Fünftes Kapitel
Seit Tagen schob ich Mistkarren hin und her und säuberte jede Box im Stall. Wenn ich zu schnell fertig war, durfte ich noch das Sattelzeug reinigen. Das war es dann auch schon. Ich machte mir aber weniger Sorgen um mich als um Fire. Er fraß schlecht, stand nur noch lustlos da, sein Blick war starr und ausdruckslos geworden. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging, hob er den Kopf und wieherte. Dann glänzte für einen Moment Hoffnung in seinem Blick und er ließ erst von mir ab, wenn ich außer Sichtweite war. Es tat mir weh, ihn da stehen zu lassen. Jedes Mal bat er mich mehr, jeden Tag flehte er mich mehr an, ihn da raus zu holen. Doch ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Es war besser für uns beide.
Insgeheim hatte ich die Entscheidung getroffen, den Stall zu verlassen. Ich wollte bei dem Trainer Nick Hufnagel anfragen. Vielleicht hatte er einen Job für mich, sei es nur das öde Boxen misten, das ich hier schon verrichtete. Hauptsache ich musste Fire nicht jeden Tag leiden sehen.
Zum Glück hatte Herr Hufnagel schnell auf meine Mail geantwortet. Tatsächlich konnte er mich gebrauchen! Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich begann sofort, meine Sachen zu packen. Charly wusste schon, dass ich den Stall verlassen würde. Ich war mir sicher, dass er mir keine Träne hinterher weinen würde. Eher wünschte er mir noch die Krätze an den Hals...
Ich nahm meinen Koffer mit den wenigen Klamotten und Habseligkeiten und bestellte mir ein Taxi. Ich hörte Fire wiehern, als ich das letzte Mal durch den Stall ging und mein Herz brach förmlich.
Trotz des Verbots, ging ich zu dem Hengst und öffnete die Boxentür. Jetzt war doch sowieso alles egal.
Ich strich ihm über den fuchsfarbenen Kopf und legte meine Hand auf seine Nüstern. Ich merkte, dass sie zitterte. Fire blickte mich mit seinen tiefen, traurigen Augen an und prustete mir leicht in meine Hand. Ich lehnte meinen Kopf an seinen vertrauten Hals.
Ich dachte daran, wie er beim ersten Training über die Bahn gefetzt war. Ich dachte daran, wie er mir jeden Morgen zugewiehert hatte. Ich dachte daran, wie ich ihn jeden Morgen gesattelt hatte, wie ich immer zuerst ihn begrüßt hatte.
Ich ließ meinen Blick über die dünnen Striemen der Gertenhiebe gleiten und fuhr sie vorsichtig mit dem Finger nach. Der Hengst wandte seinen Kopf und rieb ihn an meiner Schulter. Trotz dieser misslichen Lage, musste ich lächeln.
„Mach's gut, mein Junge", flüsterte ich noch, bevor ich mich umdrehte und ging. Der Hengst wieherte mir lautstark hinterher. Ich drehte mich nicht mehr um. Ich konnte es nicht. Er rief nochmals nach mir. „Warum gehst du?", sollte das wohl heißen. „Ich brauche dich doch, du kannst nicht einfach gehen!" Mir war bewusst, dass er niemals so laufen würde, wie beim ersten Mal. Nicht, wenn er so behandelt wurde. Er würde gepeitscht und zur größten Erschöpfung getrieben werden, aber er würde nicht laufen. Es ergab für ihn keinen Sinn, für diese Menschen sein Bestes zu geben. Tu es für mich, mein Junge. Auch wenn ich dich nicht sehen kann, werde ich immer an dich denken. Du schaffst das und irgendwann hole ich dich da raus!
Ich zwang mich, weiter zu gehen und sah nicht zurück. Mein Taxi stand schon auf dem Vorplatz und ich stieg schnell ein. Erst als wir die Hälfte der Strecke geschafft hatten, atmete ich aus. Erst jetzt merkte ich wie erschöpft ich war und der ganze Stress der letzten Wochen schlug mit einem Mal über mir zusammen. Ich zuckte hart zusammen. Der Taxifahrer musterte mich besorgt.
„Ist alles in Ordnung?" Ich nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Schweißperlen liefen mir die Stirn hinunter und ich wollte nichts mehr, als mich irgendwo zu verkriechen und niemanden mehr sehen zu müssen. Nennt mich ruhig Weichei, vielleicht bin ich einfach eins, dachte ich trotzig. Ich bemerkte, dass das Taxi angehalten hatte und ich riss mich zusammen. Jetzt bloß nicht dumm dastehen. Mit aufgezwungen freundlicher Miene nahm ich meinen Koffer, bezahlte und trat zu dem Gebäude, was ich für das Wohnhaus hielt.
Ich wollte grade auf die Klingel drücken, da öffnete sich die Tür und Nick Hufnagel trat heraus. Wir kannten uns von der Rennbahn, mehr als ein kurzes Gespräch war aber nie zustande gekommen.
„Hallo Herr Wagner. Darf ich Ihnen Ihr neues Zuhause zeigen?"
„Guten Tag Herr Hufnagel. Gerne." Ich folgte dem Mitte fünfzigjährigen Mann zu einem großen Backsteingebäude. Verwirrt blickte ich auf das Pferd, das gerade herauskam. Wohnte ich etwa auf dem Heuboden? Wortlos folgte ich dem Trainer in den Stall, eine steile Treppe nach oben. Ich war überrascht. Hier oben waren doch tatsächlich ein paar Zimmer, nicht der Heuboden. Herr Hufnagel blieb stehen und deutete auf eine Tür.
„Sie dürfen gerne hineinschauen." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und betrat den Raum. Er war nicht groß, aber ausreichend. Er war spärlich möbliert. Ein Bett stand unter der Dachschräge. Daneben ein kleiner Nachttisch. Ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch mit Stuhl waren ebenfalls da. Hinter mir an der Wand stand ein gemütlicher Sessel neben einer altmodischen Stehlampe. Der Teppich der über die Dielen gelegt war, schien schon ein paar Jahre auf dem Buckel zu haben.
Ich stellte meinen Koffer neben den Schrank. Die einzige Tür im Raum interessierte mich. Ich öffnete sie und fand ein kleines, aber modernes Bad mit Dusche vor. Aus dem Fenster des kleinen Zimmers konnte man direkt über den Hof auf die Reithalle blicken.
„Und, gefällt es?"
„Es ist vollkommen ausreichend, danke!", antwortete ich. „Super! Vielleicht möchten Sie sich noch die Küche ansehen?" Ich nickte. „Klar, gerne." Der Trainer führte mich nach ganz hinten und öffnete eine Tür. Dahinter befand sich die gut ausgestattete Küche. Von Backofen bis Kaffeemaschine war alles dabei. Das weiß der Zeilen war zwar schon etwas verblichen, aber es machte keinen unsauberen Eindruck. „Die ist super schön", sagte ich mit einem begeisterten Unterton. Bei Charly musste das gegessen werden, was gekocht worden war. Eine Küche für das Personal gab es nicht. „Bei uns wird zwar auch gekocht, aber für die fünf Zimmer hier oben steht auch noch diese Küche zu Verfügung. Sie muss aber geteilt werden", erklärte Herr Hufnagel. Hinter uns ertönten Schritte und am anderen Ende des Flurs tauchte ein junger Mann auf. Er war etwa in meinem Alter, vielleicht ein wenig jünger. „Leo! Kommst du mal eben?", rief der Trainer. Der Mann, der anscheinend Leo hieß, näherte sich unverzüglich.„Das ist Sven Wagner, er ist ab sofort Jockey hier und es wäre schön, wenn du ihn herumführen könntest", bat er Leo. Der nickte und streckte mir die Hand hin. „Leonard Kretschmer." Ich ergriff die Hand und schüttelte sie. „Für dich aber Leo, okay?"
„Geht klar!", antwortete ich. „Dann bin ich für dich Sven." Er lächelte mir freundlich zu. Leo machte einen Wink mit der Hand und ich folgte ihm. Es ging die Treppe hinunter in den Stall.
Mit unglaublicher Ausführlichkeit stellte er mir jedes einzelne Pferd vor. Gerade standen wir vor der Box eines kleinen braunen Wallachs.
„Das hier ist Nordseeinsel. Sein Name mag zwar ein bisschen komisch klingen, aber er ist ein ehrliches Pferd und gibt immer sein Bestes. Ich glaube ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass er der größte Kämpfer hier im Stall ist." Ich strich dem Braunen über die Nase. Er sah wirklich außerordentlich freundlich aus und prustete mir sanft in die Hand. Leo war schon eine Box weiter gegangen. „Die Kleine hier heißt Chocolate Chip, aber alle nennen sie nur CC. Sie kann die größten Erfolgen hier im Stall aufweisen." Tatsächlich kannte ich die dunkle Stute. Sie hatte ein Gruppe II Rennen gewonnen und das in sehr guter Manier. „Aber sie ist auch ein unglaublich schlaues Pferd. Verrückt aber wahr, sie ist Meisterin im Knoten und Riegel öffnen!", fuhr Leo lächelnd fort. Ich grinste. „Da wollen wir doch mal sehen wer von uns beiden besser ist", sagte ich an die Stute gewandt. Doch diese zuckte nur gelangweilt mit den Ohren und versuchte, noch etwas Heu auf dem Boden zu finden.
So gingen wir jedes der knapp dreißig Pferde im Stall durch. Beim letzten Kandidaten wurde ich hellhörig. Er hatte fast die gleiche Farbe wie Fire. „Last but not least, Eisvogel! Wir haben ziemlich große Hoffnungen auf ihn. Nick hat ihn eigenhändig großgezogen und würde wohl sein Leben auf ihn setzen." Der junge Hengst machte mich neugierig und ich musterte ihn prüfend. Wie ich bemerkte, besaß der Hengst ein kleines, weißes Abzeichen auf der Stirn. Mit etwas Fantasie könnte es tatsächlich ein Vogel sein. Ich nickte lächelnd. Eisvogel gefiel mir nur zu gut. Er war ein richtig schöner Kerl und ich hoffte, ihn bald reiten zu können.
Den restlichen Tag verbrachten wir damit, das Gelände zu erkunden. Leo zeigte mir die Weiden für die Jährlinge, für die Mutterstuten und ihre Fohlen und natürlich für die Rennpferde. Ein wenig entfernt vom Haupthaus lag noch ein kleiner Zuchtstall mit etwa zehn Mutterstuten. Die Rennbahn war schön gelegen, aber einen kleinen Fußmarsch entfernt. Die Trainingsbahn lag allerdings direkt am Stall. Das ganze Gelände war von einem dichten Wald umgeben und sanfte Hügel hoben sich ab.
*~*~*~*
Ich klopfte an die schwere Eichentür. „Hereinspaziert!", klang es fröhlich von der anderen Seite. Mit klopfendem Herzen drückte ich die Klinke hinunter und trat ein. „Ah, Sven, gut das du kommst!" Ich ließ mich auf den Stuhl vor dem Tisch fallen. „Ich habe gehört, du hättest Pferde falsch geritten? Sodass bleibende Schäden aufgetreten sind?" Ich schluckte. Charly hatte seine Drohung wahr gemacht. „Ja, ich habe ein Pferd falsch geritten." Meine Stimme war erstaunlich klar und selbstbewusst. „Warum?"
„Ich musste etwas verhindern, was sehr gravierende Folgen gehabt hätte." Und das war noch nicht einmal gelogen. „Ich habe dich bisher nur positiv kennen gelernt und ich möchte nicht, dass sich das ändert. Ich glaube dir, dass du es nicht getan hättest, wenn es zu verhindern gewesen wäre. Ich gebe dir eine Chance und ich rate dir, diese zu nutzen." Ich nickte, fest davon überzeugt zu beweisen, dass es nur ein Ausrutscher gewesen war. „Du darfst morgen Nordseeinsel im Training reiten. Er ist ein braver Kerl, also mach dir keine Gedanken." Ich freute mich über die Nachricht und bedankte mich bei Herrn Hufnagel. Der Wallach hatte mir schon von Anfang an zugesagt und jetzt schon Pferde reiten zu können, hatte ich nicht erwartet. „Du gehst zusammen mit Friend of Enemies auf die Bahn. Lena wird dir alles Weitere mitteilen. Und jetzt ruh dich aus." Ich war entlassen, bedankte mich nochmal und verschwand auf mein Zimmer.
*~*~*~*
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und ging in den Stall. Ich half ein bisschen bei der morgendlichen Visite. Bald war es so weit Nordseeinsel fertig zu machen. Ich nahm Sattel und Trense des Pferdes vom Haken und putzte ihn schnell. Er schien sich auf ein bisschen Freigang zu freuen und folgte mir zügig nach draußen. Ich stieg auf und wartete auf meinen Trainingspartner. Eine schwarze Stute kam direkt auf uns zu. Ich erkannte sie nicht sofort - es waren gestern doch ziemlich viele Namen gewesen - aber dann bemerkte ich, dass es Friend of Enemies sein musste. Ich lächelte der jungen Frau im Sattel der Stute zu und zusammen machten wir uns auf den Weg zur Trainingsbahn.
„Weißt du schon, wie das Training bei uns abläuft?", fragte Lena, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Die Anlage und die Pferde habe ich kennen gelernt, aber das war es auch schon." Sie begann zu erzählen: „Jeden Morgen gegen sechs startet die Morgenarbeit. Das ist meist nicht viel, nur etwa 10 Pferde kommen dann raus und nehmen einen leichten Kanter oder ähnliches dazu. Gegen Acht sind wir meistens durch. Dann gibt es für alle Frühstück und die Hauptarbeit beginnt. Die restlichen Pferde werden eingeteilt, die eine Gruppe auf die Sandbahn, die andere auf die Grasbahn. Nick ist meistens an der Grasbahn und schaut sich die Trainingsrennen an. Die andere Gruppe arbeitet hauptsächlich an Kondition oder Technik. Das dauert seine Zeit und ist bis Mittag am Laufen. Anschließend ist die Lagebesprechung, was in den nächsten Tagen kommt, wer wen wohin begleitet, halt das Organisatorische. Am Nachmittag ist das Jungvolk dran. Das ist am zeitaufwendigsten, da die jungen Viecher ja gerne mal ein bisschen Spaß haben wollen. An Renntagen sind wir natürlich alle etwas im Stress, da wir ja schon früh morgens fertig sein müssen, aber das kommt zum Glück nicht all zu oft vor. Das ist so ungefähr der Tagesablauf hier im Stall, wo und wann du eingeteilt wirst siehst du auf dem Brett neben der Sattelkammer. Noch Fragen?" Sie lächelte mich an. Ich schüttelte den Kopf „Nein, an meinem alten Stall war es ähnlich, nur hatten wir wenig Zeit wegen der vielen Pferde. Da musste alles ratzfatz gehen!" Sie nickte. „Ich war auch mal in einem so großen Stall, aber es wurde mir zu viel. So, wir sind da. Bist du bereit?" Natürlich war ich das. Ich lenkte Nordseeinsel auf die Bahn.
Der Braune trat freudig voran. Die schwarze Stute vor uns galoppierte an und wir reihten uns hinter ihr ein. Der Hengst galoppierte abgehackt und ein wenig eckig, aber er war schnell, keine Frage. Ich ließ ihn neben Friend of Enemies kommen und hielt ihn dort. Kopf an Kopf jagten die beiden Pferde die Bahn hinauf. Viel zu schnell vergingen die 1500m und ich musste Nordseeinsel wieder parieren. Die Reiterin der Stute kam neben uns, als wir uns auf den Rückweg machten. Irgendwas an Lena war mir unsympathisch, ich wusste nur noch nicht was. Friend of Enemies begann zu tänzeln und sprang nervös zur Seite. Als ich einen Blick hinüber war, bemerkte ich, was mich störte. Lena zog grob an den Zügeln und schlug der Stute ihre Beine in den Bauch. Ich zuckte zusammen, als spürte ich den Schmerz des Pferdes. „Sag mal, warum hast du sie jetzt so bestraft?", fragte ich. Mir war es wohl bewusst, dass das ein Fehler war. „Wieso nicht? Sie hat gezickt, da muss man sie wohl zurechtweisen." Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie versteht doch nicht für was du sie bestrafst. Sie ist nun mal ein temperamentvolles Pferd und wenn sie mal tänzelt, ist das doch kein Problem. Dann nimmt man die Zügel etwas kürzer, um ihr zu sagen, dass sie sich beruhigen soll und damit ist die Sache gegessen." Sie sah mich spöttisch an. „Und du bist wohl Pferdeflüsterer oder was? Ich kann schon mit Pferden umgehen, mach dir da mal keine Sorgen!" Und wieder gab sie der Stute die Sporen, um sie von mir weg zu bekommen. Nordseeinsel hatte die schlechte Stimmung bemerkt und zuckte unwillig mit den Ohren. Ich sagte ein paar beruhigende Worte zu ihm und ließ ihn im lockeren Trab zum Ausgang gehen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro