Kapitel 11 - Flo
Es fühlte sich komisch an, das Krankenhaus zu betreten. Mit beiden Beinen und nicht als Patient. Er begegnete Aylin auf dem Korridor zu Naomis Zimmer und sie umarmte ihn vorsichtig, um ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
„Immer eine Freude, dich zu sehen", strahlte Flo.
Sie lächelte kopfschüttelnd. „Und ich hatte gehofft, dich Nervensäge endlich los zu sein."
„Du wirst mich niemals los sein", drohte er spielerisch und marschierte (leicht hinkend) weiter zu Naomis Zimmer. Er bemerkte sofort die neuen Sachen: ein Pferdeposter hing an der Wand, die zuvor mit seinen ganzen Fotos bedeckt gewesen war und ein paar Klamotten lagen auf seinem ehemaligen Bett.
„Flo!" Naomi sprang auf und umarmte ihn ebenfalls. „Ich hab eine neue Mitbewohnerin", sagte sie dann mit einem Blick auf das Poster. „Sie ist noch jung."
„Oh." Sie setzten sich auf Naomis Bett. „Was hat sie denn?"
„Leukämie", seufzte Naomi. „Sie braucht Knochenmark. Aber genug vom Krebs, wie geht's dir, was für Abenteuer hast du draußen schon erlebt?"
Sie fragte nicht nach der Sache auf Twitter, mit dem Foto von Flos Tattoo, aber er war sich sicher, dass sie es mitbekommen hatte. Jeder hatte es mitbekommen. Er versuchte, nicht allzu oft daran zu denken. Naomi erzählte er trotzdem von seiner Begegnung mit Linus und von seinem Geburtstag, den er gerne als märchenhaft beschrieben hätte, wenn er jemals so ein Wort in den Mund nehmen würde. Aber wie Vince plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte, um ihn mitzunehmen – das hatte sich unglaublich angefühlt. Als gäbe es Hoffnung.
„Das soll alles sein?", fragte Naomi trotzdem kopfschüttelnd. „Vor dir liegt die ganze Welt und du sitzt in deinem Garten rum?"
„Das mit dem Restaurant hast du aber schon mitgekriegt oder?", erwiderte er.
Sie rümpfte die Nase. „Du musst Abenteuer für uns beide erleben, so lange ich hier festsitze. Ich erwarte Geschichten."
„Aber-"
„Kein Aber. Es muss doch irgendwas geben, das du machen willst. Worauf du monatelang gewartet hast."
Er sah sie an und überlegte. Es gab tatsächlich etwas. Etwas, das ihm wichtig gewesen war und ihn motiviert hatte, während er wochenlang im Bett gelegen hatte. Etwas, von dem er dachte, dass es nicht mehr möglich sein würde, nachdem sie ihm sein Bein abgenommen hatten. Aber es war möglich. Und er würde es tun. Mit der Person, die es möglich gemacht hatte.
Er rief Vince noch auf dem Weg vom Krankenhaus zur Bushaltestelle an. „Vince. Was machst du heute Nacht um vier Uhr?"
Es rauschte leise in der Leitung. „Ähm. Schlafen ist nicht die richtige Antwort, oder?"
„Nein", grinste Flo. „Kannst du um vier Uhr morgens bei mir vorm Haus sein? Ich hab da was in Planung."
Diesmal kam die Antwort ohne Zögern: „Natürlich!"
~*~
Flo hatte einen Rucksack gepackt und Anja Bescheid gesagt. Sie war erleichtert, dass er nicht alleine ging, auch wenn sie Vince noch nicht so richtig einschätzen konnte. Flos Urteil über ihn reichte ihr aus.
Die Nacht war warm und sternenklar, als Flo mit dem Rucksack auf dem Rücken nach draußen schlich. Okay, mit schleichen war wegen der Prothese noch nicht so viel, aber er hatte zumindest niemanden aufgeweckt. Glaubte er jedenfalls. Vor dem Haus lehnte Vince lässig an seinem Auto und wartete auf ihn.
„Soll ich den Rucksack nehmen?", bot er an, als sie sich zu Fuß auf den Weg die Straße entlang machten.
„Nein, geht schon." Flo wollte das alleine machen. Weil er es konnte. Laufen war immer noch anstrengend und ging nicht wie von allein, aber er würde es schaffen.
„Wohin gehen wir?", wollte Vince wissen, als sie um die Ecke bogen und sein Blick auf ein Sackgassenschild fiel.
„Lass dich überraschen", erwiderte Flo nur grinsend. Er stupste Vince beim Gehen an und streifte seinen Arm länger, als dass es ein Versehen gewesen sein könnte. „Danke, dass du mitkommst."
„Na klar komme ich mit."
Vince passte sein Tempo Flos an. Das würde dank der Hightech-Prothese nicht für immer nötig sein, Flo brauchte nur noch mehr Übung. Das hier war die längste Strecke, die er je mit der Prothese zurückgelegt hatte. Und dann auch noch über unwegsames Gelände, denn sie mussten über ein ungepflegtes Rasenstück und durch ein sehr schmales Waldstück. Flo hatte die Zeit extra großzügig kalkuliert, aber der Himmel war schon merklich heller, als sie den Hügel erreichten und anfingen, mit der Steigung zu kämpfen.
„Ist das eine gute Idee?", fragte Vince vorsichtig, als Flo mit zusammengebissenen Zähnen voranging.
Flo drehte sich zu ihm um. „Vertrau mir."
Vince seufzte. „Okay."
Flo wusste, dass er langsam und schwerfällig war und vielleicht noch gar nicht dazu bereit, auf Hügel zu klettern, aber es war ihm absolut egal. Nach ungefähr zehn Minuten schob er für Vince mit seinem Holzbein ein paar Brennnesseln beiseite und sie betraten die Kuppe des Hügels. Er überragte die Bäume in der Umgebung und man konnte von hier großartig über die Felder gucken.
Er legte seinen Rucksack ab, kramte eine Picknickdecke und eine Flasche Wasser heraus und warf sie Vince zu, während er selbst die Decke ausbreitete und sich setzte.
Vince reiche ihm die Flasche weiter und setzte sich neben ihn. Schweigend schauten sie in den heller werdenden Himmel.
„Ich bin als Kind dauernd hergekommen", sagte Flo leise. „Er kam mir immer größer vor, der Hügel. Aber ich war einfach nur kleiner." Er lächelte traurig und hoffte, dass Vince es nicht merkte. Tat er aber natürlich trotzdem und legte einen Arm um Flo. Flo rutschte näher an ihn heran und lehnte sich bei ihm an. „Hab ich dir je von meinen Eltern erzählt?", fragte Flo, obwohl er die Antwort sehr gut kannte. Es war eine weitere traurige Geschichte und er hatte Vince nicht noch mehr überfordern wollen.
„Hast du nicht", antwortete Vince und streichelte ihm über den Rücken.
„Sie sind vor fünf Jahren gestorben. Autounfall. Ich saß hinten im Auto und hab keinen Kratzer abbekommen. Aber dafür Krebs, hey."
„Und deine Tante hat dich aufgenommen?"
Flo nickte. „Ja, sie und Theo sind echt toll. Obwohl sie selber drei ganz kleine Kinder hatten, haben sie mich sofort zu sich geholt. Ich hab mich nie wie ein richtiges Waisenkind gefühlt."
„Es tut mir leid, dass deinen Eltern das passiert ist", sagte Vince nach einer Weile leise, als wäre er sich nicht sicher, ob er etwas dazu sagen sollte.
„Mir auch", murmelte Flo. „Ich bin in der ersten Zeit bei Anja und Theo nie viel im Haus geblieben. Ich musste immer irgendwohin, nie stillstehen. Und dann hab ich diesen Ort hier gefunden und hier war es okay, verstehst du? Einfach zu sein und nichts zu tun. Hier hab ich kapiert, dass ich trotz allem froh war, am Leben zu sein. Dass ich vielleicht auch wieder glücklich sein kann, irgendwann."
Der Horizont begann sich ganz zart rosa zu färben. Es dauerte jetzt nicht mehr lang.
„Und, bist du glücklich?", fragte Vince, als wüsste er das nicht selber.
„Das musst du fragen, du Idiot?", entgegnete Flo liebevoll. „Ich hab mir immer Vorwürfe gemacht, weil ich den Hügel vergessen hatte, als ich im Krankenhaus war. Ich habe wieder eine Sache überlebt und ich dachte, der Hügel sollte es wissen."
Sie verfielen in Schweigen und schauten dem Himmel beim Aufwachen zu. Bald konnte man einen winzigen Streifen der aufgehenden Sonne über den Maisfeldern erkennen.
Vince neben ihm seufzte und zog seinen Arm zurück. Sofort geriet Flo in Panik – hatte er was falsch gemacht?
„Flo ... ich glaube, wir sollten vielleicht ... reden."
Oh nein. Oh nein. Es war passiert, Vince hatte das Interesse verloren, weil Flo eine verdammte Spaßbremse war und nur traurige Geschichten zu erzählen hatte. Wieso hatte er nicht einfach die Klappe gehalten?
Im ersten Licht des Tages rückte Vince ein Stück von ihm ab und schaute ihn an. „Ich weiß nicht, was das hier ist", begann er und fuhr sich durch die Haare. „Ich kenne mich nicht aus, wie du ja weißt. Und ... ich weiß nicht, was deine Pläne sind. Was du dir erhoffst. Aber ich dachte, egal was es ist, meine Gefühle ändert das nicht und die können auch nicht rückgängig gemacht werden. Und selbst wenn, das würde ich nie wollen. Es ist nur ..." Vince hielt inne und wandte sich der Sonne zu. „Ich will meiner Familie erzählen, wer ich bin. Den Medien. Der ganzen Welt, vielleicht. Wenn du nichts damit zu tun haben willst, ist das in Ordnung. Aber ich kann nicht mehr weitermachen, ohne zu wissen, was du für mich empfindest."
Vince' Blick kehrte zu Flo zurück und Flos Herz war kurz davor in seiner Brust zu explodieren. Orangefarbenes Licht ergoss sich über die Hügelkuppe und ließ Vince' graue Augen golden schimmern.
„Ich liebe dich, Flo", sagte Vince und Flos Herz setzte aus.
Etwas zu wissen ist etwas ganz anderes, als es zu hören. Als es zu hören, aus dem Mund von Vince d'Amico, mit der Stimme, die abertausende Menschen zum Weinen bringen konnte. Und er sagte seinen Namen. Es war nur Flo, den er wollte, und ausgerechnet jetzt versagte Flo die Stimme und sein Kopf war leer wie der Himmel.
Aber eine Sache war noch da. Er beugte sich vor und begann, seine Schnürsenkel aufzumachen.
„Flo?", fragte Vince mit einem verräterischen Zittern in der Stimme. „Flo, ist alles okay?"
Flo antwortete nicht, sondern kämpfte weiter mit seinem Schuh.
„Hab ich dich kaputt gemacht?", fragte Vince im schwachen Versuch, einen Witz zu machen.
Flo zog sich endlich den Schuh vom Fuß und den Socken direkt mit. Dann winkelte er den Fuß an, sodass man die Unterseite erkennen konnte, auf der ein hellblaues Tattoo zu sehen war, das in etwa die Form eines Auges hatte.
Vince warf einen Blick darauf und schnappte nach Luft. „Du – du hast –"
Flo nickte mit großen Augen. „Seit dem Tag, an dem du mir die Rosen geschenkt hast."
Vince sah aus, als wäre er plötzlich mit der Situation überfordert. Flo stand auf, mit seinem Holzbein und ohne den rechten Schuh. Dann reichte er Vince die Hände und zog ihn hoch, wobei Flo sich natürlich überschätzte und Vince am Ende ihn festhalten musste, bis er sein Gleichgewicht wiederfand. Flo räusperte sich. „Ich liebe dich auch", sagte er und natürlich, warum auch nicht, lief er rot an. Im Leuchten des Sonnenaufgangs konnte man das hoffentlich nicht erkennen. „Und ich weiß, du kennst dich damit nicht aus", fuhr er mit einem unterdrückten Grinsen fort, „aber das ist der Moment, in dem wir uns –" Vince unterbrach ihn, indem er sich vorbeugte und seine Lippen auf Flos drückte. Flo schloss die Augen und ließ sich von Vince in eine Umarmung ziehen, seine Hände hinterließen brennende Spuren auf Flos Haut. Hatte es je einen perfekteren Moment gegeben als diesen Kuss auf einem menschenleeren Hügel bei Sonnenaufgang?
Atemlos lösten sie sich voneinander, nur damit Flo Vince' Gesicht in seine Hände nehmen und ihn direkt wieder küssen konnte. Ein Kuss reichte noch lange nicht. Zum Glück schien Vince das ganz ähnlich zu sehen.
„Wieso haben wir so lange gebraucht?", murmelte Flo später, als sie aneinander gekuschelt auf der Decke lagen.
„Weil wir Idioten sind", sagte Vince schlicht und stützte sich auf einen Ellbogen, um Flo besser sehen zu können. „Ich hätte es dir von Anfang an sagen sollen."
Flo schüttelte den Kopf. „Weißt du, was für eine Panik ich hatte, als du im Krankenhaus aufgetaucht bist? Ich wäre schreiend weggelaufen – weggefahren, pardon – wenn du es mir da schon gesagt hättest."
Vince beugte sich über ihn und stützte sich zu beiden Seiten von Flos Schultern auf der Decke ab. „Jetzt kannst du nicht weglaufen", murmelte er.
„Will ich auch gar nicht", hauchte Flo.
„Ich will, dass du weißt, am Morgen, als ich aufgewacht bin und das Tattoo auf einmal da war – ich wusste sofort, zu wem es gehört. Und ich dachte, ich kann dich unmöglich noch mehr lieben, aber ich hab mich geirrt. Mit jedem Date und mit jeder Nachricht von dir, hab ich mich mehr in dich verliebt."
Flos Wangen glühten und er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Also hob er eine Hand an Vince' Hinterkopf und zog ihn zu sich hinunter, damit er ihn küssen konnte.
Vince grinste, als sie sich lösten. „Du hattest also Panik, ja?"
Flo lachte. „Hauptsächlich, weil Naomi vorher mit dir allein war und ich hatte ja keine Ahnung, was sie dir erzählt haben könnte."
„Natürlich", sagte Vince ironisch.
„Nein, eigentlich ... hatte ich Angst, dass du mich nur wegen meinem Bein besuchen kommst. Oder dich deswegen verliebt hast. Das wäre ... komisch gewesen."
Vince küsste ihn wieder und falls es Zweifel gab, zerstörte er sie damit. „Du bist wirklich ein Idiot, Flo."
„Hey!"
„Niemand würde jemals nur den Krebspatienten in dir sehen. Zumindest nicht für mehr als zwei Sekunden." Vince beugte sich wieder näher zu ihm, küsste ihn aber nicht. „Du hast keine Ahnung, wie du auf andere wirkst, oder?"
Flo starrte ihn an. „Wie wirke ich denn?" Er meinte die Frage ernst, kein flirtender Unterton war hörbar.
„Du bist anziehend, wie ein Magnet", sagte Vince. „Du bist positiv und enthusiastisch, obwohl du es nicht sein müsstest, du bist witzig und charmant und immer überraschend. Und du zeigst deine Gefühle offen, du schämst dich nicht für Traurigkeit oder schlechte Laune. Das ist was Besonderes."
„Ist es nicht", widersprach Flo mechanisch. „Das – das klingt gar nicht nach mir. Ich bin nicht enthusiastisch, weißt du nicht mehr, wie mies ich drauf war, als das mit der Prothese nicht geklappt hat? Oder als ich nicht rausdurfte, wie ich es dir versprochen hatte?"
Vince zog sich blitzschnell zurück, nur um ein Bein über Flo zu schwingen und sich auf ihn zu legen. Sein Gewicht verschwand allerdings – bedauerlicherweise – sofort wieder, als er sich auf Händen und Knien abstützte. „Du hattest die Idee, hierherzukommen, einfach so, für den Sonnenaufgang. Auf dem Konzert, als du mir leidgetan hast und ich nicht wusste, was ich sagen sollte, hast du einen Witz gemacht. Und ... danach wusste ich noch viel weniger, was ich sagen sollte, weil ich schon verzaubert war."
„Meine Witze sind nicht mal gut."
„Das stimmt."
„Blödmann."
„Flo", sagte Vince. „Es ist mein Ernst. Du bist unglaublich."
Flo hätte den Kopf geschüttelt, hätte er nicht gerade auf dem Rücken gelegen. Vince liebte ihn wirklich und ehrlich und aufrichtig, das allein war schon absolut wahnsinnig, aber ... auch wenn Vince es ernst meinte, er sah nicht das, was alle anderen sahen. Er sah nicht das, was wirklich da war. Vielleicht ist es mit der ersten Liebe immer so, dass man die Welt durch eine rosarote Brille betrachtet und den anderen erst recht. Und irgendwann verblasst der Schein und man sieht die Realität, wobei die Liebe einfach wohl oder übel zerbrechen muss. Flos wahres Bild würde nie an Vince' glanzvolle Halluzination heranreichen. Flo war nicht so, wie Vince ihn beschrieb. Er war viel, viel weniger.
Und Flo hätte Vince das jetzt entweder beibringen können, den Moment zerstören, oder er würde das, was sie hatten, genießen, bis Vince ihn irgendwann so sah, wie er wirklich war und ihn deswegen verließ.
Flo schaute zu Vince hoch, wie er im Sonnenlicht unter dem perfekten blauen Himmel zu ihm heruntersah und wusste, er liebte ihn so sehr, dass er bereit war, sich von Vince das Herz brechen zu lassen.
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Ich bettle ja sonst eher selten um Kommentare, aber ... BITTE schreibt mir, was ihr davon haltet, ja? :)
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