,,Fuck, Lea wach auf!" Ein heftiges Rütteln holte mich aus der Ruhe, die mich bis gerade eben noch umgeben hatte. ,,Was?" murmelte ich während ich langsam meine Augen öffnete. Erleichtert hörte ich Kjell ausatmen ,,Gott sei Dank. Lea, ich weiß, dass du unfassbar müde sein musst, aber wir müssen hier weg! Ruf deine Großmutter an und frag sie, ob sie es noch schaffen kann, den nächsten Flug nach Berlin zu buchen. Bitte!" Mein Körper schmerzte, während ich mich aufrappelte und mich umblickte. Schemenhaft erkannte ich Wellblech. Wo waren wir noch mal? Ach ja, Kairo, Slum, Mariks Hütte. Ich fuhr mir über das Gesicht und hielt inne. Was war die Flüssigkeit an meiner Wange? Ich betrachtete meine Hand, dunkelrot schien mir etwas entgegen. Bilder tauchten in meinem Kopf auf. Die Pyramide. Die Kinder des Untergrunds. Der Kampf. Juri. Nora. Die Klinge an meinem Hals. Meine plötzliche Fähigkeit zu fliegen. Ich spürte, wie das Adrenalin wieder zurück in mein Blut floss.

,,Gib mir mein Handy" bat ich Kjell. Dem Schweden schien ein Stein vom Herzen zu fallen, sofort reichte er mir mein Handy. Während ich es entsperrte, rappelte ich mich auf und musste mich sofort an Kjell festhalten. Schwarze Punkte tauchten in meinem Blickfeld auf und meine Beine zitternden. Doch ich ignorierte das, wenige Sekunden später hatte ich Grandmas Nummer gewählt. Es tutete einige Male, doch ich legte nicht auf. Ich wusste dass Grandmas Handy immer neben ihrem Bett lag und wie leicht ihr Schlaf war. Ich hatte Recht. ,,Talea, was ist los?" ertönte ihre Stimme kurz darauf. ,,Wie schnell kannst du einen Flug zurück buchen" fragte ich. Meine Stimme klang belegt. Meine Großmutter verstand sofort ,,Gib mir einen Moment", erwiderte sie, es dauerte kaum dreißig Sekunden da meinte sie ,,Wenn ihr in zwei Stunden am Gate seid, kann ich euch einen Flug nach Berlin buchen. Eine Stunde später geht ein Flug nach Frankfurt" ,,Okay, gut. Buch die Tickets aber jetzt noch nicht, ich weiß nicht, wie gut man das nach verfolgen kann. Ich schreib dir später noch mal, wenn wir kurz von dem Flughafen sind...Wobei, kannst du jetzt schon ein Ticket für morgen oder noch besser, ein Ticket für einem Flug von einem anderen Flughafen buchen?" Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Nora gute Hacker in ihrer Truppe hatte, die nach spontan gebuchten Tickets suchten ,,Ja kann ich machen. Lea, wo seid ihr? Was ist los? Habt ihr den Stein?" ,,Kann ich dir jetzt nicht sagen, es ist alles gut. Ich erklär dir alles, aber jetzt nicht" Ich hörte Grandma an, wie genervt sie war ,,Na gut. Viel Glück" meinte sie noch, bevor sie auflegte.

,,Sie bucht uns einen Flug' fasste ich für Kjell zusammen, obwohl er die Unterhaltung wahrscheinlich verstanden hatte. Immerhin sprach der Schwede norwegisch und selbst wenn nicht, waren sich die beiden Sprachen ähnlich genug um das gesprochene grob zu verstehen. Kjells Schultern sackten etwas nach unten und er nickte erleichtert ,,Gut' Suchend sah er sich um, bevor er mir meinen Rucksack reichte ,,Ich habe alles gepackt. Wie gehts dir? Kannst du laufen?" Besorgnis strich über sein Gesicht. Ich nickte ,,Geht schon" winkte ich ab. ,,Gut", wiederholte der Schwede, ,,Dann los"

Wir waren die letzten die die kleine Hütte verließen. Julia, Laila und Soul standen schon draußen, ihre Rucksäcke geschultert. Als Laila mich sah, schlich sich ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. ,,Viel Glück euch. Hoffentlich kommt ihr sicher nach Hause" wünschte uns Marik, den ich bis gerade noch nicht einmal bemerkt hatte. Sei aufmerksam rügte ich mich, ich durfte mir nichts entgehen lassen, doch die Schwärze in meinem Kopf machte es mir nicht leicht. ,,Danke Mann, für alles" erwiderte Kjell und schlug mit dem Ägypter ein ,,Wir schulden dir echt was" Marik winkte lächelnd ab ,,Souls Freunde sind meine Freunde. Es war mir eine Freude euch kennen zu lernen" ,,Die Freude war ganz auf unserer Seite" widersprach ich. Marik erwiderte das Lächeln, dass ich ihm schenkte. ,,Wir sollten los" Soul schien unruhig zu werde ,,Je länger wir hier bleiben" sie beendete den Satz nicht. Ich nickte ,,Lasst uns ein Taxi suchen" Soul wollte sich gerade umdrehen, da wandte sie sich noch einmal um und umarmte ihren Bruder. ,,Ich werde dich vermissen, vergiss mich nicht" murmelte sie so leise, dass ich es gerade so verstand. Marik erwiderte etwas auf Arabisch und ich drehte mich von den beiden weg. Dieser Moment war persönlich und obwohl ich sowieso nicht verstand, was die beiden sagten, so fühlte es sich doch falsch an, ihnen zuzuhören.

Nach einigen Momenten löste sich Soul wieder von ihrem Bruder ,,Ruf mich an, ja? Und denk immer daran, Ma und Pa wären unglaublich stolz auf dich" Marik strich seiner Schwester eine Strähne aus dem Gesicht ,,Ich werde dich nie vergessen, ich werde immer genau hier auf dich warten" Anstatt zu antworten zog Soul ihren Bruder wieder in eine Umarmung. ,,Na gut, wir müssen echt los. Bis bald" Tief atmete Soul durch. ,,Bis bald" Lächelte Marik.

Den ganze Weg zum Flughafen war die Stimmung bis zum Zerreißen gespannt. Jeder schien zu nervös zu sein, irgendetwas zu sagen und so verlief die Fahrt größtenteils schweigsam. Wenige Minuten vor dem Flughafen schickte ich Grandma eine Nachricht und bekam kurz darauf 5 Flugtickets zurück. Wir waren sogar schon eingecheckt. Mit gesenktem Kopf stiegen wir kurz darauf aus und ich erlaubte mir, kurz auszuatmen. Soweit so gut. Vielleicht hatten uns Donn auch aus den Augen verloren. Chiligeruch stieg mir in die Nase. Neben mir zog Soul scharf Luft ein ,,Nora und vier weitere Kinder des Untergrunds stehen neben dem Eingang" informierte sie uns und ich fluchte leise. ,,Wäre auch zu schön gewesen. Sollen wir einen anderen Eingang nehmen?" knurrte Kjell. ,,Nein" erwiderte ich mit gesenktem Kopf ,,Wenn wir jetzt umdrehen oder unsere Richtung ändern fallen wir zu sehr auf. Es sind genug Menschen hier, versuchen wir uns unter eine Gruppe zu mischen" Nur leider gab es hier kaum Gruppen. Immerhin war es vielleicht gerade Mal sieben oder halb acht, die meisten Menschen die hier waren, waren schicke Business-Menschen. Allein mit unseren Klamotten stachen wir schon viel zu sehr aus der Menge hervor. Zum Glück kam gerade eine Reisegruppe an, bestimmt zwei, drei Dutzend junger Menschen stiegen aus dem Reisebus aus. Soul hatte dies auch bemerkt, beiläufig änderte sie die Richtung und Laila war sogar mutig genug einen aus der Reisegruppe zu winken, als hätten wir nur auf sie gewartet. In dem Kuddelmuddel der Menschengruppe war es nicht schwierig sich unter zu mischen. In der Mitte der Masse bewegten wir uns in Richtung Eingang. Ungewollt ging mein Atem schneller als wir Nora und ihre Gruppe passierten, doch ich zwang mich zur Ruhe. Wir mussten davon ausgehen, dass die Sinne der Kinder des Untergrunds genauso optimiert worden waren, wie die der Kinder der Natur. Zwar war es hier relativ laut, doch mit genug Übung war ein zu schnelles Atmen gut herauszuhören.

Kühl schlug mir die klimatisierte Luft des Flughafen Gebäudes entgegen als wir durch den Eingang traten. Ich erhaschte einen Blick auf Noras Gesicht, unbewegt starrten ihre schwarzen Augen in die Menge, analysierten jedes Gesicht. An ihrem Hals, wo vor wenigen Stunden noch das Messer gelegen hatte, war ein kleiner Kratzer. Plötzlich blieb ihr Blick an mir hängen, sofort blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Während wir uns von ihr entfernten spürte ich ihren Blick, der sich in meinen Rücken einbrannte. Hoffentlich hatte sie mich nicht erkannt.

Zusammen mit der Reisegruppe liefen wir noch einige Meter, doch dann hielt die Gruppe plötzlich an. Ich regte den Kopf um zu sehen was los war, doch ich konnte nichts erkennen. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter ,,Entschuldigung, wo ist dein Ticket? Wir müssen noch Einchecken" Erschrocken fuhr ich herum ,,Ich" begann ich, doch die Frau mir gegenüber unterbrach mich ,,Du gehörst gar nicht zu unserer Gruppe!" ,,Ich" begann ich wieder und suchte mit meinen Augen parallel die Gruppe nach Laila, Julia, Soul und Kjell ab. Auch diese schien als außenstehende erkannt worden zu sein, den Soul und Laila diskutierten mit einem jungen Mann, während Julia in ihrer Tasche kramte. Kjell fing meinen Blick auf. Es brauchte nicht mehr als ein leichtes Neigen mit dem Kopf in Richtung Sicherheitskontrolle und ein leichtes Nicken. ,,Es tut mir leid, ich glaube ich habe mich mit der Reisegruppe vertan. Ich habe irgendwie meine Freunde verloren, haben Sie zufällig vier Jugendliche in meinem Alter gesehen? Eine hat so schwarze Haare und ist etwas kleiner als ich, etwa so groß" Ich deutete eine Höhe an, während ich einige Schritte zurück machte. ,,Kommt sie aus den Philippinen oder in der Nähe davon? Wenn ja, scheinen sie dich gefunden zu haben" ,,Philippinen? Nein, sie ist helvete" rutsche es mir heraus, als ich realisierte wenn die Frau meinte. Nora.

Ohne mich zu verabschieden lief ich im Laufschritt in Richtung Sicherheitskontrolle. Ein Blick über meine Schulter verriet mir zum einen, dass Kjell, Laila, Julia und Soul mir folgten und zum anderen, dass ich Recht hatte. Nora und vier weitere Kinder des Untergrunds, darunter Juri, liefen zügig, aber nicht schnell, in meine Richtung. Hätte ich sie nicht gekannt, hätte ich geglaubt, dass sie einfach fünf Freunde wären, die sich beeilen mussten, ihren Flug noch zu bekommen. Sie schien keine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, zumindest waren sie in Straßenkleidung gekleidet und ich erkannte auf die Schnelle keine Waffen. Immerhin.

Meine Freunde hatten mittlerweile zu mir aufgeschlossen. Unterbewusst schob ich Laila, Julia und Kjell nach vorne. Sie konnten sich am schlechtesten verteidigen und Kjell hatte immer noch den Feuerstein. Immer schneller hasteten wir Richtung Sicherheitskontrolle. Am liebsten wäre ich gerannt, doch ich unterdrückte den Impuls. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Ich wollte mir nicht verstellen, was den Menschen passieren würde, sollten sie sich gegen Nora und ihre Truppe wenden.

Endlich hatten wir die Sicherheitskontrolle erreicht. ,,Entschuldigung, Entschuldigung, wir haben es sehr eilig. Würden sie uns durch lassen!" murmelte ich und drängte einige Personen zur Seite. Im Hintergrund hörte ich einige Personen empört nach Luft schnappen, als Juri sie einfach zur Seite drängte. Als ich einen Blick zurück warf, erkannte ich sein grimmiges Gesicht. Seine ganze Konzentration war uns gewidmet. Im Laufen zog ich mein Handy hervor und rief die Tickets hervor. ,,Hallo" begrüßte ich den älteren Mann während ich ihm mein Handy hinhielt, damit er die Tickets scannen konnte. Erstes Ticket, biep. Kjell durfte passieren. Zweites Ticket, biep, Julia durfte passieren. Drittes Ticket, biep, Laila durfte passieren. Nervös war ich einen Blick über die Schulter, Juri war schon viel zu nahe! Viertes Ticket, biep, Soul durfte passieren. Juri war nur noch wenige Meter entfernt. Hinter ihm kamen Nora und zwei weitere Männer die mir irgendwie bekannt vorkamen. Fünftes Ticket, biep. Ich durfte passieren. So schnell ich konnte sprang ich nach vorne, pfefferte meinen Rucksack auf das Band und durchlief den Metalldetektor. Im Augenwinkel erkannte ich Juri, der mir hinterher stürmen wollte, doch er wurde von dem Mann, bei dem ich gerade noch mein Ticket gescannt hatte, zurück gehalten. Der ältere Herr schien durchaus Probleme zu haben, den großen, muskulösen Russen zurück zu halten, doch er schaffte es. Schon kamen einige weitere des Sicherheitspersonals und drängten Juri zurück. Die Augen des Russen sprühten Funken während er uns beobachtete, wie ich meinen Rucksack wieder schulterte. Ich hörte Nora währenddessen mit dem Personal auf Englisch zu diskutieren, Unterstützung bekam sie dabei von einem der Männer, der anscheinend arabisch sprach. Die Diskussion wurde immer lauter und der arabisch sprechende Mann gestikulierte wild, doch das Personal schüttelte nur immer wieder den Kopf. Mittlerweile waren drei Polizisten dazu getreten, sie waren etwas anders gekleidet als das restliche Security Personal und trugen Waffen. Eine der Polizisten legte den Kopf schief als er den arabisch sprechenden Mann genauer betrachtete und schien dann die Gruppe zum Mitkommen bewegen zu wollen. Nora und ihre Gruppe tauschten alarmierte Blicke, taten dann so als würden sie den Polizisten folgen wollen, machten dann aber auf dem Absatz kehrt und stürmten im Schutz der Menschenmasse in Richtung Ausgang. Fluchend folgten einige Polizisten ihnen.

Erleichtert atmete ich aus. ,,Gott sein Dank" murmelte ich, als Nora und ihre Gruppe außer Sicht waren. ,,Kann man so sagen" erwiderte Kjell und schenkte mir ein schiefes Lächeln ,,Aber es schien nicht so, als wären hier noch weitere Truppen. Sonst wären sie nicht so versessen darauf gewesen uns zu kriegen" Zittrig erwiderte ich das Lächeln, zu tief saß mir noch Noras Blick in den Knochen. ,,Alles gut?" fragte Laila, ihre dunklen Augen suchten vorsichtig meine. ,,Schon gut. Ist nur etwas viel in den letzten Stunden passiert" Ich schenkte ihr ein Lächeln, dieses Mal ging es besser. Spontan umarmte mich meine Freundin ,,Besser?" fragte sie. ,,Mit euch geht es mir immer besser" gab ich zurück.

,,Kommt jetzt, unser Flug geht bald" ertönte Souls Stimme. ,,Wir müssen zu Gate E10" fügte Julia hinzu. Ich nickte und folgte den anderen. Zum Glück roch ich den ganzen restlichen Rückweg kein Chili mehr.