Epilog
- Ein Jahr später -
Flo brauchte manchmal noch mehrere Versuche beim Anfahren und das Schalten war etwas ruckelig, aber er konnte mit der Prothese durchaus ein Auto fahren. Er fuhr manchmal wie der verpeilteste Fahranfänger der Welt, doch das machte ihm nichts. Er konnte sich frei durch die Welt bewegen, in seiner Klapperkiste von einem Auto. Er liebte dieses Ding. Es hatte absolut gar nichts mit dem glänzenden Sportwagen von Vince gemeinsam, aber das störte ihn nicht.
Es war ein sonniger Herbstmorgen und alles versprach, dass es ein fantastischer Tag werden würde, als er vor Naomis Haus an den Straßenrand fuhr und dreimal kurz hupte. Die Haustür wurde geöffnet, Naomi umarmte kurz ihre Mutter und Flo konnte sehen, wie sie die Augen verdrehte, ehe sie sich losmachte und auf seine Klapperkiste zueilte. Die Tür klemmte ein bisschen, aber Naomi war noch nie eine zimperliche Natur gewesen, sie zog sie auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, der leicht quietschte. Sie beugten sich beide über die Mittelkonsole und umarmten sich kurz.
„Ich hasse dein Auto", verkündete sie fröhlich. „Es riecht nach Tod und Verderben."
„Hey!"
„Ist doch so!"
Flo lachte und fuhr konzentriert an. Es klappte fast ohne Ruckeln.
„Wie geht's dir?", fragte er vorsichtig, als er an der nächsten Ampel bremsen musste.
Naomi seufzte übertrieben. „Du weißt, wie mir diese Frage auf die Eierstöcke geht, oder?"
„Ich kann's mir vorstellen. Du solltest Vince sehen, jedes Mal wenn ich von einem Scan nach Hause komme."
„Wieso fragst du mich dann jedes Mal?"
Flo grinste zu ihr herüber. „Weil ich dich unendlich lieb habe und heimlich genauso schlimm bin wie mein Freund."
Sie prustete. „Heimlich?"
„Also?"
Wieder ein theatralisches Seufzen. „Mir geht's gut. Sie scannen gefühlt alle drei Tage und die Medikamente sind halt immer noch scheiße, aber ich bin immer noch in Remission. Essen ist schwierig, immer noch, alles immer noch ein bisschen mies. Aber ohne Spaß, ich liebe alles. Ich lebe. Das hätten wir nicht gedacht."
„Ich schon", erwiderte Flo und lenkte eine Runde durch einen Kreisverkehr. „Krebs ist scheiße und alles, aber du bist noch viel schlimmer und lässt dich nicht kleinkriegen."
Sie boxte ihn unsanft in den Oberarm. „Ich weiß nicht, ob das eine Beleidigung oder ein Kompliment war."
„Gut."
Sie lachten und so ging es den ganzen Weg weiter, bis Flo die Klapperkiste auf dem Unigelände in eine Parklücke gesteuert hatte, ohne jemanden zu töten oder Sachbeschädigung zu verursachen. Sie stiegen aus und fuhren mit dem Fahrstuhl aus der Tiefgarage nach oben, wo erstaunlich viele Menschen herumliefen.
„Danke, dass du mitkommst", sagte er aufrichtig zu ihr. „Ich bin richtig aufgeregt."
Sie waren heute zum Einschreiben hier, Flo war für Wirtschaft angenommen worden. Er hatte ernsthaft überlegt, sich einfach so zum Fotografen ausbilden zu lassen, aber wenn er irgendwann genug verdienen wollte, um davon leben zu können, dann würde es nicht schaden, wenn er ein bisschen was über Ökonomie lernte. Und Steuern. Er verstand rein gar nichts von Steuern. Vince war keine Hilfe, er ließ andere Leute so was für sich machen, was Flo absolut verstehen konnte. Auf dem Weg zum Gebäude erzählte er Naomi alles über seinen Nebenjob in einem Fotostudio, weil er sich trotz allem nicht ganz von der Fotografie trennen wollte. Er schoss zwar hauptsächlich Passbilder, aber auch das war zumindest etwas. Und er hatte die Gelegenheit, von Leuten zu lernen, die wirklich Ahnung hatten und das fand er ziemlich cool.
Flo zog eine Wartenummer und sie setzten sich auf den Boden, weil alle Sitzplätze belegt waren. Er beobachtete die anderen Leute und mied Naomis Blick. Es gab da etwas, das er ihr erzählen musste, aber er war viel zu nervös. Nicht nur wegen der Einschreibung. Heute war aus mehreren Gründen ein unbeschreiblich wichtiger Tag. Er kam nicht auf das Thema zu sprechen, ehe seine Nummer auf einem Bildschirm eingeblendet wurde. Er stand auf, was mittlerweile die leichteste Übung für ihn war, weil seine Prothese nach wie vor der Hammer war. Naomi wartete, während er im Raum gegenüber verschwand, um den Papierkram für seine kommende akademische Karriere zu erledigen. Danach konnte er es nicht mehr aufschieben. Er wartete, bis sie einen stillen Flecken auf dem Rückweg zum Parkhaus erreichten, dann blieb er stehen und kaute auf seiner Lippe herum. Naomi schaute ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an und wartete.
„Ich ... muss dir was erzählen. Und du musst versprechen, keinen Herzinfarkt zu bekommen und mich nicht auszulachen."
„Ich verspreche nichts davon", entgegnete sie in weiser Voraussicht. „Hau raus."
Flo seufze, schloss die Augen und zog eine kleine, quadratische Schachtel aus seiner Hosentasche, die er seit drei Tagen mit sich herumtrug.
„Vince kommt heute von seiner Amerkiatour zurück", erklärte er leise und mit einem verräterischen Zittern in der Stimme. „Und ich weiß, wir sind noch gar nicht so lange zusammen, aber ..."
„Oh mein Gott", sagte Naomi tonlos, den Blick auf die Schachtel in Flos Hand gerichtet. „Oh mein Gott! Flo!"
Er lief rot an und schaute hoch, sie stürmte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. „Zeig mir den Ring! Los!"
Er lachte erleichtert, weil sie ihm zumindest nicht direkt den Vogel zeigte und öffnete vorsichtig die Schachtel. Der Ring war schlicht und silbern, glänzend reflektierte die geschliffene Oberfläche das herbstliche Sonnenlicht.
„Glaubst du, er sagt ja?", fragte Naomi.
„Ich würde sterben, wenn er nein sagt", murmelte Flo. „Aber... ich weiß es nicht. Es ist schon früh, das ist mir klar, und wir sind jung, aber ich bin mir zu tausend Prozent sicher, dass ich ihn immer mehr lieben werde, als irgendjemand anderen."
„Aww!" Naomi umarmte ihn wieder, weniger stürmisch diesmal. „Ich freu mich so für dich, Flo. Ihr beide seid perfekt zusammen."
Er löste sich von ihr und schüttelte den Kopf. „Nicht perfekt. Kein Paar ist jemals perfekt. Darum geht es auch gar nicht, es ... ich finde, es kommt darauf an, wie oft man sich einander aussucht, trotz Fehlern und trotz Meinungsverschiedenheit. Und er hat mich immer wieder ausgesucht. Wie ich ihn."
„Du bist so erwachsen geworden." Sie schmollte gespielt. „Gib mir den alten Flo wieder, sofort!"
Sie grinsten einander an und Flo ließ den Ring zurück in seiner Tasche verschwinden.
Auf der Rückfahrt verlangte sie, dass er sie nach seinem Antrag sofort anrief und ihr alles haarklein berichtete. Ach was, am besten sollte er alles direkt filmen und als Livestream im Internet übertragen. Er sagte ihr, wie verrückt sie war, setzte sie zuhause ab und kehrte mit klopfendem Herzen in seine und Vince' Wohnung zurück. Weil bei Vince mehr als genug Platz war, war Flo vor ein paar Monaten einfach bei Vince eingezogen. Es funktionierte viel besser, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Sie harmonierten gut zusammen und ließen einander den Freiraum, den sie brauchten. Und dann wieder kochten sie zusammen, schliefen zusammen ein, schauten sich alte Filme an und tranken Wein. Flo hätte sich niemals erträumt, dass sein Leben einmal so aussehen würde, wie es jetzt war. Es war nur eine logische Konsequenz, Vince auf der Stelle zu heiraten. Aber wenn Vince nein sagte ... Flo wusste, Vince hatte sich nie wirklich Gedanken übers Heiraten gemacht, was wohl Sinn machte, wenn man nie verliebt war. Es war riskant. Es gab eine reelle Chance, dass Vince unverheiratet bleiben wollte. Flo musste das dann irgendwie akzeptieren.
Weil Vince erst in ein paar Stunden hier auftauchen würde, vertrieb Flo sich die Zeit, indem er die Wohnung gründlich putzte. Er saugte und wischte, putzte Fenster, schrubbte Arbeitsplatten, bezog ihr Bett frisch. Zwischendurch überprüfte er etwa dreiundzwanzig Mal die roten Rosen, die er im Gästezimmer versteckt hatte und die später eine Rolle spielen sollten. Als er fertig war, ging er duschen und setzte sich dann mit seinem Laptop aufs Sofa, um möglichst entspannt und unverdächtig zu wirken.
Das Timing war genau richtig: Wenig später hörte er Vince' Schlüssel in der Wohnungstür und dann die Rollen von Vince' Koffer, als er ihn in den Flur zog.
Flo schob den Laptop von seinem Schoß und stand auf, um Vince entgegenzugehen. Er würde sich ganz normal verhalten, heute musste und würde alles nach Plan laufen. Das hier war viel zu wichtig, er durfte es einfach nicht vermasseln.
Vince hängte gerade seine Jacke auf und Flo lehnte lässig an der Wand und beobachtete ihn. Dreitagebart, Haare ausnahmsweise ungestyled, und Flo war sich ziemlich sicher, dass das verwaschene schwarze T-Shirt ihm gehörte.
„Vince", sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln.
Vince wandte sich um, als hätte er nicht genau gewusst, dass Flo dort stand. „Flo."
Seinen Namen aus Vince' Mund zu hören, machte Flo immer noch jedes Mal ein kleines bisschen verrückt. Vince kam auf ihn zu und umarmte ihn fest. Flo schwankte ein bisschen, drehte den Kopf und drückte einen Kuss auf das Tattoo an Vince' Hals.
„Ich hab dich vermisst", murmelte Vince' in Flos gar nicht mehr so kurze Haare. „Drei Monate sind viel zu lang."
„Hmmm", brummte Flo bestätigend.
„Und", fragte Vince, ohne sich auch nur einen Millimeter von Flo zu lösen, „wie war die Einschreibung, hat alles geklappt? Und die Arbeit?"
Flo kicherte. „Geh erst mal duschen, dann können wir reden." Er schob Vince mit sanfter Gewalt von sich und erinnerte sich an seinen Plan.
Vince dachte gar nicht daran, auf Flo zu hören. Er packte ihn an der Hüfte, zog ihn an sich und küsste ihn mit drei Monate lang aufgehobener Leidenschaft. Flo riss es beinahe von den Füßen und er hätte unter anderen Umständen ganz sicher nicht darauf beharrt, Vince zuerst ins Bad zu schicken.
„Na schön", grummelte Vince gespielt beleidigt. „Ich hoffe, du schubst mich nicht von der Bettkante, wenn ich frisch gewaschen bin."
Flo erwiderte das Grinsen. „Ganz bestimmt nicht."
Vince stahl sich einen letzten kurzen Kuss und verschwand die Treppe nach oben im Bad.
Flo gestattete sich ein tiefes Luftholen, ehe er so leise wie möglich ins Gästezimmer sprintete, den Strauß Rosen holte und die roten Blätter einzeln auf den Treppenstufen und vor der Treppe verteilte. Dann kamen die Kerzen dran, die ebenfalls an den Kanten der Stufen und außerdem auf fast allen Oberflächen der Wohnküche verteilt wurden. Als er fertig war, schaltete er das Licht aus und betrachtete sein Werk. Ob es zu viel war? Aber Vince mochte große romantische Gesten, deswegen vertraute Flo seinem Bauchgefühl. Und wer würde Rosenblätter und einen Raum in sanftes Kerzenlicht getaucht nicht mögen?
Als Flo Vince oben im Bad rumoren hörte, beschleunigte sich sein Herzschlag und er nahm die Ringschachtel in die Hand, um sich an ihr festzuhalten. Er war so vertieft in seine eigene Aufgeregtheit, dass er sich nur ganz am Rande darüber wunderte, dass Vince sich ein Hemd und eine normale Hose übergezogen hatte, statt direkt in seine Schlafsachen zu schlüpfen.
Vince kam bis zur obersten Treppenstufe, ehe er wie angewurzelt stehen blieb und das Schauspiel unter ihm betrachtete. Überall flackerten Kerzen in allen Farben und Größen, die Treppe wirkte durch ihr weiches Licht, als würde sie mitten im Raum schweben. Rosenblätter zu seinen Füßen bildeten einen Weg nach unten und verliefen in einem Kreis um Flo, der auf einem Knie zu Boden gesunken war.
„Vince", begann er, mit zitternder Stimme und klopfendem Herzen.
„Flo", sagte Vince ganz leise und schüttelte kaum merklich den Kopf. Das konnte von Ungläubigkeit zu Ablehnung alles heißen und er rührte sich immer noch nicht von der Stelle, er stand dort oben, eine Hand aufs Geländer gelegt und starrte zu Flo hinunter, erhellt nur vom Schein der Kerzen.
„Ich weiß, dass wir es nicht immer leicht hatten", fuhr Flo fort, „und ich weiß, dass wir jung sind und ganz verschieden und dass unsere Familien uns wahrscheinlich sowieso schon für verrückt erklärt haben." Ein Lächeln breitete sich auf Vince' Gesicht aus und gab Flo den Mut, weiterzusprechen. „Ich weiß, dass zu jeder Zeit alles Erdenkliche schiefgehen kann, keiner weiß das besser, als ich. Aber ich weiß noch ein paar andere Dinge. Zum Beispiel, dass ich dich über alles liebe und dass du immer der einzige in meinem Leben sein wirst, dem mein Herz gehört. Ich merke es jede Sekunde, die du nicht bei mir bist und doppelt, wenn du es bist. Du hast mich seit dem ersten Tag immer wieder überrascht und dich immer wieder für mich entschieden. Und ich weiß, dass das für immer ist. Und deswegen frage ich dich hiermit: Vince, willst du mich heiraten?"
Atemlos hielt er inne, blickte abwartend zu Vince nach oben, der wirkte, als hätte er vergessen, wie man spricht, geschweige denn läuft. Er erwiderte Flos Blick vollkommen regungslos, bis sich wieder ein Lächeln ausbreitete und er den Kopf schüttelte. Flo konnte mit dieser Reaktion absolut nichts anfangen. Er kniete dort in dem Kreis aus Rosen und seine Angst wuchs mit jeder Sekunde weiter.
Dann, endlich, machte Vince einen Schritt und dann noch einen und kam langsam die Treppe hinunter. Vor der letzten Stufe blieb er stehen und kniete sich in einer umständlichen Geste vor Flo hin. Flo schluckte und zwang sich, Vince' Blick nicht auszuweichen.
„Flo", begann Vince und senkte den Blick, sein Gesichtsausdruck war für Flo unmöglich zu deuten. „Was machen wir mit zwei Paar Verlobungsringen?"
Flo musste ein paar Mal blinzeln, bis die Worte in seinem Kopf ankamen. „Was?"
Vince grinste hilflos und zog von irgendwo eine Schachtel hervor, die der von Flo nicht unähnlich war.
„Das ...", begann Flo, ebenso überfordert wie Vince, „das kann nicht wahr sein. Du hast ... du wolltest ... heute?" Und plötzlich machten das Hemd und die schicke Hose Sinn, die zurückgekämmten Haare, der leichte Hauch von Parfum.
Flo konnte nicht anders, er musste lachen und fiel fast um. Vince hielt ihn fest und sie endeten beide in weitaus weniger eleganten Posen mit den Hintern in den Rosenblättern, haltlos kichernd und es wurde jedes Mal aufs Neue schlimmer, wenn sich ihre Blicke trafen.
„Zwei Dumme, ein Gedanke", murmelte Flo kopfschüttelnd. „Aber ich war schneller als du."
„Stimmt."
„Also musst du mir antworten."
Vince beugte sich vor, schob eine Hand sachte in Flos Haar. „Ist die Antwort nicht offensichtlich?", flüsterte er.
„Ich will es hören", gab Flo zurück.
Vince kam noch näher, ihr Atem vermischte sich zwischen ihnen. „Ja", sagte er, „ich will dich heiraten, Flo. Ich will nichts lieber als das."
Flo überbrückte die letzte Distanz und presste seine Lippen auf die von Vince. Sie küssten sich, bis Flos Lächeln Vince dazu brachte, sich zurückzuziehen. „Was ist?"
„Nichts", antwortete Flo, nach wie vor hilflos lächelnd. „Ich war nur noch nie so glücklich."
Vince zog Flo wieder an sich und drückte seine Stirn gegen Flos. „Ich auch nicht. Flo."
Flo lief ein leichter Schauer über den Rücken.
„Hättest du das gedacht?", flüsterte Flo mit geschlossenen Augen. „Dass wir alles überstehen und hier ankommen? In diesem Moment."
Vince' Antwort überraschte ihn, aber das hatte Vince immer schon getan. „Du nicht?"
„Ich dachte nicht mal, dass du ja sagst", gab Flo zurück.
Vince lachte leise. „Du bist wirklich ein Idiot."
„Sag das nicht auf der Hochzeit."
„Es wird mir schwer fallen", erwiderte Vince, drehte den Kopf und küsste Flo ganz sanft. „Aber ich gebe mir Mühe."
„Ich liebe dich. Vince."
„Für immer."
_______________________
Ein gutes Ende, endlich. Hoffe wie immer es gefällt euch und ihr schaut vielleicht ab und zu in meine anderen Geschichten rein :) Passt auf euch auf und habt nen schönen Tag ♥
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro