Kapitel 10 - Vince
Diesmal bekam Vince das Drama mit, bevor Nina ihn mit Anrufen in den Wahnsinn treiben oder direkt vor seiner Tür auftauchen konnte. Und natürlich war sein erster Gedanke Flo, was hast du gemacht?
Twitter war über Nacht explodiert und zwar noch viel schlimmer als vor ein paar Wochen, als das mit Vince' Tattoo zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gelangt war. Denn diesmal ging es um Namen und um das Bild, das jemand gepostet hatte, von Flos Tattoo, auf irgendjemandes Haut.
Nicht Vince' Haut. Vince wusste ja, dass es mehrere Leute gab, die genug in Flo verliebt gewesen waren, um das Tattoo zu haben, genau wie er selbst. Er hätte trotzdem nicht damit gerechnet, dass es deswegen zu Problemen kommen würde. Aber irgendjemand hatte ein Bild von dem Tattoo gepostet und dazu geschrieben, dass es Flo gehörte. Einem Jungen.
Twitter konnte sich nicht entscheiden, ob es lieber den Urheber des Posts auseinandernehmen wollte, über Vince' Sexualität herziehen oder herumbrüllen, dass das alles Privatsache war und niemanden etwas anginge. Immerhin gab es auch Leute, die das dachten. Aber das war egal. Es gab schon Artikel darüber, irgendjemand hatte versucht, ein Interview mit Jay-Lyn zu führen, die sich aber nicht hatte äußern wollen. Flos Twitter-Account existierte nicht mehr, genauso wenig wie sein Facebook Profil. Er hatte sich unauffindbar gemacht.
Aber Flo hatte das nicht getan. Er hatte sie beide nicht verraten. Es musste jemand anders gewesen sein. Vince musste das glauben, sonst wäre er zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen.
Das sagte er auch Nina, als sie übernächtigt und blass bei ihm auftauchte.
„Vince", seufzte sie und ließ sich auf sein Sofa fallen, „ich hab dir von Anfang an gesagt, dass dieser Flo andere Intentionen hat, als du. Jetzt ist er wieder zuhause und ihm fehlt vielleicht die Aufmerksamkeit, oder -"
„Vorsicht!", knurrte Vince sie an und baute sich vor dem Sofa auf. „Sei ganz vorsichtig, was du über ihn sagst, Nina. Du kennst ihn nicht."
„Aber du?", fragte sie müde. „Du hättest das doch auch nicht von ihm gedacht."
Vince musste sich einen Moment sammeln. „Er war das nicht", sagte er dann.
Nina zog eine Augenbraue hoch. „Das sagt er vielleicht, aber -"
„Nein, er sagt gar nichts." Jetzt setzte auch Vince sich ganz langsam hin. „Ich kann ihn nicht erreichen. Aber ich weiß es auch so. Er würde das nicht tun."
„Vince -"
„Nein!", sagte er vehement. „Nein."
„Und warum meldet er sich dann nicht? Warum geht er dir aus dem Weg?"
Wenn Vince das mal wüsste. Er konnte kaum klar denken, alles, was er in diesem Moment wollte, war bei Flo zu sein. Falls Flo wirklich dieses Bild gepostet und dazu seinen eigenen Namen der Öffentlichkeit preisgegeben hatte, dann würde Vince das nur glauben, wenn er es von Flo persönlich erfuhr.
Er stand wieder auf und wollte schon in den Flur, als ihm Nina wieder einfiel. „Was soll das werden?", fragte sie argwöhnisch. „Wo willst du hin?"
Vince erwiderte ihren Blick nur wortlos.
„Wir müssen uns dazu äußern", beharrte Nina. „Du musst dich äußern."
Er straffte die Schultern und biss kurz die Zähne zusammen. „Nein", widersprach er dann möglichst ruhig, „ich muss überhaupt nichts tun. Das hier ist mein Privatleben. Und ich werde kein Wort sagen, bevor ich nicht mit Flo gesprochen habe." Mit diesen Worten verließ er das Wohnzimmer, warf sich seine Lederjacke über und setzte sich ins Auto. Flos Adresse kannte er.
Das Haus lag in einer ruhigen Straße der Vorstadt und Vince blieb noch eine Weile sitzen, nachdem er geparkt hatte. Er wollte erst Ausschau halten, ob es bereits jetzt Papparazzi hierher verschlagen hatte, aber das war zu dem Zeitpunkt noch unwahrscheinlich. Die Reporter hatten eigentlich keinen Grund, die Sache für mehr als ein dummes Internet-Gerücht zu halten - und das nur, weil Jay-Lyn und seine anderen Kollegen aus der Branche sich nicht geäußert hatten.
Keiner hatte den Fotografen oder Journalisten einen Grund gegeben, den Tweet ernst zu nehmen. Vince wälzte das immer wieder im Kopf hin und her, schaffte es aber trotzdem nicht, auszusteigen. Er hatte entsetzliche Angst vor der Wahrheit. Vielleicht würde er gleich erfahren, dass Flo ihn verraten hatte, ihn benutzt hatte und dann wäre das alles zu Ende. Seine allererste Liebe konnte heute ihr Ende finden. Vince vertraute Flo immer noch, aber gerade deswegen würde die Enttäuschung um so vieles schlimmer sein, wenn er sich irrte.
Irgendwann seufzte er tief, setzte sich seine Sonnenbrille auf und stieg aus. Flos Tante öffnete ihm, als er klingelte und sie öffnete die Tür nur einen Spalt breit.
„Ja?"
„Ist Flo zuhause?" Vince nahm die Sonnenbrille wieder ab, um nicht bedrohlich zu wirken. Oder so, als hätte er etwas zu verbergen. „Ich bin - ich heiße Vince, ich weiß nicht, ob er mich mal erwähnt hat."
Die Tür wurde ein bisschen weiter aufgezogen. „Ich kann mir vorstellen, wer du bist", erwiderte Flos Tante. „Wegen dir hat heute schon ein paar Mal das Telefon geklingelt. Und wegen dir verkriecht Flo sich den ganzen Tag in seinem Zimmer, richtig?" Sie schüttelte den Kopf.
„Es tut mir sehr leid", sagte Vince aufrichtig und mit einem Kloß im Hals. „Ich möchte die Sache so gerne aus der Welt schaffen."
Sie nickte und zog die Tür noch ein bisschen weiter auf. „Komm erst mal mit in die Küche. Bring ihm was von dem Geburtstagskuchen mit rauf, vielleicht kannst du ihn ja dazu bringen, wenigstens zu probieren."
Vince folgte ihr durch einen Flur mit hier und da verstreutem Kinderspielzeug und wartete geduldig, bis sie ein riesiges Stück von einem Schokoladenkuchen abtrennte und auf einen Teller verfrachtete. Erst als Vince die 20 auf dem Kuchen bemerkte, machte es Klick.
„Ist heute Flos Geburtstag?", fragte er und konnte seine Überraschung nicht verbergen.
„Ganz recht", antwortete Flos Tante und drückte Vince den Teller und zwei Kuchengabeln in die Hände.
Vince wäre eigentlich gerne wieder gegangen, in diesem Moment. Er wollte Flos Geburtstag wirklich nicht noch schlimmer machen, als er sowieso schon war. Doch Flos Tante schob ihn zurück durch den Flur zur Treppe und beschrieb ihm, welches Zimmer Flos war. Vince blieb nichts anderes übrig, als nach oben zu gehen und all seinen Mut zusammenzukratzen. Er hielt die Luft an und klopfte zweimal an Flos Tür.
Eine Sekunde später wurde die Tür von innen aufgerissen und Flo stand vor ihm. Trotz der schwülen Hitze trug er nach wie vor seine hellgraue Mütze. „Ich hab dir doch gesagt - oh." Flo stockte und lief rot an. „Vince."
„Flo", erwiderte Vince automatisch und musste sich sehr darauf konzentrieren, den Kuchenteller nicht einfach fallen zu lassen. Es war das allererste Mal, dass Flo vor ihm stand, ohne Krankenbett, ohne Rollstuhl, ohne alles. Er stand da, mit seiner Beinprothese, ein Stück kleiner als Vince und inzwischen auch nicht mehr so wahnsinnig dünn, wie er im Krankenhaus gewesen war. Vince konnte sich nicht sattsehen, auch nicht, als Flo ihn fragte, ob er reinkommen wollte.
Vince nickte sprachlos und überfordert und schaute Flo zu, wie er zur Seite ging, um Vince vorbeizulassen und die Tür hinter ihm zu schließen. Dann durchquerte Flo das Zimmer und setzte sich aufs Bett, während Vince dastand wie bestellt und nicht abgeholt und immer noch den Kuchenteller hielt.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag", sagte Vince, als er langsam wieder zu sich kam. Er setzte sich neben Flo aufs Bett und reichte ihm eine der Gabeln. „Ich glaube, deine Tante ist davon ausgegangen, dass wir teilen."
Lustlos nahm Flo die Gabel und machte keinerlei Anstalten, den Kuchen zu essen. Außerdem wich er Vince' Blick aus.
„Was machst du hier?", fragte Flo schließlich. „Du musst mich für einen mega Arsch halten."
Vince musste schlucken. „Das tue ich nicht."
„Du hast das Foto gesehen. Und was dabeistand."
Vince nickte. „Und ich glaube nicht, dass du das gepostet hast."
Flo drehte schnell den Kopf. „Nein?"
„Du warst es doch nicht, oder?"
Er beobachtete Flos Reaktion sehr genau. Wie er den Blick senkte und den Mund verzog. „Ich weiß, wer es war."
Vince rückte ein Stück näher an Flo heran und hätte ihn gern an sich gezogen, allerdings hatte er immer noch den Teller mit dem Geburtstagskuchen auf dem Schoß. Aber in seiner Brust füllte sich ein ganzer Heißluftballon mit dem Gefühl von Triumph. Er hatte gewusst, dass er sich nicht so in Flo getäuscht hatte. Da war etwas zwischen ihnen, etwas Besonderes, das sich nicht so einfach zerstören ließ.
Flo sah seine Knie an, als er anfing zu sprechen. „Ich hab dir mal von Linus erzählt. Meine erste Liebe. Er hat mich damals, als wir dreizehn waren, nicht geliebt und nur benutzt. Als wir dann aber achtzehn waren und ich sehr, sehr glücklich mit Leonie zusammen war, hat sich das geändert und er hat sich in mich verliebt. Glaube ich jedenfalls. Ich hab mein Tattoo auf seiner Haut nie gesehen, aber das muss es gewesen sein, was er fotografiert und gepostet hat."
Vince zog die Brauen zusammen. „Linus hat das getan?"
Flo nickte und verzog den Mund, als hätte er Schmerzen. „Wir waren mal auf derselben Party und haben uns zufällig mitten in der Nacht in der Küche getroffen, als alle anderen schon geschlafen haben. Da hat er dann versucht mich zu küssen und ich musste ihn wegstoßen und ihm sagen, dass ich inzwischen in jemand anderen verliebt bin. Ich würde niemals jemanden betrügen, weißt du?"
Vince musste lächeln, auch wenn es Flo offensichtlich immer noch nicht gut ging. Er machte sich Vorwürfe, aber Vince' Gefühle für Flo übernahmen sein gesamtes Denken.
„Ich hab ihn zurückgewiesen, aber ich glaube, vielleicht hat er das nie wirklich verwunden."
Vince hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Ein kleiner Teil von ihm wollte losziehen und diesen Linus verprügeln, weil er Flo so viele Probleme machte. Aber der größte Teil von Vince wollte etwas anderes. Er stellte endlich den Kuchenteller beiseite und ging vor Flo in die Knie, schlang die Arme um Flos Mitte und drückte seinen Kopf an Flos Bauch.
„Was - was tust du da?", fragte Flo völlig perplex und Vince konnte hören, wie rot er war. Er lächelte in den Stoff von Flos T-Shirt und zog ihn noch ein bisschen näher an sich.
„Du solltest sauer auf mich sein", sagte Flo und versuchte verzweifelt ernst zu bleiben, aber er grinste und konnte es nicht aus seiner Stimme fernhalten.
„Weil du einen bescheuerten Ex hast?", nuschelte Vince und zog sich ein Stück zurück, die Hände auf Flos Oberschenkeln. Auf einer Seite lag sein Daumen auf dem Übergang zu Flos Prothese.
„Flo, du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich bin, dass du mich trotz allem noch sehen willst."
„Spinnst du?", entgegnete Flo sofort und biss sich dann auf die Lippe. Mit geröteten Wangen und einem trotzigen Blick fuhr er fort. „Natürlich will ich dich sehen."
Vince wollte Flo küssen. Der Impuls kam immer wieder über ihn, zu günstigen und ungünstigen Zeiten. Ob jetzt eine günstige Zeit war? Immerhin hatte Flo ihm gezeigt, dass Vince ihm vertrauen konnte. Dass er ihn nicht benutzte. Vielleicht war es an der Zeit für Vince, Flo dasselbe zu beweisen.
Er setzte sich wieder neben Flo aufs Bett, spießte ein Stück Kuchen auf seine Gabel und hielt es Flo vors Gesicht. Flo presste kurz die Lippen zusammen, was sein Grinsen schrumpfte, aber nicht versteckte, und öffnete dann den Mund, um sich von Vince füttern zu lassen. Sie wechselten sich ab, ein Stück für Flo, eins für Vince.
„Was hast du heute noch für Pläne?", fragte Vince, als der Kuchen sich dem Ende neigte.
„Keine", antwortete Flo schulterzuckend.
Vince stellte den Teller erneut weg und griff nach Flos Hand. „Lass mich dich zum Essen einladen."
Flo machte große Augen. „Musst du nicht Schadensbegrenzung betreiben oder so? Ist es schlau, dich nach dieser Sache mit mir in der Öffentlichkeit -"
„Schlau?", unterbrach Vince Flo kopfschüttelnd. „Nein, wahrscheinlich nicht. Und das ist mir absolut egal. Aber uns würde sowieso keiner sehen, du kannst mir vertrauen. Ich will auf keinen Fall zulassen, dass Linus dir deinen Geburtstag ruiniert."
Flo starrte ihn an und überlegte anscheinend angestrengt. „Warum bist du nicht sauer?"
Vince blinzelte. „Warum sollte ich denn sauer sein?"
„Ich hab dich den ganzen Tag ignoriert!", platzte Flo heraus. „Ich hab absichtlich mein Handy ausgemacht und meine Accounts gelöscht. Weil ich dachte, du denkst ich hätte das gepostet. Ich hatte Angst -"
Vince legte seine Hände an Flos Wangen und drückte seine Stirn an Flos. Es war kein Kuss, brachte Flo aber genauso effektiv zum Schweigen. „Ich hatte auch Angst", gestand Vince. „Aber ich vertraue dir. Und ich will Zeit mit dir verbringen, mehr als alles andere."
„Spinner", flüsterte Flo.
„Sag ja."
„Ja."
~*~
Vince' Lieblingsrestaurant lag etwas außerhalb der Stadt. Es war keiner dieser Luxus-Läden, in denen man internationale Stars vermutet hätte und deswegen mochte er es so. Er war sich zwar sicher, dass das Personal wusste, wer er war, aber niemand hatte ihn je um ein Foto oder Autogramm gebeten, oder nachher im Internet über seinen Besuch berichtet. Scheinbar waren hier alle höchst professionell. Er gab jedes Mal großzügige Trinkgelder, als kleines Dankeschön.
Vince hatte Flo gesagt, er konnte einfach seine normalen Sachen anbehalten, aber Flo hatte darauf bestanden, sich umzuziehen. Er trug jetzt eine dunkle Jeans, die seine Prothese versteckte, und ein hellblaues Hemd mit einem fürchterlichen Paisley-Muster. Sein Modegeschmack ließ wirklich zu Wünschen übrig, aber Vince war das egal. Er war einfach nur froh, dass Flo zugestimmt hatte, ihn zu begleiten.
Sie wurden begrüßt, als sie das Restaurant betraten, und eine schmale Treppe nach oben in einen privaten Bereich geführt. Vince hatte nicht ausdrücklich darum gebeten, aber die Chefin meinte es anscheinend gut mit ihm. Flo hatte ein paar Probleme auf der Treppe und klammerte sich krampfhaft am hölzernen Geländer fest, während er sich sichtlich Mühe gab, Schritt mit Vince zu halten. Vince verlangsamte sein Tempo und schob seinen Arm in Flos Armbeuge, um ihn zu stützen.
„Tut mir leid", sagte Flo leise und gepresst. „Ich - es ist noch neu. Treppen, meine ich."
„Flo", erwiderte Vince liebevoll, „du musst dich für nichts entschuldigen."
„Ich will nur keine Last sein."
Sie erreichten die oberste Stufe und obwohl Flo jetzt wieder sicher stand, ließ er es zu, dass Vince ihn zu ihrem Tisch führte.
„Das bist du auch nicht", sagte Vince nachdrücklich, als sie sich setzten.
Flo lächelte schief, als würde er Vince das nicht wirklich abkaufen.
Rosanna, die Chefin, war in der Zwischenzeit geschäftig und still hin und her gewuselt und hatte auf Fensterbänken und dem Kaminsims Kerzen entzündet. Jetzt kehrte sie zurück und zündete auch die Kerze auf ihrem Tisch an. Danach reichte sie ihnen die Speisekarten und verschwand auf der Treppe.
„Nur damit das klar ist", sagte Vince und beobachtete Flo über seine Speisekarte hinweg. „Du bist eingeladen, Flo."
Flo presste die Lippen aufeinander und schaute ebenfalls über den Rand seiner Karte. „Es gibt wirklich überhaupt keinen Grund, dass du so nett zu mir bist."
Vince seufzte. „Es gibt eine Milliarde Gründe."
Flo senkte den Blick und schüttelte ungläubig den Kopf. „Weißt du, ich hätte das mit Linus kommen sehen müssen. Er war letztens bei mir und hat ein paar echt komische Sachen gesagt. Hätte ich dir davon erzählt ..."
„Was er gemacht hat, ist nicht deine Schuld." Vince kam ein Gedanke. „Denkst du, er wollte uns damit auseinanderbringen?"
Flo hob seine Karte noch ein Stück höher, um sich dahinter zu verstecken. Vince konnte trotzdem erkennen, dass er rot wurde. „Dazu müssten wir erst mal zusammen sein."
Vince wollte gerade antworten, als Rosannas Schritte auf der Treppe zu hören waren und sie mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern auf einem Tablett wieder vor ihnen auftauchte. „Möchten die Herren schon bestellen?"
Vince bestellte für sie beiden eine Flasche Wein und orderte sein Essen. Flo überflog noch einmal die Karte, als wäre er bisher nicht dazu gekommen. Vince stellte zufrieden fest, dass Flo nicht das günstigste Gericht bestellte. Es war für Flo vermutlich gar nicht so leicht, sich einladen zu lassen und Vince glaubte, wäre heute nicht sein Geburtstag gewesen, hätte Flo es ihm nicht so einfach durchgehen lassen.
„Hat deine Familie was zu der Sache gesagt?", fragte Flo leise, als Rosanna mit den Speisekarten wieder verschwunden war und er sich nicht mehr verstecken konnte.
Vince schüttelte den Kopf. „Keiner von denen hört mehr auf irgendwelche Gerüchte im Internet."
Flo wirkte erleichtert und schenkte Vince ein kleines Lächeln. Er wollte sofort mehr davon sehen. Gleichzeitig fragte er sich, ob es vielleicht so langsam an der Zeit war, ein ernstes Gespräch mit seiner Familie zu führen. Sie wussten alle, dass er sich endlich zum ersten Mal in jemanden verliebt hatte, aber er hatte noch niemandem anvertraut, dass es ein Junge war. Nina zählte er dabei nur halb mit, sie war für ihn irgendwie Teil der Familie, aber doch anders als seine Schwestern und seine Eltern. Und er befürchtete auch nicht einmal, dass sie ihn verurteilen würden, aber es war trotzdem nicht so einfach und er hatte Angst davor. Die Angst wäre um einiges kleiner, wenn Flo dabei sein könnte. Wenn sie ihn kennen lernen könnten, würden sie sofort verstehen, warum es um Vince geschehen war. Aber Vince hatte immer noch keine Ahnung, ob seine Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten. Ob sein Tattoo mittlerweile auf Flos Haut aufgetaucht war oder ob sie beide immer noch darauf warteten. Und wenn Flo ihn nicht so liebte, wie Vince Flo liebte, warum sollte Flo sich dann die Mühe machen, Vince bei seinem Coming-Out zu unterstützen?
„Woran denkst du gerade?", fragte Flo, der Vince die ganze Zeit beobachtet hatte.
Vince schreckte aus seinen Gedanken hoch und lächelte. „Ich hab gerade gedacht, wie fantastisch es ist, dass wir uns getroffen haben. Flo."
Flo grinste und etwas funkelte in seinen Augen. Er glaubte Vince kein Wort, ließ ihn aber mit seiner Lüge davonkommen. Dann wandte er den Blick ab und schaute sich um. Die Atmosphäre konnte man nicht anders beschreiben als romantisch. Draußen hatte es angefangen zu regnen und das graue Licht wurde hier drinnen vertrieben von warmem Kerzenschein. Dumpfes Donnergrollen war aus der Ferne zu hören und Regentropfen klopften an die Fensterscheiben.
Man konnte sich leicht vormachen, dass die Welt draußen für eine Weile aufhörte, eine Rolle zu spielen. Vince hätte den Moment am liebsten eingefangen, um später einen Song darüber zu schreiben.
„Das ist unser erstes richtiges Date-Date", stellte Flo fest, als seine Augen zurück zu Vince fanden.
„Denkst du?", erwiderte Vince und musste unwillkürlich lächeln. „Ich fand unser erstes Date war schon das Kaffeetrinken auf dem Krankenhausdach."
Flo grinste zurück. „Aber der Kaffee war schrecklich."
„Ja, oder?", fragte Vince. „Ich hab nie verstanden, wie der gleichzeitig angebrannt und lauwarm sein kann."
„Eigentlich war es auch ein Date, als wir draußen im Park waren", fuhr Flo nachdenklich fort. „Ich hab dir Geschichten über meine Tattoos erzählt."
„Und das Picknick, als es geregnet hat", ergänzte Vince. „Das war auch ein Date."
Flo nickte. „So viele Dates und ich hab immer noch nicht dein Tattoo gesehen."
Vince rutschte das Herz in die Hose. Das sprach doch dafür, dass Flo noch nicht wusste, wie Vince' Tattoo aussah, oder? Er überspielte das mulmige Gefühl und lächelte, es geriet allerdings ziemlich schief. „Wir haben ja noch jede Menge Zeit."
Flo spitzte schelmisch die Lippen. „Das hoffe ich doch."
Manchmal konnte er Vince wirklich in den Wahnsinn treiben. Die Ungewissheit war schier unerträglich und Vince wusste auch nicht im Geringsten, wie lange er das noch aushalten würde. Irgendwann musste er Flo seine Gefühle gestehen und dann würde Flo sie entweder erwidern oder auch nicht. Vor letzterem hatte Vince solche Angst, dass er das Geständnis weiter hinauszögerte. Aber Flo flirtete unerbittlich mit ihm. Vom ersten Tag an hatte er mit Vince geflirtet. Und das musste gar nichts heißen.
„Ich hab ein Geschenk für dich", sagte Vince, als sein Gehirn wieder normal funktionierte.
„Ja, das Abendessen, oder nicht?", fragte Flo. „Oh. Du meinst noch ein Geschenk?"
Vince nickte und griff in die Innentasche seiner Lederjacke.
„Vince", brachte Flo hervor und schüttelte vehement den Kopf. „Das ist nicht nötig, wirklich."
„Ich hab es dir nicht gekauft", stellte Vince klar und reichte Flo das Bündel über den Tisch.
Flo zögerte kurz, ehe er es annahm und große Augen bekam. „Das ist ... das ist der Schal, den du anhattest, in der Talkshow. Als du das Tattoo verstecken wolltest."
Vince nickte lächelnd. „Ich verstecke es nie wieder. Und deswegen solltest du den Schal haben, finde ich. Als Zeichen meiner Dankbarkeit."
„Dankbarkeit?" Die Überraschung war nicht zu überhören. „Wofür?"
„Für alles."
Flo schüttelte ungläubig den Kopf - das tat er heute ziemlich oft - und band sich den Schal sofort um den Hals. Er passte absolut gar nicht zu seinem grauenvollen Hemd, aber das störte Flo überhaupt nicht.
Rosanna brachte ihnen den Wein und goss beiden je ein halbes Glas davon ein.
Vince nahm seins in die Hand und hielt es hoch. „Auf dich", sagte er zu Flo. „Auf deinen Geburtstag, dein Bein, und deine Zukunft."
Zögerlich stieß Flo mit ihm an und trank einen winzigen Schluck von dem Wein. Dann einen größeren, als er überrascht feststellte, dass es guter Wein war.
„Meine Zukunft", murmelte Flo und stellte das Glas vorsichtig ab.
Als sie beide ihre Teller vor sich stehen hatten, erkundigte sich Vince, was Flo für seine Zukunft im Sinn hatte.
„Ich werde wieder zur Schule gehen", verkündete Flo und es brach Vince ein kleines bisschen das Herz. Flo war sichtlich stolz auf sich, aber er spielte es herunter, als wäre es ihm peinlich.
„Ich hab schon mit meiner alten Schule geredet und sie freuen sich, dass ich wiederkommen will, um mein Abi nachzumachen. Und diesmal kommt mir der Krebs auch nicht dazwischen."
„Das ist großartig, Flo", sagte Vince und konnte nicht anders, als über den Tisch nach Flos Hand zu greifen und sie beide am Essen zu hindern. „Du kannst wirklich stolz auf dich sein. Ich bin es jedenfalls."
Flos Wangen glühten. Das verursachte bei Vince jedes Mal Herzklopfen, egal wie oft Flo in seiner Gegenwart errötete. Es sah ... wunderschön aus. Er hatte kein anderes Wort dafür.
„Aber das ist doch nicht viel", murmelte Flo und schaute hinab auf ihre Hände. „Ich will bloß kein einbeiniger Typ ohne Schulabschluss sein, weißt du?" Er schaute hoch und grinste wieder. Es machte also durchaus einen Unterschied, was Vince über ihn dachte. „Wer würde dann schon mit mir ausgehen wollen?"
Vince grinste zurück und sagte seine nächsten Worte als Witz, aber sie waren realer, als er zugeben wollte. „Wenn du dann erst ein Einbeiniger mit Abschluss bist, werde ich jede Menge Konkurrenz haben, glaube ich."
Flo nahm sich mit der freien Hand eine Pommes von seinem Teller und nickte übertrieben. „Oh ja, weil auch alle dem großen Vince d'Amico das Wasser reichen können."
Vince konnte Flo unendlich viele Abendessen bei Kerzenschein bieten, aber jetzt gerade schien das nicht wie etwas, das Flo ewig bei Laune halten würde. Vince seufzte und zog seine Hand weg.
„Hey." Flo fing Vince' Hand wieder ein und hielt sie fest. „Du weißt, dass das ein Scherz war, oder?"
„Ja", sagte Vince. Flo ließ ihn trotzdem nicht los.
„Niemand kann dir je das Wasser reichen", verdeutlichte Flo mit glühenden Wangen. „Niemand. Je wieder. Also du solltest wissen ... der Tag, an dem du das Interesse an mir verlierst, wird ein trauriger Tag sein und ... du hast jetzt schon alles geändert. Egal, wie es mit uns weiter geht, kein Lied wird nach dir sein wie es vorher war und ... ich weiß nicht, ich bin einfach froh, dass es jetzt so ist, wie es ist."
Vince spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Jetzt war er dran mit rot werden und außerdem war er auch noch vollkommen sprachlos. Flo nahm das sehr zufrieden zur Kenntnis, als er seine Hand wegzog und sich eine weitere Pommes in den Mund steckte.
„Flo", sagte Vince leise, weil es das einzige Wort war, das gerade in seinem Kopf war. Ich liebe dich so sehr, dachte er und biss sich auf die Lippe, damit er es nicht aus versehen laut aussprach. Flo war froh, dass es jetzt war, wie es war. Vince wollte diesen Moment auf keinen Fall kaputt machen, also sagte er nichts, sondern starrte nur idiotisch zu Flo über den Tisch, der lächelte, als wäre er die Sonne.
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Na, was sagt ihr? Wer küsst wen zuerst? :p
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