und sich wünschte, stattdessen ihr Tattoo bekommen zu haben und nicht Flos? Wenn er vielleicht sogar irgendwann ihr Tattoo haben würde...
Flos Herz schlug schmerzhaft gegen seine Rippen, die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, dabei war das Video noch nicht mal zu Ende.
No goodbye will be forever
You're the earth and I'm your moon
I won't leave you, I can't, never
In the darkest night I'll hear you whisper
See you soon
Und bevor das Bild schwarz wurde, küssten sie sich. Flo blinzelte ungläubig, spulte zurück und drückte im richtigen Moment wieder auf Pause. Es war ein richtiger Kuss. Auf die Lippen. Wie hatte Vince das einfach so tun können und ihm nichts davon erzählt? Alles wäre besser gewesen, als es zusammen mit dem Rest der Welt heute zu erfahren.
Flo war schlecht, als er die App schloss und er ließ den Kopf nach hinten gegen die Wand fallen, an der er lehnte. Er hatte eine Monster-Wucherung unter dem Arm und benötigte das letzte bisschen positiven Denkens, um es nicht einfach Tumor zu nennen. Sein Freund hatte eine unfassbar hübsche Tänzerin geküsst und ihm nichts davon erzählt.
Vielleicht war es endlich an der Zeit es zuzugeben: Alles war absolut scheiße.
Fast alles. Als er sich nachmittags in seinem Zimmer verkrochen hatte, pingte sein Handy und zeigte eine Nachricht von Leonie.
< Hey, Flo, ich bin seit ein paar Tagen wieder in der Stadt. Wollen wir uns treffen?
Ob Vince sich wohl darüber ärgern würde, dass Flo mit seiner Exfreundin rumhing? Das würde ihm irgendwie gefallen. Aber das war nicht der einzige Grund, warum er ja sagte. Wenn man sich schlecht fühlte, war Leonie die Person, mit der man sich treffen wollte. Sie konnte manches zwar nicht besser machen, aber sie hatte ihn seine Probleme immer für eine Weile vergessen lassen.
Also verabredete Flo sich kurzerhand mit ihr und sagte dafür ein Date mit Vince ab. Per Nachricht. Flo hatte erstens nicht das Gefühl, Vince anrufen zu müssen und zweitens hatte er auch absolut keine Lust, mit Vince zu reden. Man konnte Vince in seiner Antwort absolut anhören, dass er verwirrt war und sich wunderte, aber Flo ließ sich davon nicht einwickeln. Das alles trug aber auch nicht gerade dazu bei, dass er sich besser fühlte. Eigentlich wollte er nichts lieber, als mit Vince zu reden, aber wenn Vince nicht verstand, was er falsch gemacht hatte, wollte Flo es ihm auch nicht erklären. Und Flo würde nicht zugeben, dass er trotzdem mit Vince reden wollte. Nein, er hatte vor, Vince durch Nichtachtung klar zu machen, dass etwas nicht stimmte.
~ * ~
Leonie saß bereits auf der Terrasse des Cafés und blätterte durch die Eiskarte. Flo beobachtete sie ein paar Sekunden. Sie trug ihre blonden Haare kürzer, hatte sonnengebräunte Haut und wirkte vollkommen entspannt. Er bahnte sich seinen Weg durch Tische und Stühle und setzte sich ihr gegenüber. Sie grinsten einander kurz an, während sie sich gegenseitig betrachteten, dann fingen beide gleichzeitig an zu reden:
„Deine Haare wachsen ja endlich nach!" „Es ist so gut, dich zu sehen, du siehst fantastisch aus."
Beide lachten. „Danke", sagte Leonie dann und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich war bis vor ein paar Tagen zum Arbeiten in Mexico, daher die Bräune."
Sie erzählte von der Grundschule, in der sie Englischunterricht gab und er konnte absolut nicht glauben, was manche Leute in seinem Alter für ein Leben führten, während er immer noch zur Schule ging.
„Und ich bin auch nur noch ungefähr eine Woche hier, danach geht's nach Dänemark. Ich hab da endlich eine Wohnung gefunden und meine Eltern fahren mit mir zum Angucken hin und dann kann ich hoffentlich auch bald da einziehen und mich eingewöhnen, bevor das Studium anfängt."
„Holy Shit", meinte Flo. „Leo, das ist ... ich hab keine Ahnung, ich meine ... wow."
Sie wurde rot. „Ja, na ja, ich wollte einfach nicht mehr hierbleiben, weißt du?"
Er lächelte und dachte, es war die richtige Entscheidung gewesen, sich zu trennen. Während er gezwungen war, hier zu bleiben, zumindest so lange er mit seinem Bein nicht richtig klarkam, war sie frei, durch die Welt zu reisen und sie zu entdecken. Er wusste, dass sie bei ihm geblieben wäre, wären sie bei seiner Diagnose noch ein Paar gewesen. Und dann wäre die Trennung bestimmt nicht so gut gelaufen, wie sie es jetzt war.
„Aber erzähl mal." Sie beugte sich vor. „Geht's dir gut?"
„Wieso fragst du?", wollte er wissen und verbarg seinen Schreck.
„Ich hab von der Sache mit Vince d'Amico gehört", flüsterte sie verschwörerisch. „Ich weiß, wie dein Tattoo aussieht, vergiss das nicht, Flo. Ihr seid also zusammen?"
Dass sie sein Tattoo kannte, würde er niemals vergessen. Aber woher sie wusste, dass Vince die Medien regelmäßig belog und dass sie beiden längst zusammen waren, wusste er nicht. Seine roten Wangen waren dann auch Antwort genug.
„Das ist doch toll, Flo, freu dich mal!"
„Ich freu mich ja", verteidigte Flo sich, „nur ... nur heute nicht."
Sie runzelte die Stirn. „Ist nicht so einfach, mit einem Promi zusammen zu sein, oder?"
Flo schnaubte, zog sein Handy aus der Tasche und zeigte ihr das Video.
„Okay, wow", sagte sie am Ende, nach dem Kuss. „Macht er so was öfter?"
Flo wollte nein sagen, bremste sich aber kurz vorher. „Ich hab keine Ahnung", sagte er stattdessen. „Und es ist ehrlich gesagt ziemlich schwierig, ihm zu vertrauen, wenn er so was macht und es mir nicht erzählt."
Flo atmete tief durch und gab sich Mühe, nicht allzu gereizt sein Eis zu bestellen, als ein Kellner zu ihrem Tisch kam. Leonie griff nach Flos Hand, die auf dem Tisch lag. „Hey", sagte sie beruhigend. „Das wird schon alles wieder, ja?"
„Und wie?", entgegnete er abweisend. „Ich komme mir vor wie ein totaler Idiot. Als hätte ich wirklich geglaubt, ich, ein Einbeiniger ohne Abi, wäre genug für jemanden wie ihn."
Leonie drückte seine Hand und Flo konnte nur daran denken, dass Vince ihm gesagt hätte, er wäre wirklich ein Idiot, wenn er solche Sachen denken würde. Aber Leo war anders. Sie wollte immer, dass die Menschen um sie herum sich gut fühlten.
„Wenn er findet, du bist nicht gut genug für ihn, dann hat er dich überhaupt nicht verdient", sagte sie mit einem schiefen Lächeln. „Aber ich glaube nicht, dass das jemals jemand von dir denken könnte, Flo. Du bist ein toller Mensch."
„Danke", sagte er, brachte es aber nicht so richtig über sich, ihr zu glauben.
Leo zog ihre Hand weg, als der Kellner mit ihren Eisbechern auftauchte. Eine Weile löffelten sie schweigend.
„Du weißt, es gibt nur einen Weg, um die Sache aus dem Weg zu räumen, oder?", fragte Leo dann und schaute über den Berg aus Sahne zu ihm herüber, der ihr Eisbecher war.
Flo wusste genau, worauf sie hinauswollte. „Welchen Weg?", fragte er trotzdem.
„Rede mit ihm. Er kann deine Gedanken nicht lesen, Flo, du musst ihm sagen, dass er dich verletzt hat."
Flo machte widerwillige Geräusche und schob sich einen riesigen Löffel Eis in den Mund.
Leonie musste lachen. „Weißt du noch, als unsere ganze Stufe darüber geredet hat, dass ich dein Tattoo hätte? So was verbreitet sich immer sofort. Und weißt du noch, wie lange es gedauert hat, bis wir es auf die Kette bekommen haben, miteinander zu reden? Lächerlich lange."
Sie hatten früher schon immer darüber geredet, wie viel besser man diese Wochen hätte nutzen können. Wie viel früher er sie dann hätte küssen können. Sie hatte recht und Flo wusste das.
~ * ~
Am Abend setzte er sich nach draußen in die Wiese und hörte ein paar Minuten dem Gesang der Vögel zu, ehe er sein Handy in die Hand nahm und Vince anrief.
„Flo!" Vince klang unendlich erleichtert. „Ist alles okay?"
„Nein", sagte Flo ehrlich. „Ich bin echt wahnsinnig sauer auf dich."
„Oh." Tiefe Ernüchterung und dann kurze Stille. „Kannst du mir – oh. Oh Gott, das Video."
„Ja, genau", erwiderte Flo viel gehässiger, als es geplant war, „das Video."
Vince seufzte. „Ich hab überlegt, ob ich dir davon erzählen soll."
Er hatte es also nicht einfach vergessen, er hatte das Video absichtlich vor Flo verheimlicht. Und das war noch viel schlimmer. „Aber?", fragte Flo feindselig zurück.
Vince zögerte ein paar Sekunden. „Flo ... ich hab mich dir so nah gefühlt, die ganze letzte Zeit und ... ich dachte, so ein dummes Video macht keinen Unterschied mehr."
Flo war froh, als das bedrückende Gefühl in seiner Brust zu brodeln begann und sich in reine Wut verwandelte. „Keinen Unterschied?!", wiederholte er ungläubig. „Ich hab sowieso immer schon daran gezweifelt, dass du wirklich mit mir zusammen sein willst und jetzt, bei der allerersten Gelegenheit, küsst du jemand anderes. Ich – wieso – wie konntest du dir einreden, es würde keinen Unterschied machen, verdammt noch mal?"
Vince war hörbar überfordert. „Flo, ich liebe dich."
„Ist mir egal!", rief Flo und bereute es augenblicklich. Aber er nahm es nicht zurück. „Über wen war der Song?"
„Was?"
„Wer ist die Person, zu der du immer zurückkehren wirst? Egal, wen du triffst? Wer?"
Er hörte Vince am anderen Ende der Leitung schlucken. „Das ... Flo, das ist komplett erfunden. Da ist niemand. Außerdem, ich hab mir das mit dem Video nicht ausgedacht." Seine Stimme wurde schneller, fester und ein wenig gereizt. „Ich schreibe die Skripte für die Videos nicht, okay?"
„Geküsst hast du sie aber trotzdem", höhnte Flo. „Du hättest nein sagen können."
Schweigen. „Ja", sagte Vince dann und seine Stimme schien um mehrere Grad abgekühlt zu sein. Er war fertig damit, Flo dazu zu bringen, ihm zu verzeihen. „Ich hätte nein sagen können, hab ich aber nicht. Weil es ein Kuss war, in einem Video, mit einer Frau, die ich vermutlich nie wiedersehen werde. Weil es völlig bedeutungslos war und ich nicht gedacht hätte, dass du mir so wenig vertraust."
Flo hielt die Luft an, um ein Geräusch zu unterdrücken, das aus ihm herauswollte. Seine Wut hatte sich im Nichts aufgelöst und jetzt sammelten sich stattdessen Tränen in seinen Augenwinkeln.
„Warum sollte ich dir vertrauen?", fragte Flo mit rauer Stimme. Er hatte normalerweise kein Problem damit, seine Gefühle offen zu zeigen, aber jetzt wollte er nicht, dass Vince wusste, wie sehr er Flo verletzt hatte. Er kam sich klein und schwach und vollkommen unwichtig vor.
Vielleicht hätte er es Vince zu Gute halten sollen, was er als nächstes sagte, denn Flo hätte das an seiner Stelle sicher nicht über sich gebracht. „Weil ich dich liebe, Flo."
„Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben kann." Flo drückte das Handy schnell gegen seine Brust, damit sein Schluchzen vielleicht nicht bei Vince ankam. Er schluckte heftig und hob das Handy zurück ans Ohr. „Liebe erklärt nicht alles", sagte er leise. „Und sie verzeiht nicht immer."
Er wartete einen langen Moment auf eine Antwort, aber abgesehen von Vince' Atem hörte er nichts und legte auf. Seine Sicht begann zu verschwimmen und er schaffte es gerade noch, das Handy auszuschalten, ehe ihm Tränen über die Wangen liefen.
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Die Geschichte wird immer emotionaler ._.
Hoffe, ich konnte ein paar Gefühle bei euch auslösen - erzählt mir gerne, wie ihr es fandet und wer eurer Meinung nach im recht ist :)
Oh ja, und wie gefällt euch der Songtext?
Danke für eure Unterstützung, meine Lieben ♥
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