Kapitel 13 - Flo
Flos Haare begannen, nachzuwachsen. Man konnte sich mittlerweile einreden, dass er sie mit Absicht so kurz geschoren hatte und man konnte erkennen, wie kastanienbraun sie waren.
Eigentlich hatte er seine Haare nie besonders gemocht, aber jetzt konnte er nicht aufhören, sich über den Kopf zu streichen, um sicherzustellen, dass sie alle noch da waren. Und das Timing war perfekt. Er stand vor seinem Kleiderschrank, um sich Klamotten rauszusuchen für den möglicherweise wichtigsten Tag in Vince' Leben: Er würde Flo seiner Familie vorstellen. Und als wäre das nicht schlimm genug, hatte Flo die ganze Zeit Vince' Bemerkung über Flos Modegeschmack im Hinterkopf. Der war nämlich anscheinend nicht vorhanden. Na ja, dafür konnte Flo jetzt endlich seine Mütze in den Müll befördern. Keine Chemo mehr, kein Haarausfall.
Wenig später war der Boden in seinem Zimmer bedeckt von irgendwelchen Klamotten und er war trotzdem kein Stück weitergekommen. Frustriert rief er Naomi an, die sich nach dem ersten Klingeln direkt meldete.
„Flo! Was ist los, müsstest du dich nicht hübsch machen?"
Er erzählte ihr von seinem Dilemma und kam sich vor wie ein Mädchen, das nicht das richtige Outfit fürs erste Date im Schrank hat.
„Irgendwas musst du doch haben", murmelte sie. „Sind wirklich alle deine Hemden gemustert?!"
Er machte ein bestätigendes und peinlich berührtes Geräusch.
„Kannst du dir was von deinem Onkel leihen?"
„Machst du Witze? Du kennst ihn, er ist dreimal so breit wie ich."
Sie überlegten hin und her, während Flo von Minute zu Minute mutloser wurde.
„Warte!", rief Naomi dann plötzlich. „Mir geht gerade ein Licht auf."
„Okay, würdest du mich bitte erleuchten, ich muss noch duschen, bevor Vince mich abholt."
„Dein Abiball!"
„Hä?"
„Du hast doch bestimmt einen Anzug, den du dazu anziehen wolltest, oder?"
Flos Augen weiteten sich. Sie hatte völlig recht. An den Anzug hatte er sich lange Zeit gar nicht mehr getraut zu denken, seit er es einmal gewagt hatte, sich seine Beerdigung vorzustellen und seine Vorstellungskraft ihm gezeigt hatte, wie sie ihn in genau diesem Anzug bestatten würden. Danach hatte er alle Gedanken daran so effektiv verbannt, dass er sich jetzt mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. „Naomi, du bist ein Genie. Ich schreib dir später!"
„Trink einen für mich mit", sagte sie noch, ehe er auflegte und Anja suchen ging.
Der Anzug hing bei Anja und Theo im Schlafzimmer, Flo fragte lieber nicht nach, warum. Es gab bestimmt irgendeinen emotionalen Grund, mit dem er sich gerade nicht auseinandersetzen wollte. Flo schnappte sich von dem Anzug das Hemd und die Krawatte, was gepaart mit einer schwarzen Jeans ein schickes aber nicht übertriebenes Outfit ergab. Hoffte er zumindest, denn unbestätigten Gerüchten zufolge hatte er ja überhaupt keine Ahnung.
Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bevor Vince auftauchen würde, um ihn einzusammeln. Mehr als genug Zeit zum duschen und anziehen. Flo ging ins Bad, warf seine Sachen in den Wäschekorb und setzte sich zum Duschen in die Badewanne, weil das mit einem Bein viel einfacher war.
Es passierte, als er sich gerade mit Duschgel die Achseln schrubbte. Seine Finger streiften eine kleine Beule unter seinem linken Arm. Sofort riss er den Arm nach oben, um sich das näher anzusehen und knallte mit dem Ellbogen gegen den Wasserhahn. Die Beule war ein kleines bisschen gerötet und fühlte sich hart unter dem Druck seiner Fingerspitzen an. Es gab gar keinen Zweifel daran, was das war. Eine Wucherung. Auf derselben Seite, auf der ihm sein Bein fehlte.
Statt anzufangen, panisch herumzubrüllen, was er wohl hätte tun sollen, wurde sein ganzer Körper ruhig, entspannte sich, er ließ die Hand sinken und schloss die Augen.
Das hier konnte nicht wirklich passieren.
Er hatte gerade erst angefangen, sich ein neues altes Leben aufzubauen und jetzt wollte der Krebs es ihm sofort wieder wegnehmen?
Nein.
Flo weigerte sich, das zu akzeptieren. Zumindest nicht heute. Vince würde bald vor seiner Tür stehen und dann wollten sie zum Haus von Vince' Eltern fahren und Vince' ganzes Leben würde sich ändern. Oder vielleicht auch nicht. Aber es war Vince wichtig, dass Flo dabei war und Flo würde ihn auf gar keinen Fall hängen lassen. Wenn das hier Krebs war, dann kam es auf einen Tag nicht an. Flo konnte auch noch morgen davon erzählen und ins Krankenhaus zurückgehen. Wenn das hier sein letzter Tag draußen war, dann wollte er ihn erinnerungswürdig machen.
Er öffnete die Augen wieder und biss die Zähne zusammen. Sperrte alle seine Ängste, Emotionen und Zweifel hinter dicken Mauern ein, ehe er vorsichtig aufstand und sich abtrocknete.
Den Rest der Zeit saß er angezogen auf seinem Bett und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Sein Magen zog sich die ganze Zeit schmerzhaft zusammen aber er musste jetzt stark sein. Für Vince.
Wenig später klingelte es und Flo schulterte seinen Rucksack und ging nach unten. Seinen konzentrierten Gesichtsausdruck konnte man leicht auf die Schwierigkeiten mit der Treppe und der Prothese schieben.
„Du siehst toll aus", sagte Vince, der auf der Türschwelle stand und mit Anja geplaudert hatte.
„Höre ich da einen überraschten Unterton?", fragte Flo und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme normal klang.
„Nicht die Spur", erwiderte Vince und bot Flo seinen Arm an.
Flo nahm ihn, grinste seiner Tante zu und ließ sich von Vince zum Auto geleiten. Vince sah heute eher wie er selbst aus und nicht wie die Hochglanz-Popstar-Version von sich. Seine schwarzen Haare fielen ihm frei in die Stirn, er trug ein weißes T-Shirt und ein dunkles Sakko, dazu Jeans und Sneaker. Flo ärgerte sich fast, dass er sich solche Gedanken um sein Outfit gemacht hatte.
Erst als Flo sich auf dem Beifahrersitz arrangiert hatte, überlegte er, ob Vince mit seinem Kompliment die fehlende Mütze gemeint haben könnte. Vielleicht hätte Flo sie nicht wegwerfen sollen. Das war voreilig gewesen. Er presste den linken Arm fest an den Körper, konnte aber durch den Stoff des Hemdes die kleine Beule nicht spüren. So war es leichter, sie zu vergessen. Das hoffte er zumindest.
Vince setzte sich auf den Fahrersitz und beugte sich zu Flo herüber. Ehe Flo wusste, was geschah, lagen Vince' Lippen auf seinen und der Kuss löschte alle Gedanken in Flos Kopf aus. Um sich an das Gefühl zu klammern, vergrub er eine Hand in Vince' Haar und hielt ihn fest. Für Flo war der Kuss voller Verzweiflung, für Vince voller Verheißung. Flo erkannte es an Vince' Lächeln, als er sich losmachte.
„Lass noch was von mir übrig", raunte Vince und brachte seine Frisur mithilfe des Rückspiegels in Ordnung.
„Tut mir leid", sagte Flo.
„Ist alles in Ordnung?" Vince war einfach zu aufmerksam. Flo konnte ihm nicht ewig etwas vormachen, aber jetzt musste es sein.
Er nickte. „Ich bin ... nervös, schätze ich?"
Vince drückte einmal kurz seine Hand, ehe er den Motor anließ und losfuhr. „Du brauchst nicht nervös zu sein. Ich liebe dich, meine Familie wird sofort erkennen, wieso. Und ich verspreche, ich bin die ganze Zeit bei dir."
Flo kaute auf seiner Lippe herum und starrte auf die Straße. Nervosität vorschieben würde heute seine Rettung sein, aber ab morgen musste er sich etwas anderes überlegen.
„Also bist du überhaupt nicht nervös?"
Vince seufzte. „Doch, ehrlich gesagt. Es ist ein großer Schritt."
Flo nickte und machte dann das Radio an. Stille war gerade unerträglich. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, aber auf der Autobahn nahm Vince Flos Hand und hielt sie fest, solange es ging. Flo dachte die ganze Zeit darüber nach, wie er es anstellen könnte, nicht die ununterbrochen an das Ding unter seiner Haut zu denken. Positiv denken? Vielleicht war es ja gar nichts und überhaupt nicht der Rede wert? Unglaubwürdig. Es half einfach nichts, je mehr er sich darauf konzentrierte, desto schlimmer wurden seine Magenschmerzen und desto schlechter fühlte er sich. Aber Vince' Familie würde ihn ablenken. Das war der einzige Lichtblick.
Es funktionierte. Als sie vor einem Haus parkten, das Flo sich irgendwie kleiner vorgestellt hatte, überkam ihn tatsächliche Nervosität. Es war lächerlich, weil er wirklich ein dringenderes Problem hatte, aber er fragte sich ernsthaft, was er tun sollte, wenn Vince' Familie ihn nicht mochte.
Vince zog die Handbremse an und war ausgestiegen und um das Auto herumgegangen, um Flo die Tür zu öffnen, ehe Flo auch nur noch einmal tief durchatmen konnte. Er ließ sich von Vince hochhelfen und zusammen durchquerten sie den Vorgarten und gingen an der einen Seite des Hauses entlang, statt reinzugehen. Flo wurde sehr bald klar, warum. Hinter dem Haus auf der Terrasse war bereits der Rest von Vince' Familie versammelt. Flo versuchte sich an alle Namen zu erinnern, aber er war zu sehr darauf konzentriert, nicht zu besorgt auszusehen.
Die anderen hatten sie noch nicht bemerkt. Ein Mädchen saß mit angewinkelten Beinen auf einer Sonnenliege, das Handy in der Hand. Flo schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn. Zwei weitere Frauen standen neben dem Grill und unterhielten sich, ein Mann, der Vince' Vater sein musste, saß auf einem Stuhl in ihrer Nähe und hörte zu. Flo wusste, dass Vince' Mutter Italienerin war und sein Vater hier aus Deutschland kam. Er war der einzige, bei dem man den deutlichen italienischen Einschlag in Haut- und Haarfarbe nicht erkennen konnte, der auch bei Vince so deutlich hervortrat.
„Da sind sie!", rief plötzlich die jüngere der Frauen und winkte.
Flo hörte Vince seufzen, dann griff er nach Flos Hand und sie näherten sich der Gruppe.
„Hallo", sagte Vince förmlich und Flo wusste genau, dass er jetzt doch Bammel hatte. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Sein ganzes Leben lang. „Flo, das ist meine Familie."
Alle lächelten Flo an, aber die Anspannung war deutlich spürbar. Er versuchte, zurückzulächeln und umklammerte Vince' Hand viel zu fest. Als wäre es seine Familie, die gleich ihr Urteil fällen würde.
„Leute, das ist Flo. Mein Freund."
Erst sagte niemand ein Wort, dann stand das Mädchen von der Liege auf, stellte sich neben ihren Vater und flüsterte absichtlich laut: „Das heißt sie sind schwul, Papa."
Vince' Vater lachte leise in sich hinein. „Ich weiß, was das heißt."
Flo hatte keine Gelegenheit, fragend zu schauen, weil Vince' Mutter auf ihn zukam und zuerst ihn und dann Vince umarmte.
„Es freut mich, dass ihr euch beide gefunden habt", sagte sie strahlend. „Ich bin übrigens Beatrice, es ist so schön, dich kennenzulernen."
Sie sprach mit italienischem Akzent und Flo fühlte sich sofort wohl bei ihr. Und so, mir nichts dir nichts, war die Anspannung vorbei. Vince wurde von seiner kleinen Schwester mit Beschlag belegt, während seine ältere Schwester sich zu Flo gesellte. Sie stellte sich als Viola vor.
„Ich hätte ja gar nicht gedacht, dass Vincent tatsächlich ein Herz hat", scherzte sie.
„Ich kann bezeugen, es ist da", erwiderte Flo und lachte.
Sie unterhielten sich entspannt miteinander und erst als sie zum Essen am Tisch saßen, kamen die ernsteren Themen wieder auf.
„Viiiiince?", fragte das jüngere Mädchen, Alessia. „Wie lange wusstest du schon, dass du schwul bist?"
Vince schien sich pudelwohl in seiner Haut zu fühlen. „Erst, seit ich Flo kenne."
„Und seit wann kennst du Flo?", fragte Robert, Vince' Vater.
„Komm schon, das weißt du doch."
Sie kabbelten sich alle und waren auf familiäre Art unhöflich zueinander. Das erklärte, warum es für Vince so leicht gewesen war, mit Flo auf dieselbe Art umzugehen. Vince hatte ihn nie wie ein rohes Ei behandelt, sondern wie seine Familie.
Zum Nachtisch gab es Früchtequark, und Beatrice wandte sich vertrauensvoll an Flo. „Und du hattest also Krebs? Ein Osteosarkom, richtig?"
Flo war überrascht, dass sie das wusste und nickte. Er erzählte kurz seine Krebsgeschichte, was ihm diesmal noch unendlich viel schwerer fiel als vor Wochen, als er sie Vince erzählt hatte. Damals hatte es sich angefühlt, als wäre er bereits im Nachwort der Geschichte, als würde nachher nur noch ein „und er bekam eine wunderschöne Prothese und lebte glücklich und zufrieden, bis er mit 120 irgendwann ins Gras biss" kommen, aber heute war es, als wäre seine Krebsgeschichte noch lange nicht zu Ende.
Flo nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas und beantwortete höflich Beatrice' Fragen über die Chemo und die Reha. Sie schien sich mit dem Thema Krebs beschäftigt zu haben und es war wirklich nicht ihre Schuld, dass Flo sich ausgerechnet heute lieber über jedes andere Thema auf der Welt unterhalten hätte. Unter dem Tisch stieß er unauffällig Vince an. Vince allerdings reagierte nur abwesend, nahm Flos Hand, und hörte weiter seinem Vater zu, der gerade eine Geschichte über seine Zahnarztpraxis erzählte.
Flo fühlte sich plötzlich wie von Wänden eingeschlossen. Er kannte das Gefühl, er musste hier weg und sich beruhigen, die Panikattacke ersticken, bevor sie ihn erstickte. Er stand auf.
„Ich muss mal - also, wo ist das Bad?"
Alessia beschrieb ihm den Weg und Beatrice bot an, ihn zu begleiten. Flo lehnte höflich ab und betrat das Haus durch die Balkontür. Allein zu sein half schon mal ein bisschen, aber er musste trotzdem immer noch das Bad finden. Halb blind schritt er durchs Wohnzimmer so schnell er konnte und bog dann rechts ab. Zum Glück stand die Tür zum Bad offen und er schloss sich eilig darin ein. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen und konzentrierte sich aufs Atmen.
„Alles ist gut", flüsterte er in seine Handflächen. „Stell dich nicht so an, alles ist gut. Alles ist gut."
Er wiederholte die Worte, bis er wieder normal atmen konnte. Er musste durchhalten. Vince diesen Tag zu ruinieren war unverzeihlich. Und wie er ja bereits festgestellt hatte, ob er heute oder morgen ins Krankenhaus fuhr, machte keinen Unterschied. Er hatte nur falsch damit gelegen, dass er es schaffen würde, den Tag trotz allem zu genießen. Er war eben einfach nicht selbstlos genug, um heute für Vince glücklich zu sein. Und Vince anzulügen und ihm vorzuspielen, er wäre nervös, fühlte sich falsch an und es würde auch nicht mehr ewig funktionieren.
Flo drehte den Wasserhahn auf und hielt erst seine Hände unter den kalten Strahl, dann spritzte er sich ein paar Händevoll ins Gesicht. Es half ein wenig. Es dauerte trotzdem noch ein paar Minuten, bis er bereit war, sich gerade hinzustellen und es wieder mit der Außenwelt aufzunehmen. In der Zeit starrte er sein Spiegelbild an und suchte nach Veränderungen. Sah man ihm an, dass seine ganze Welt schon wieder zusammengebrochen war? Würde Vince es merken? Und wenn ja, was würde dann passieren?
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Ein etwas kürzeres, aber dafür umso emotionaleres Kapitel. Könnt ihr Flos Reaktion nachvollziehen?
Wenn es euch gefallen hat, lasst mir gerne ein Vote und/oder einen Kommentar da. Ich freu mich auf eure Reaktionen ♥
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